Leitsatz (redaktionell)
1. Für den im Zivilrecht entwickelten Begriff der Unterbrechung des Kausalzusammenhanges ist in der für das Versorgungsrecht maßgebenden "Theorie der wesentlichen Bedingung" kein Raum.
2. Haben 2 Bedingungen zu einer Verletzung geführt, nämlich einerseits das Herumliegen von Handgranaten, dh der versorgungsrechtlich geschützte kriegseigentümliche Gefahrenbereich, andererseits das Verhalten des Verletzten, dann ist nicht entscheidend, ob der Verletzte schuldhaft iS des Zivilrechts oder des Strafrechts ebenfalls eine Bedingung zum Erfolg gesetzt hat; selbst wenn der Verletzte schuldhaft gehandelt hat, kann bei Abwägung der Bedingungen im Einzelfall dennoch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich derart an Bedeutung überwiegen, daß er allein die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Rechtssinne darstellt.
3. Wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne (Mitursache) ist der kriegseigentümliche Gefahrenbereich auch dann, wenn er in gleicher Weise ("gleichwertig") wie das Verhalten des Verletzten zu dem "Erfolg" beigetragen hat.
Das Verhalten des Verletzten ist nicht schon deshalb die allein wesentliche Bedingung, weil diese Bedingung zeitlich die letzte ist und damit den Erfolg "ausgelöst" hat.
4. Versorgungsschutz für das Beseitigen von Eierhandgranaten und die dabei durch Explosion zugezogenen Verletzungen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, Abs. 3 Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. April 1960 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 3. September 1908, von Beruf Schlosser, jetzt Invalidenrentner, fand am 18. April 1945 auf dem Wege längs des L...-Seitenkanals bei L... an der Uferböschung zwei Eierhandgranaten, die von den letzten Kampfhandlungen herrührten; er nahm die Handgranaten auf, um sie ins Wasser zu werfen, dabei explodierten sie; der Kläger erlitt schwere Verletzungen. Im April 1947 beantragte der Kläger, ihm wegen Verlustes beider Hände und Verletzungen am Oberschenkel als Schädigungsfolgen Versorgung zu gewähren; er trug vor, er habe die Eierhandgranaten unschädlich machen wollen, um spielende Kinder vor einem Unglück zu bewahren. Die Landesversicherungsanstalt (LVA) W... lehnte den Versorgungsantrag mit Bescheid vom 15. April 1947 nach den früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften ab, weil der Kläger eigenmächtig gehandelt habe und deshalb eine unmittelbare Kriegseinwirkung nicht vorgelegen habe. Dieser Bescheid blieb unangefochten. Im Februar 1951 beantragte der Kläger, ihm Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zu gewähren. Das Versorgungsamt (VersorgA) S... stellte weitere Ermittlungen an; es lehnte jedoch das Versorgungsbegehren des Klägers mit Bescheid vom 6. August 1953 ab, weil die Gewährung einer Versorgungsrente bereits mit dem Bescheid vom 15. April 1947 nach früherem Recht abgelehnt und dieser Bescheid auch nach dem BVG rechtsverbindlich sei (§ 85 BVG). Den Widerspruch wies das LandesVersorgA W... mit Bescheid vom 4. Februar 1954 zurück.
Das Sozialgericht (SG) Dortmund wies die Klage mit Urteil vom 30. Juni 1955 ab. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen wies die Berufung mit Urteil vom 28. April 1960 zurück. Das LSG führte aus, die Ablehnung des Versorgungsanspruchs nach früherem Versorgungsrecht habe die Prüfung, ob ein schädigender Vorgang i.S. des BVG vorliege und dem Kläger damit ein Anspruch nach dem BVG zustehe, nicht erübrigt; der Beklagte habe sich zu Unrecht auf § 85 BVG berufen. Eine unmittelbare Kriegseinwirkung i.S. des § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG sei jedoch zu verneinen. Zwar hätten die Eierhandgranaten, die der Kläger in einem Einmannloch an der Uferböschung gefunden habe, einen "kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen"; die gesundheitliche Schädigung des Klägers sei jedoch nicht durch diesen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich eingetreten; die "wesentliche und eigentliche Ursache" der gesundheitlichen Schädigung sei in dem Verhalten des Klägers zu erblicken; der Kläger habe schuldhaft gehandelt, eine rechtliche oder sittliche Verpflichtung des Klägers, die Handgranaten eigenmächtig unschädlich zu machen, habe nicht bestanden, eine unmittelbare Gefährdung spielender Kinder habe nicht vorgelegen. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 22. Juli 1960 zugestellt. Der Kläger legte am 9. August 1960 Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. April 1960 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er begründete die Revision ebenfalls am 9. August 1960 und führte aus, das LSG habe die Vorschriften des § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a BVG i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG unrichtig angewandt, es habe zu Unrecht angenommen, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich und der gesundheitlichen Schädigung des Klägers durch das schuldhafte Verhalten des Klägers unterbrochen worden sei.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; der Kläger hat die Revision frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Das LSG hat zu Recht angenommen, der Beklagte habe das Versorgungsbegehren des Klägers nach dem BVG nicht schon deshalb ablehnen dürfen, weil über den Versorgungsanspruch des Klägers bereits nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften - ablehnend - entschieden und diese Entscheidung bindend geworden sei; die Bindungswirkung des § 85 Satz 1 BVG erstreckt sich nur auf die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem schädigenden Vorgang und einer Gesundheitsstörung (Entscheidung über den medizinischen Zusammenhang), nicht dagegen darauf, ob der schädigende Vorgang die Tatbestandsmerkmale der im Einzelfall in Betracht kommenden Vorschriften des BVG erfüllt (BSG 4, 21; Urt. des BSG vom 29. April 1959, SozR Nr. 10 zu § 85 BVG). Es hat daher unbeschadet des ablehnenden Bescheids nach früherem Versorgungsrecht geprüft werden müssen, ob dem Kläger ein Versorgungsanspruch nach dem BVG zusteht.
Nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen i.S. von § 1 Abs. 2 Buchst. a BVG auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben.
Das LSG hat festgestellt, der Kläger habe die Eierhandgranaten am 18. April 1945 gefunden, er habe sie, um sie unschädlich zu machen, ins Wasser werfen wollen; die Handgranaten hätten in einem "Einmannloch" an der Uferböschung des L...-Seitenkanals, also an einem jedermann zugänglichen Ort, gelegen, sie seien dort von den letzten Kampfhandlungen liegen geblieben; die Aufräumung gefährlichen Kriegsmaterials sei damals in dieser Gegend noch nicht möglich gewesen. Das LSG hat aus diesem Sachverhalt zwar zu Recht geschlossen, daß im vorliegenden Falle kriegerische Vorgänge einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben (vgl. auch BSG 1, 72; 6, 102, 188); es hat jedoch zu Unrecht verneint, daß dieser Gefahrenbereich sich nachträglich schädigend auf die Gesundheit des Klägers ausgewirkt habe. Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich ist nicht, wie das LSG angenommen hat, als wesentliche Bedingung und damit als Ursache für die gesundheitliche Schädigung des Klägers "durch eigene Willensbestimmung und schuldhaftes Verhalten des Klägers ausgeschieden" und durch einen neuen selbständigen Gefahrenbereich, der allein für den Unfall verantwortlich gewesen ist, ersetzt worden.
Der Kläger hat, wie den Feststellungen des LSG zu entnehmen ist, die Handgranaten durch eigenes Handeln sofort und an Ort und Stelle unschädlich machen wollen, weil er angenommen hat, es habe anderen Personen, insbesondere spielenden Kindern, eine "unmittelbare Gefahr" gedroht. Das LSG hat das schuldhafte Verhalten des Klägers darin erblickt, daß der Kläger die "Situation" verkannt habe, wenn er der Meinung gewesen sei, es habe "eine rechtfertigende Veranlassung bzw. eine sittliche Verpflichtung zum sofortigen Eingreifen bestanden, weil eine unmittelbare Gefährdung Dritter vorgelegen habe, die nicht anders zu beseitigen gewesen sei"; tatsächlich sei das eigenmächtige Vorgehen des Klägers nicht geboten gewesen, der Kläger habe dies auch erkennen müssen.
Der Unfall des Klägers wäre zwar vermieden worden, wenn der Kläger sich in der Lage, in die er durch Auffinden der Handgranaten gekommen ist, "richtig" verhalten hätte, d.h., wenn er, wie es das LSG als notwendig und möglich angesehen hat, andere und geeignete Maßnahmen zur Beseitigung der Gefahr getroffen hätte (Abschirmung der Gefahrenstelle mit Hilfe anderer Personen, sofortige Meldung an die Polizei, Beseitigung der Handgranaten durch die Polizei). Insofern ist auch das Verhalten des Klägers eine Bedingung, die den "Erfolg", d.h. die gesundheitliche Schädigung des Klägers, herbeigeführt hat; diese Bedingung hat aber den kriegseigentümlichen Gefahrenbereich als Bedingung für den Erfolg nicht "verdrängt". Für den im Zivilrecht entwickelten Begriff der Unterbrechung des Kausalzusammenhangs ist in der für das Versorgungsrecht maßgebenden "Theorie der wesentlichen Bedingung" kein Raum (vgl. Haueisen, JZ 1961, 9, 10; Tesmer, BVBl., 1960, 161). Im vorliegenden Falle haben zwar zwei Bedingungen zu der Verletzung des Klägers geführt, nämlich einerseits das Herumliegen der Handgranaten, d.h. der versorgungsrechtlich geschützte kriegseigentümliche Gefahrenbereich, andererseits das Verhalten des Klägers. In solchen Fällen ist aber nicht entscheidend, ob der Verletzte schuldhaft im Sinne des Zivilrechts oder des Strafrechts ebenfalls eine Bedingung zum Erfolg gesetzt hat. Selbst wenn der Verletzte schuldhaft gehandelt hat, so kann bei Abwägung der Bedingungen im Einzelfall dennoch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich derart an Bedeutung überwiegen, daß er allein die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Rechtssinne darstellt (BSG 6, 188, Urteile des BSG vom 18. Januar 1961 - 11 RV 764/60 - und vom 24. Februar 1961 - 11 RV 1352/58). Wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne (Mitursache) ist aber der kriegseigentümliche Gefahrenbereich auch dann, wenn er in gleicher Weise ("gleichwertig") wie das Verhalten des Klägers zu dem "Erfolg" beigetragen hat. Das Verhalten des Klägers ist auch nicht schon deshalb die allein wesentliche Bedingung, weil diese Bedingung zeitlich die letzte ist und damit den Erfolg "ausgelöst" hat (Haueisen aaO). Nach diesen rechtlichen Erwägungen ist die Schlußfolgerung des LSG, die "wesentliche und eigentliche Ursache" für den schädigenden Erfolg sei in dem Verhalten des Klägers zu erblicken, nicht haltbar. Die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Rechtssinne für die Verletzung des Klägers ist vielmehr in dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zu sehen, während das eigene Verhalten des Klägers, das auf einer in dieser Situation jedenfalls nicht ungewöhnlichen irrigen Schlußfolgerung über die Notwendigkeit der zu ergreifenden Maßnahmen beruht hat, dem gegenüber an Bedeutung zurücktritt. Allenfalls steht das eigene Verhalten des Klägers hier bei der Wertung der Geschehnisse (Bedingungen) nach ihrem Gewicht und ihrer Tragweite für den Erfolg "gleichwertig" neben dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, es ist als Mitursache anzusehen, es hat aber nicht eine "überragende Bedeutung".
Das LSG hat danach zu Unrecht verneint, daß ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand i.S. des § 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG vorliegt.
Die Revision des Klägers ist daher begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben. Der Senat kann in der Sache nicht selbst entscheiden, da das LSG die weiteren Voraussetzungen des Versorgungsanspruchs (Art und Umfang der Schädigungsfolgen, Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit) noch nicht erörtert hat; insoweit bedarf es noch tatsächlicher Feststellungen. Die Sache ist daher an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen