Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. formlose Entziehung
Leitsatz (amtlich)
Eine "Anzeige" iS von BKGG § 25 Abs 2 Nr 1 kann auch schon vor Beendigung eines Sachverhalts erstattet werden, auf Grund dessen ein Kind zu berücksichtigen ist. Es muß sich aber mindestens aus den Gesamtumständen zweifelsfrei ergeben, daß der Berechtigte eine solche Erklärung abgeben wollte. Nur dann kann von einem förmlichen Entziehungsbescheid abgesehen werden.
Orientierungssatz
1. Anders als in den Fällen des BKGG § 25 Abs 2 Nr 2, in denen bei vollendetem 18. Lebensjahr eine unterlassene Anzeige über die Voraussetzungen einer weiteren Berufsausbildung die formlose Entziehung rechtfertigt, ist nach BKGG § 25 Abs 2 Nr 1 eine Anzeige mit gegenteiligem Inhalt erforderlich. Es muß deshalb mindestens unmißverständlich zu erkennen sein, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Sachverhalte mehr vorliegen, unter denen über 18jährige Kinder berücksichtigt werden. Nur einer derartigen "Anzeige" kann eine ähnliche Wirkung zukommen, wie einer unterlassenen Anzeige im Vergleich zu einem unterlassenen Antrag (vgl BSG Urteil vom 1973-03-16 7 RKg 10/71 = FEVS 22, 475, 477). Angaben in Vordrucken und Nachweise über einen derzeit laufenden Abschnitt der Schul- oder Berufsausbildung und über dessen der Natur der Sache nach voraussichtliches Ende genügen nicht.
2. Auch eine moderne Massenverwaltung, die sich der elektronischen Datenverarbeitung bedient, erfordert keine andere Handhabung des Gesetzes, solange es nicht praktisch undurchführbar ist. Die den Berechtigten eingeräumten Rechtsgarantien müssen in jedem Falle erhalten bleiben.
Normenkette
BKGG § 25 Abs. 2 Nr. 1 Fassung: 1974-08-05, Nr. 2, Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 15.03.1978; Aktenzeichen L 4 Kg 5/77) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 04.02.1977; Aktenzeichen S 7 Kg 28/76) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. März 1978 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, bei dem Kindergeldanspruch des Klägers in der Zeit von August 1975 bis Februar 1976 auch die Tochter Gertrud (G.) zu berücksichtigen.
Der Kläger hat zwei Kinder, die am 12. Mai 1956 geborene Tochter G. und den am 11. Dezember 1958 geborenen Sohn Heinrich. In einem Antrag auf Kindergeld vom 19. September 1974 gab der Kläger für seine Tochter G. in der vorletzten Spalte: Nur für Kinder ausfüllen, die über 17 Jahre alt sind. "In Schul- oder Berufsausbildung von - bis" an: "Juli 1975". Er übersandte gleichzeitig eine Bescheinigung der W. Realschule in Aichach vom 17. September 1974, wonach G. in dieser Schule im Schuljahr 1974/75 die Klasse 10 besucht. Das daraufhin ab 1. August 1974 formlos gewährte Kindergeld stellte die Beklagte am 31. Juli 1975 ebenfalls formlos wieder ein.
Am 3./6. September 1976 zeigte der Kläger der Beklagten schriftlich an, seine Tochter besuche bereits 2 Semester die Deutsche Meisterschule für Mode in München; der tatsächliche Schulbesuch begann am 23. September 1975. Die Beklagte gewährte dem Kläger daraufhin ab März 1976 wiederum Kindergeld unter Berücksichtigung der Tochter G., lehnte aber deren Berücksichtigung für die Zeit von August 1975 bis Februar 1976 ab, weil nach § 9 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) eine rückwirkende (Neu)-gewährung der beantragten Bezüge nur für längstens sechs Monate vor dem Monat der (Neu-)beantragung zulässig sei (Bescheid vom 19. Oktober 1976). Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 1976 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Augsburg hat der Anfechtungs- und Leistungsklage stattgegeben (Urteil vom 4. Februar 1977). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 15. März 1978).
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 25 BKGG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 15. März 1978 und das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 4. Februar 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Zutreffend hat das LSG entschieden, daß die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger das Kindergeld für die gesamte streitige Zeit vom 1. August 1975 bis 29. Februar 1976 zu zahlen. Auf seinen (weiteren) Antrag vom 19. September 1974 hatte die Beklagte ihm unter (weiterer) Berücksichtigung seiner Tochter G. Kindergeld gewährt, obwohl diese am 12. Mai 1974 ihr 18. Lebensjahr vollendet hatte. Sie hatte damit seinem Antrag voll entsprochen, so daß über die Bewilligung kein förmlicher Bescheid erteilt werden mußte.
Soweit die Anspruchsvoraussetzungen nicht vorgelegen haben oder weggefallen sind, ist das Kindergeld von Amts wegen zu entziehen (§ 22 BKGG), und zwar von dem Zeitpunkt an, zu dem sie nicht oder nicht mehr vorgelegen haben (vgl dazu § 9 Abs 1 BKGG). Wird das Kindergeld entzogen, ist grundsätzlich ein förmlicher Bescheid zu erteilen (§ 25 Abs 1 BKGG). Geschieht das nicht, hat der Berechtigte Anspruch auf Weiterzahlung der gewährten Leistung. Nur in den in § 25 Abs 2 BKGG ausdrücklich genannten Fällen kann von der Erteilung eines Bescheides abgesehen werden; die Leistung kann rechtswirksam auch formlos entzogen werden.
Die Voraussetzungen des § 25 Abs 2 BKGG waren nicht erfüllt. Der Kläger hatte nämlich nicht angezeigt, daß die Voraussetzungen für die Berücksichtigung seiner Tochter G. nicht mehr erfüllt sind (§ 25 Abs 2 Nr 1 BKGG in der seit dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung des Art 2 Nr 20 des Einkommenssteuerreformgesetzes - EStRefG - vom 5. August 1974 - BGBl I 1769). Die Angabe des Klägers in seinem Antrag vom 19. September 1974 in der Spalte "in Schul- oder Berufsausbildung von - bis": "Juli 1975" in Verbindung mit der Bescheinigung vom 17. September 1974, G. besuche die 10. Klasse der W-Realschule in A. ist keine solche Anzeige.
Anders als in den Fällen des § 25 Abs 2 Nr 2 BKGG, in denen bei vollendetem 18. Lebensjahr eine unterlassene Anzeige über die Voraussetzungen einer weiteren Berufsausbildung (§§ 2 Abs 2 oder 4a, 17 Abs 3 BKGG) die formlose Entziehung rechtfertigt, ist nach Nr 1 aaO eine Anzeige mit gegenteiligem Inhalt erforderlich. Es muß deshalb mindestens unmißverständlich zu erkennen sein, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Sachverhalte mehr vorliegen, unter denen über 18jährige Kinder berücksichtigt werden. Nur einer derartigen "Anzeige" kann eine ähnliche Wirkung zukommen, wie einer unterlassenen Anzeige im Vergleich zu einem unterlassenen Antrag (vgl BSG Urteil vom 16. März 1973 - 7 RKg 10/71 - in FEVS 22, 475, 477). Angaben in Vordrucken und Nachweise über einen derzeit laufenden Abschnitt der Schul- oder Berufsausbildung und über dessen der Natur der Sache nach voraussichtliches Ende genügen nicht. Trotz des Wortlautes "... nicht mehr erfüllt sind", ist es allerdings auch nach Auffassung des erkennenden Senats nicht ausgeschlossen, daß eine rechtswirksame "Anzeige" iS von § 25 Abs 2 Nr 1 BKGG auch schon vor Beendigung eines Sachverhalts möglich ist, aufgrund dessen ein Kind zu berücksichtigen ist. Erklärt der Berechtigte aber nicht ausdrücklich, daß von einem bestimmten Zeitpunkt an solche Sachverhalte nicht mehr erfüllt sein werden, muß sich mindestens aus den Gesamtumständen zweifelsfrei ergeben, daß er eine solche Erklärung abgeben wollte. Nur in derartigen Fällen ist ein förmlicher Bescheid überflüssig (BT-Drucks III/2648 zu § 30 S 19). Bestehen Zweifel, so hat die Beklagte die Möglichkeit, diese zu beseitigen, indem sie den Berechtigten auffordert, darzulegen, daß die zur Begründung seines Anspruchs erforderlichen Tatsachen fortbestehen. Hierzu kann sie ihm eine Frist setzen und, wenn sie nicht eingehalten wird, die Zahlung des Kindergeldes vorläufig einstellen (§ 21 Abs 2 BKGG in der bis zum 31. Dezember 1975 geltenden Fassung; jetzt ähnlich §§ 60, 66 Sozialgesetzbuch - Allg.Teil SGB 1 -). Gerade durch diese Regelungen soll sichergestellt werden, daß die Berechtigten bei der Gestaltung ihrer Ansprüche mitwirken, und es möglichst nicht zu ungerechtfertigten Überzahlungen kommt.
Auch eine moderne Massenverwaltung, die sich der elektronischen Datenverarbeitung bedient, erfordert keine andere Handhabung des Gesetzes, solange es nicht praktisch undurchführbar ist. Die den Berechtigten eingeräumten Rechtsgarantien müssen in jedem Falle erhalten bleiben. Es ist zwar richtig, daß ein Kindergeldberechtigter bei fortbestehenden Anspruchsvoraussetzungen nicht benachteiligt wird, wenn er innerhalb von sechs Monaten nach der formlosen Entziehung einen Neuantrag stellt und die notwendigen Unterlagen beibringt, weil Kindergeld rückwirkend für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats geleistet wird, in dem der Antrag eingegangen ist (§ 9 Abs 2 BKGG). Das rechtfertigt es aber nicht, von dem gesetzlichen Verfahren abzuweichen und es dem Berechtigten zu überlassen, rechtzeitig einen neuen Antrag zu stellen. Auf solche Weise könnte das Kindergeld jederzeit formlos entzogen werden, wenn die notwendigen Nachweise über das Fortbestehen anspruchsbegründender Tatsachen fehlen; es wäre stillschweigend abzuwarten, ob der Berechtigte einen Neuantrag stellt. Das Gesetz in seiner derzeit geltenden Form billigt ein solches Verfahren aber nicht. Es fordert vielmehr beim Wegfall von Anspruchsvoraussetzungen grundsätzlich den Erlaß eines schriftlichen und begründeten Entziehungsbescheides (§ 25 Abs 1 BKGG). Hat die Beklagte lediglich Zweifel, so hat sie nach § 21 Abs 2 BKGG aF, §§ 60, 66 SGB 1 zu verfahren. Keinesfalls kann sie jedoch das Kindergeld nach § 25 Abs 2 Nr 1 BKGG formlos entziehen. Fehlt eine Anzeige des oben näher dargelegten Inhalts - wie hier - hat die Beklagte zu prüfen, ob die Anspruchsvoraussetzungen weggefallen sind; sodann hat sie gegebenenfalls einen förmlichen Entziehungsbescheid zu erteilen. Inwieweit dieser weitgehend formularmäßig abgefaßt sein kann, mag dahinstehen; jedenfalls hat er den gesetzlichen Erfordernissen eines solchen Bescheides zu entsprechen. Da das bisher nicht geschehen ist, ist die Beklagte verpflichtet, dem Kläger auch für die streitige Zeit das Kindergeld unter Berücksichtigung seiner Tochter G. zu zahlen.
Die materiell-rechtlichen Voraussetzungen waren erfüllt. G. besuchte nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG seit dem 23. September 1975 die Deutsche Meisterschule für Mode in München (§§ 1, 2 Abs 1 Nr 1, Abs 2 Nr 1 des BKGG). Auch die Zeit vom 1. August 1975 bis 22. September 1975 zwischen dem Ende der Schul- und dem Beginn der Fachschulausbildung wird in die Bezugsberechtigung einbezogen (vgl BSGE 44, 197, 199 = SozR 5870 § 2 Nr 6).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen