Leitsatz (redaktionell)
Der Unfallversicherungsschutz nach RVO § 548 Abs 1 S 2 - Aufsuchen des Geldinstituts erstmalig nach dem Lohnzahlungszeitraum - besteht für den Versicherten auch, wenn bereits eine andere Person im Auftrage des Versicherten das Geldinstitut nach Ablauf des Lohnzahlungszeitraums aufgesucht hat oder wenn das Konto des Versicherten keinen Haben-Saldo aufweist.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. April 1976 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger war bei der Firma F GmbH in D beschäftigt. Der Lohn für seine Tätigkeit wurde ihm auf sein Girokonto Nr. ... bei der Spar- und Darlehnskasse H eG in D überwiesen, und zwar jeweils am Monatsende eine Abschlagszahlung und in der Mitte des folgenden Monats die Restzahlung. Am 15. März 1974 buchte die Kasse eine Restlohnzahlung in Höhe von 212,10 DM mit Wert vom 16. März 1974 und eine Barabhebung in Höhe von 200,- DM mit Wert vom 15. März 1974. Wie sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens ergab, hatte diesen Betrag die Ehefrau des Klägers abgehoben. Nach diesen beiden Buchungen wies das Girokonto des Klägers einen Soll-Saldo auf.
Am 21. März 1974 suchte der Kläger von der Arbeitsstelle kommend die Spar- und Darlehnskasse auf und hob von seinem Girokonto, das an diesem Tage einen Soll-Saldo von 1.747,66 DM aufwies, 150,- DM ab. Auf dem Wege von der Kasse zu seiner Wohnung fuhr er mit seinem Fahrrad gegen die geöffnete Tür eines am Straßenrand haltenden Kraftwagens und stürzte zu Boden. Dabei zog er sich ein Schädelhirntrauma zu. Nach dem Gutachten des Niedersächsischen Landeskrankenhauses G vom 22. Oktober 1975 beträgt die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) 70 v. H. Nach Abschluß der stationären Behandlung gewährte die Beigeladene dem bei ihr für den Fall der Krankheit versicherten Kläger bis zum 17. September 1975 Krankengeld.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 14. November 1974 einen Entschädigungsanspruch des Klägers ab, weil die Fahrt am 21. März 1974 nicht mit dem erstmaligen Aufsuchen des Geldinstitutes nach Ablauf des Lohnzahlungszeitraumes in Zusammenhang gestanden habe. Der Kläger habe schon am 15. März 1974 einen Betrag abgehoben, der nahezu die Höhe des vom Arbeitgeber überwiesenen und am selben Tage von der Spar- und Darlehnskasse verbuchten Restlohnes erreicht gehabt habe.
Die dagegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim keinen Erfolg (Urteil vom 7. April 1975). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das erstinstanzliche Urteil und den angefochtenen Bescheid aufgehoben sowie die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 18. September 1975 Verletztenrente in Höhe von mindestens 20 v. H. der Vollrente zu gewähren (Urteil vom 28. April 1976). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Nach § 548 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei das Abheben eines Geldbetrages auch dann geschützt, wenn das Konto des Versicherten überzogen sei. Für die Bejahung des Versicherungsschutzes sei nicht erforderlich, daß der Versicherte über ein Konto mit Haben-Saldo bis zur Höhe des Lohnes verfüge. Der Kläger habe am Unfalltage erstmalig nach Ablauf eines Lohnzahlungszeitraumes die Bank aufgesucht und einen Geldbetrag abgehoben. Als Lohnzahlungszeitraum sei der Zeitabschnitt anzusehen, nach dessen Ablauf das Unternehmen den Betrag überweise. Eine Überweisung durch den Unternehmer sei erst erfolgt, wenn der überwiesene Betrag dem Versicherten zugeflossen sei. Demnach habe der Lohnzahlungszeitraum hinsichtlich des Restlohnes für den Monat Februar 1974 erst am 16. März 1974 geendet. Denn an diesem Tage sei der Restlohn, wie die Wertstellung zeige, dem Vermögen des Klägers zugeflossen. Eine Buchung am 15. März 1974 hätte dem Kläger - ohne Einräumung eines Überziehungskredits - noch keinen Anspruch gegen die Bank auf den Restlohn verschafft. Daß die Ehefrau des Klägers am 15. März 1974 über den Restlohn verfügt habe, beruhe nicht auf einer Überweisung durch den Arbeitgeber des Klägers, sondern sei allein im Rahmen des dem Kläger eingeräumten Überziehungskredites geschehen. Der Kläger habe daher am 21. März 1974 erstmals nach dem am 16. März 1974 abgelaufenen Lohnzahlungszeitraum die Bank aufgesucht und einen Geldbetrag abgehoben. Das begründe den Versicherungsschutz für den Rückweg des Klägers, in dessen Verlauf sich der Unfall ereignet habe. Da der Kläger durch den Arbeitsunfall um mindestens 20 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert sei, habe die Beklagte unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und des angefochtenen Bescheides antragsgemäß verurteilt werden müssen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Für den Ablauf des Lohnzahlungszeitraumes komme es auf den Tag der Wertstellung des am 15. März 1974 von der Spar- und Darlehnskasse gebuchten Restlohnes nicht an. Die Wertstellung der Überweisung habe lediglich Bedeutung für die Verzinsung des Betrages, die erst am Tage nach dem Eingang beginne. Werde der Betrag am Tage des Eingangs bereits wieder abgehoben, entfalle eine Zinszahlung. Hätte der Kläger die Spar- und Darlehnskasse am 15. März 1974 aufgesucht, so hätte er bei diesem Besuch nach § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO unter Versicherungsschutz gestanden mit der Folge, daß der zweite Besuch am 21. März 1974 nicht mehr durch diese Vorschrift gedeckt gewesen wäre. Zwar habe nicht der Kläger, sondern dessen Ehefrau am 15. März 1974 einen Betrag von 200,- DM abgehoben, jedoch sei auch dadurch die Rechtswohltat der Vorschrift des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO verbraucht worden, weil sie für ihren Ehemann tätig geworden sei, ohne allerdings selbst dabei unfallversicherungsrechtlich geschützt gewesen zu sein. Überdies sei ein Versicherungsschutz für den Kläger auch deshalb zu verneinen, weil die Überweisung des Restlohnes am 15. März 1974 nur dazu gedient habe, den Soll-Saldo bei der Spar- und Darlehnskasse abzudecken, also eine Schuld zu begleichen oder zumindest zu verringern. Die Abhebungen am 15. oder 21. März 1974 hätten daher die Restlohnzahlung überhaupt nicht erfassen können. Denn solange ein Schuld-Saldo bestanden habe, sei überhaupt kein Geld vorhanden gewesen, das der Kläger von der Bank hätte abheben können. Die Gelder, welche die Ehefrau des Klägers am 15. und der Kläger am 21. März 1974 erhalten haben, seien ihnen nicht aufgrund der Geldüberweisung durch den Arbeitgeber zugeflossen, sondern aufgrund des dem Kläger von seinem Geldinstitut eingeräumten Überziehungskredites. Hier fehle es an dem ursächlichen Zusammenhang des Geldabhebens mit der versicherten Tätigkeit.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 28. April 1976 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 7. April 1975 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er stimmt der Auffassung des LSG zu, daß der Lohnzahlungszeitraum erst mit der Gutschrift des Lohnes am 16. März 1974 i. S. des § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO abgeschlossen gewesen sei und führt weiter insbesondere folgendes aus: Am 15. März 1974 habe seine Ehefrau einen Überziehungskredit in Anspruch genommen, aber nicht den Restlohn abgeholt. Dies sei erst durch ihn am 21. März 1974 geschehen. Dem Urteil des LSG werde auch darin zugestimmt, daß es für den Versicherungsschutz nicht erheblich sei, daß über ein Konto mit Haben-Saldo verfügt werde. Würde Versicherungsschutz nur bestehen, wenn das Konto des Versicherten einen Haben-Saldo aufweise, würde dies eine Schlechterstellung gegenüber Arbeitnehmern bedeuten, die ihren Lohn bar ausbezahlt erhalten. Denn der Arbeitgeber habe in Fällen der Lohnpfändung dem Arbeitnehmer mindestens den pfändungsfreien Betrag auszuzahlen. Auf dem Weg zum Abholen des pfändungsfreien Lohnes bestehe zweifelsfrei Versicherungsschutz. Der Bank stehe zur Befriedigung ihrer Forderungen gegenüber dem Kunden kein über das Pfändungsrecht hinausgehendes Recht zu. Sie müsse dem Arbeitnehmer von dem überwiesenen Lohn mindestens den pfändungsfreien Teil belassen. Der Versicherungsschutz hätte daher nur für den Fall in Frage gestellt sein können, wenn es das Geldinstitut abgelehnt hätte, nach Gutschrift des Restlohnes einen Barbetrag an ihn auszuzahlen.
Die Beigeladene stimmt den Ausführungen des Klägers zu.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Vom LSG ist zutreffend entschieden worden, daß der Kläger am 21. März 1974 einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Nach § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO gilt als versicherte Tätigkeit i. S. des Satzes 1 dieser Vorschrift auch das Abheben eines Geldbetrages bei einem Geldinstitut, an das der Arbeitgeber den Lohn oder das Gehalt des Versicherten zu dessen Gunsten überweist oder zahlt, wenn der Versicherte erstmalig nach Ablauf eines Lohn- oder Gehaltszahlungszeitraumes das Geldinstitut persönlich aufsucht. Der Versicherungsschutz erstreckt sich nach § 550 Abs. 1 RVO auch auf den mit dem Abheben eines Geldbetrages zusammenhängenden Weg nach oder von dem Geldinstitut (vgl. BSGE 26, 234).
Wie der erkennende Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 25. Januar 1977 (2 RU 55/76) mit ausführlicher Begründung dargelegt hat, wird der Versicherungsschutz nach § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO nicht dadurch beeinträchtigt, daß nach Ablauf des maßgebenden Lohnzahlungszeitraumes vor dem Versicherten schon eine andere Person für ihn das Geldinstitut aufgesucht und einen Geldbetrag abgehoben hat. Es bedarf daher keiner Entscheidung, ob am 15. März 1974, als die Ehefrau des Klägers von dessen Girokonto einen Betrag von 200,- DM abhob, der Lohnzahlungszeitraum für den Restlohn von 212,10 DM bereits abgelaufen war, ob insbesondere der Lohnzahlungszeitraum erst mit dem Tage der Wertstellung (16. März 1974) des Restlohnes endete. Der vorliegende Rechtsstreit bietet auch keinen Anlaß zu der Entscheidung, ob etwa ein Lohnzahlungszeitraum unabhängig davon ablaufen kann, daß eine Überweisung des Arbeitgebers nicht oder mit Verzögerung erfolgt ist oder die Gutschrift auf dem Konto des Versicherten aus anderen Gründen unterbleibt oder verspätet vorgenommen wird. Diese Fragen erlangen erst Bedeutung, wenn der Versicherte das Geldinstitut vergeblich aufsucht, weil ihm zu Lasten seines Kontos kein Geldbetrag ausgezahlt wird und er im Zusammenhang mit dem Aufsuchen des Geldinstituts einen Unfall erleidet.
Im vorliegenden Fall hatte der Versicherte, da der Versicherungsschutz von seiner Ehefrau durch das Abheben eines Geldbetrages am 15. März 1974 nicht "verbraucht" worden war, das Geldinstitut, bei dem er ein Lohnkonto unterhielt, am 21. März 1974 erstmalig nach Gutschrift des Restlohnes auf seinem Konto und damit in jedem Fall nach Ablauf eines Lohnzahlungszeitraumes persönlich aufgesucht. Er stand dabei und auf dem anschließenden Weg nach Hause, auf dem er verunglückte, nach den §§ 548 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. 550 Abs. 1 RVO unter Versicherungsschutz. Der Unfall war ein Arbeitsunfall.
Unerheblich ist, daß das Konto des Klägers sowohl am 15. März 1974, als die Ehefrau einen Betrag von 200,- DM abhob, als auch am 21. März 1974, als der Kläger sich von seinem Konto weitere 150,- DM auszahlen ließ, einen Soll-Saldo aufwies. Durch § 548 Abs. 1 Satz 2 RVO wird der Versicherte auf mindestens einem persönlichen Besuch des Geldinstitutes, bei dem er ein Konto unterhält, auf das der Arbeitgeber den Lohn überweist, gegen Arbeitsunfall geschützt. Als weitere Voraussetzung fordert diese Vorschrift nur noch, daß das Geldinstitut erstmalig nach Ablauf eines Lohnzahlungszeitraumes vom Versicherten persönlich aufgesucht und dabei ein Geldbetrag abgehoben wird. Diese Voraussetzung ist jedenfalls dann gegeben, wenn - wie hier - von der Restlohnzahlung noch ein Restbetrag des Monatslohnes vorhanden war. Nach der Barabhebung durch die Ehefrau des Klägers am 15. März 1974 in Höhe von 200,- DM stand von der Restlohnzahlung noch ein Betrag von 12,10 DM für den Kläger zur Verfügung, als der Kläger das Geldinstitut am 21. März 1974 erstmalig persönlich aufsuchte. Daß er dabei nicht nur den restlichen Betrag von 12,10 DM, sondern insgesamt 150,- DM abhob, berührt den Versicherungsschutz nicht.
Da die sonstigen Voraussetzungen für die Verurteilung der Beklagten zur Rentengewährung nicht streitig sind, mußte die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen