Entscheidungsstichwort (Thema)
Anfechtung oder Widerruf eines Anerkenntnisses
Orientierungssatz
Die Verwaltung kann die Wirkung eines angenommenen Anerkenntnisses nicht durch eine nachträgliche Erklärung beseitigen, wenn sie, hätte sie einen Verwaltungsakt mit dem entsprechenden Inhalt des Anerkenntnisses erlassen, diesen nach § 45 Abs 3 SGB 10 nicht hätte zurücknehmen können. In diesem Fall darf der Kläger aufgrund des angenommenen Anerkenntnisses, das eine stärkere verfahrensrechtliche Stellung verschafft (§ 101 Abs 2, § 199 Abs 1 Nr 2 SGG) nicht ungünstiger gestellt werden.
Normenkette
SGG § 101 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 45 Abs 3 Fassung: 1980-08-18
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 27.01.1983; Aktenzeichen L 12 V 934/82) |
SG Ulm (Entscheidung vom 29.04.1982; Aktenzeichen S 8 V 25/82) |
Tatbestand
1982 beantragte der Kläger, dem eine Beschädigtenrente entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH zuerkannt war, zusätzliche Versorgung wegen einer Lungentuberkulose. Nach erfolglosen Verwaltungsverfahren gab der Beklagte im Gerichtsverfahren (S 12 V 379/73) aufgrund eines Gutachtens und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Schriftsatz vom 27. Mai 1974 ein "Anerkenntnis" ab; darin anerkannte er ein "Tuberkulom des rechten Lungenoberlappens" als weitere Schädigungsfolge und gewährte Rente nach einer MdE um 80 vH ab 1. Juni 1972. Der Kläger nahm das Anerkenntnis im Juni 1974 an. Als er 1978 wegen seines Lungenleidens operiert wurde, stellte sich heraus, daß er nicht an einem Lungen-Tuberkulom, sondern an einem Lungen-Hamartom gelitten hatte. Darüber wurde die Verwaltung im Juli 1978 durch den behandelnden Arzt unterrichtet. Mit Schreiben vom 7. Februar 1979 teilte das Landesversorgungsamt dem Kläger mit, die Anerkennung des Tuberkuloms sei zweifelsfrei unrichtig gewesen, das Hamartom sei nicht durch äußere Umstände des Wehrdienstes beeinflußt worden; das Anerkenntnis werde angefochten. Durch Bescheid vom 16. März 1979 berichtigte die Verwaltung die entgegenstehende Entscheidung gemäß § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG) und forderte überzahlte Rentenbeträge von 1.380,- DM zurück. Das Sozialgericht (SG) hob diesen Verwaltungsakt auf, weil das Anerkenntnis nicht durch einen Berichtigungsbescheid widerrufen werden könne (Urteil vom 12. Februar 1981). Während des Berufungsverfahrens nahm im Vergleich vom 1. Oktober 1981 der Beklagte seinen Bescheid vom 16. März 1979 und der Kläger seine Klage zurück; die Beteiligten erklärten das Urteil für gegenstandslos. Sie waren sich darüber einig, daß der Streit über die Wirksamkeit des Anerkenntnisses durch Fortsetzung des früheren Prozesses geklärt werden müsse. Im Januar 1982 beantragte der Beklagte gegenüber dem SG, den Rechtsstreit S 12 V 379/83 fortzusetzen und die Unwirksamkeit des Anerkenntnisses festzustellen sowie die Klage abzuweisen. Das SG hat festgestellt, daß dieser Rechtsstreit durch das angenommene Anerkenntnis erledigt ist (Urteil vom 29. April 1982). Das Landessozialgericht (LSG) hat die dagegen vom Beklagten gerichtete Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1983). Entgegen der Rechtsansicht des Beklagten ist es von einem angenommenen Anerkenntnis und nicht von einem Vergleich ausgegangen. Das Anerkenntnis sei als Prozeßhandlung nicht durch die nachträglichen Erklärungen der Verwaltung beseitigt worden. Jene Prozeßerklärung sei nicht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam, wofür ein offenbarer Irrtum erforderlich gewesen wäre. Falls auf das Anerkenntnis § 580 Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechend angewendet werden könne, ergäbe sich schon deshalb keine Unwirksamkeit, weil dem die Fristvorschrift des § 586 Abs 2 Satz 2 ZPO entgegenstehe; der Anfechtungsgrund hätte spätestens im Juni 1979 geltend gemacht werden müssen. Das Anerkenntnis sei auch nicht aus materiellrechtlichen Gründen unwirksam. Falls die Vorschriften über die Anfechtung von Willenserklärungen entsprechend angewendet werden könnten, fehle es an einem Irrtum iS des § 119 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Folgen eines beiderseitigen Irrtums über die Geschäftsgrundlage richteten sich nach der Regel des § 779 Abs 1 BGB. Auf eine Unwirksamkeit, die sich demnach ergeben könnte, könne sich der Beklagte nur so lange berufen, wie die Rechtsposition des begünstigten Klägers nicht schutzbedürftig sei. Dies regele sich nach der Vorschrift des § 45 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren (SGB X). Zwar sei die Anerkennung eines Tuberkuloms von Anfang an unrichtig gewesen. Aber ein entsprechender Bescheid könnte gemäß § 45 Abs 3 SGB X nach Ablauf von zwei Jahren nach der Bekanntgabe nicht mehr zurückgenommen werden. Ausnahmefälle des § 45 Abs 3 Satz 2 und 3 SGB X seien nicht gegeben.
Der Beklagte rügt mit der - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 45 Abs 3 SGB X. Falls er an Stelle des Anerkenntnisses einen Bescheid gleichen Inhalts erteilt hätte, wäre bei der Anfechtung eines demgegenüber erlassenen Berichtigungsbescheides nicht § 45 SGB X anzuwenden.
Der Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG ist mit Recht von der endgültigen Erledigung des Rechtsstreits ausgegangen. Der Beklagte hat diese Wirkung des angenommenen Anerkenntnisses (§ 101 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) nicht durch seine nachträgliche Erklärung beseitigt. Wie das Berufungsgericht im einzelnen zutreffend entschieden hat, konnte die Verwaltung das Anerkenntnis als Prozeßhandlung und die darin enthaltene hoheitliche Regelung des Versorgungsverhältnisses weder wirksam widerrufen noch anfechten (vgl dazu auch BSG, Sozialversicherung 1981, 243). Wenn der Beklagte einen Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt anstelle des Anerkenntnisses erlassen hätte, hätte er diesen nach § 45 Abs 3 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I 1469) nicht zurücknehmen können. Dann darf der Kläger aufgrund des angenommenen Anerkenntnisses, das eine stärkere verfahrensrechtliche Stellung verschafft (§ 101 Abs 2, § 199 Abs 1 Nr 2 SGG), nicht ungünstiger gestellt werden. Diese materiell-rechtliche Rechtslage ist nach der am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen Vorschrift des § 45 SGB X zu beurteilen, weil das vorher begonnene Gerichtsverfahren über die Rechtmäßigkeit des Inhalts des Anerkenntnisses nach neuem Recht fortzusetzen ist (Art II § 37 Abs 1, § 40 SGB X; Großer Senat des BSG in BSGE 54, 223 = SozR 1300 § 45 Nr 3; Urteil des erkennenden Senats vom 7. Dezember 1983 - 9a RV 26/82). Es handelt sich nicht um einen Übergangsfall bezüglich des Berichtigungsbescheides vom 16. März 1979, den der Beklagte selbst aufgehoben hat.
Wenn mithin die Revision zurückzuweisen ist, so ist damit allein über die Wirksamkeit des Anerkenntnisses entschieden, aber nicht darüber, ob eine Rücknahme gemäß § 48 SGB X für die Zukunft möglich ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen