Entscheidungsstichwort (Thema)
Halbierungserlaß. Anwendbarkeit. Ersatzanspruch
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Halbierungserlaß vom 1942-09-05 (AN, 490) ist geltendes Recht.
2. Der Halbierungserlaß ist nicht anzuwenden, wenn ein Kind als "Pflegefall" von einem Pflegeheim in ein Landeskrankenhaus verlegt wird.
Orientierungssatz
Der Halbierungserlaß vom 1942-09-05 erfaßt nur die Fälle, in denen allein wegen der Frage der Kostenträgerschaft geprüft werden müßte, ob bei der Unterbringung eines Geisteskranken ein Behandlungs- oder ein Verwahrungsfall vorliegt. Er normiert im Interesse einer vereinfachten Abwicklung von Unterbringungsfällen, die typischerweise in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft sind, die Abweichung von der grundsätzlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen KV und Sozialhilfe. Er erfaßt nicht die Fälle, in denen der Sozialhilfeträger selbst geklärt hat, daß kein Behandlungsfall - Krankenhausbehandlungsfall - vorliegt (vgl Urteil des Senats vom 1978-06-21 3 RK 97/76 = BKK 1978, 389).
Normenkette
RAM/RMdIErl 1942-09-05; RVO § 205 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1970-12-21, § 1531 Fassung: 1931-06-05
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 1. Oktober 1976 und des Sozialgerichts Kiel vom 13. Mai 1975 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin fordert von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) Ersatz eines Teils der durch die Unterbringung eines schwachsinnigen Kindes entstandenen Kosten.
Die am 11. August 1963 geborene Margot F. ist schwachsinnig. Sie befand sich ab 16. Oktober 1963 in Kiel in Heimpflege. Deren Kosten trug ab Januar 1968 der Minister für Arbeit, Soziales und Vertriebene des Landes Schleswig-Holstein als überörtlicher Sozialhilfeträger. Auf seine Rechnung wurde F. am 17. Januar 1969 als "Pflegefall" in das Landeskrankenhaus S verlegt. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß der Vater des Kindes damals bei der Beklagten krankenversichert war, teilte die im Auftrag des Ministers tätige Klägerin (oberörtlicher Sozialhilfeträger) der Beklagten am 6. Juni 1972 mit, F. befinde sich "als Pflegefall" im Landeskrankenhaus S und forderte unter Hinweis auf § 1531 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und den sog Halbierungserlaß (HE = Gemeinsamer Erlaß des Reichsarbeitsministers und des Reichsministers des Inneren vom 5. September 1942; AN 1942, 490) Ersatz hinsichtlich der ab 17. Januar 1969 aufgewandten Unterbringungskosten. In zwei weiteren Schreiben an die Beklagte vom 28. Juni 1972 und 12. April 1973 hob sie hervor, der geltend gemachte Ersatzanspruch sei nach dem HE auch bei Pflegefällen gegeben und wies darauf hin, daß F. bis auf weiteres im Landeskrankenhaus S "gepflegt" werden müsse. Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ersatzanspruchs ab, weil bei Pflegefällen der HE nicht anwendbar sei.
Mit der am 1. August 1974 erhobenen Klage hat die Klägerin die für F. in der Zeit vom 17. Januar 1969 bis 31. Dezember 1973 aufgewandten Unterbringungskosten mit 37.012,- DM angegeben und Ersatz der Hälfte dieses Betrages, also 18.506,- DM verlangt. Die Beklagte hat ihren Rechtsstandpunkt aufrecht erhalten und hilfsweise geltend gemacht, bis zum 31. Juli 1972 entstandene Ansprüche seien verjährt. Das Sozialgericht (SG) hat unter Abweisung der Klage im übrigen die Beklagte zur Zahlung von 5.495,40 DM verurteilt.
Gegen dieses Urteil haben beide Beteiligten Berufung eingelegt. Die Klägerin hat auch in ihrer Berufungsbegründung hervorgehoben, das Kind sei ein "Pflegefall". Auf ihre Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) das sozialgerichtliche Urteil geändert und die Beklagte zur Zahlung von 12.959,40 DM verurteilt. Im übrigen hat es beide Berufungen zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die von der Beklagten gegen die Prozeßführungsbefugnis der Klägerin erhobenen Bedenken seien unbegründet. Rechtsgrundlage des Klagebegehrens sei der HE. Dieser erfasse auch anstaltspflegebedürftige Geistesschwache. Die nach ihm für Ersatzansprüche erforderlichen Voraussetzungen seien erfüllt. Der Anspruch der Klägerin sei hinsichtlich der bis zum 31. Juli 1970 aufgewandten Unterbringungskosten aber verjährt.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beklagte Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie meint, der Klägerin fehle die Prozeßführungsbefugnis; der überörtliche Sozialhilfeträger selbst hätte als Kläger auftreten müssen. Zumindest sei er nach § 75 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beizuladen gewesen. Auch hätte nach § 97 Abs 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) als zuständiger örtlicher Sozialhilfeträger nicht die Klägerin, sondern die Stadt Schleswig herangezogen werden müssen; weil das Kind dort dauernd untergebracht sei. Da in S H der HE vertraglich abgelöst worden sei, könne sich der Sozialhilfeträger auch bei Unterbringung von Geisteskranken, die bei auswärtigen Krankenkassen versichert seien, nicht auf diesen Erlaß berufen. Auch seien Geistesschwache keine Geisteskranken iS des Erlasses. Im übrigen habe das Landeskrankenhaus S bei der dauernd pflegebedürftigen F. lediglich die Funktion eines Pflegeheims übernommen. Bei Pflegefällen sei der HE nicht anwendbar. Schließlich sei die Höhe des vom LSG ermittelten Betrages zweifelhaft; hinsichtlich der Verjährung komme entgegen seiner Annahme die Zweijahresfrist des § 223 RVO in Betracht.
Die Beklagte beantragt,
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Beklagte ist zum Kostenersatz nicht verpflichtet.
Das LSG hat die Prozeßführungsbefugnis der Klägerin aufgrund des Schleswig-Holsteinischen Landesrechts bejaht (§ 5 Abs 1 des Schleswig-Holsteinischen Gesetzes zur Ausführung des BSHG vom 6. Juli 1962 - GVOBl für Schleswig-Holstein 1962, 271 - iVm der Schleswig-Holsteinischen VO über die Heranziehung der örtlichen Träger der Sozialhilfe zur Durchführung von Aufgaben des überörtlichen Trägers vom 14. Mai 1964 - GVOBl 1964, 61 -). Bei ihrer hiergegen erhobenen Rüge übersieht die Beklagte daß eine Nachprüfung von Landesrecht im Revisionsverfahren nicht zulässig ist (§ 162 SGG).
Auch bedurfte es entgegen der Auffassung der Beklagten nicht der Beiladung des überörtlichen Sozialhilfeträgers nach § 75 Abs 2 SGG. Er ist hinsichtlich des von der Klägerin geltend gemachten Ersatzanspruchs nicht Dritter iS dieser Vorschrift; denn die Klägerin nimmt hier lediglich eine seiner Aufgaben wahr, deren Erledigung ihr kraft Gesetzes im Verordnungswege übertragen worden ist.
Wenn die Beklagte aber meint, nach § 97 Abs 1 BSHG habe als zuständiger örtlicher Sozialhilfeträger anstelle der Klägerin die Stadt S als der tatsächliche Aufenthaltsort des untergebrachten Kindes herangezogen werden müssen, so übersieht sie, daß nach § 96 Abs 1 BSHG als örtliche Träger der Sozialhilfe die kreisfreien Städte und die Landkreise in Betracht kommen, die Stadt S jedoch keine kreisfreie Stadt ist. Die Beklagte übersieht außerdem, daß das untergebrachte Kind sich bis zu seiner Verlegung in das Landeskrankenhaus S in einem K Pflegeheim befand und nach § 97 Abs 2 BSHG die nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift begründete Zuständigkeit eines örtlichen Sozialhilfeträgers - hier der Klägerin - bestehen bleibt, wenn der Träger der Sozialhilfe die Unterbringung des Hilfeempfängers zur Hilfegewährung außerhalb seines Bereichs veranlaßt oder ihr zugestimmt hat.
Offenbleiben kann hier die Frage, ob der Auffassung der Beklagten beizutreten ist, Geistesschwache seien keine Geisteskranken iS des HE; denn der vorliegende Fall gehört entgegen der Auffassung der Vorinstanzen nicht zum Anwendungsbereich dieses Erlasses.
Der Erlaß ist weder durch den Wegfall der Ermächtigungsgrundlage noch durch die spätere Rechtsentwicklung außer Kraft getreten. Das hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden (vgl BSGE 9, 112; 16, 84, 87, 88; SozR Nr 28 zu § 184 RVO). Im Fall seiner Anwendbarkeit könnte also die Hälfte der Unterbringungskosten von der Beklagten verlangt werden. Der Erlaß erfaßt aber nur die Fälle, in denen allein wegen der Frage der Kostenträgerschaft geprüft werden müßte, ob bei der Unterbringung eines Geisteskranken ein Behandlungs- oder ein Verwahrungsfall vorliegt. Er normiert im Interesse einer vereinfachten Abwicklung von Unterbringungsfällen, die typischerweise in tatsächlicher Hinsicht zweifelhaft sind, die Abweichung von der grundsätzlichen Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Krankenversicherung und Sozialhilfe. Er bietet mithin eine Lösung nur für die Fälle, in denen die Frage, ob es sich um einen Behandlungs- oder um einen Verwahrungsfall handelt, offen ist, und erfaßt deshalb nicht Fälle, in denen der Sozialhilfeträger selbst geklärt hat, daß kein Behandlungsfall - Krankenhausbehandlungsfall - vorliegt (Urt des Senats vom 21.6.1978 - 3 RK 97/76 -, zur Veröffentlichung vorgesehen). Das trifft hier zu; denn das schwachsinnige Kind F. ist als "Pflegefall" von dem Kieler Pflegeheim in das Landeskrankenhaus S verlegt worden und die Klägerin hat - wie schon aus ihren Schreiben an die Beklagte vom 6. und 28. Juni 1972 sowie vom 12. April 1973 und auch aus ihrer Berufungsbegründung eindeutig hervorgeht - niemals einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie selbst das untergebrachte Kind von vornherein stets als "Pflegefall" und damit nicht als Krankenhausbehandlungsfall eingestuft hat.
Nach alledem steht der Klägerin der geltend gemachte Ersatzanspruch nicht zu. Auf die Revision der Beklagten sind deshalb die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage muß abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen