Leitsatz (amtlich)
Der kriegseigentümliche Gefahrenbereich (BVG § 5 Abs 1 Buchst e) kann bei Abwägung der Bedingungen für den Eintritt des Erfolgs im Einzelfalle auch dann, wenn der Beschädigte zivil- oder strafrechtlich schuldhaft gehandelt hat, an Bedeutung derart überwiegen, daß allein dieser Gefahrenbereich die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Sinne des Versorgungsrechts darstellt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Für den im Zivilrecht entwickelten Begriff der "Unterbrechung des Kausalzusammenhanges" ist in der für das Vorsorgerecht maßgebenden "Theorie der wesentlichen Bedingung" kein Raum.
2. Haben 2 Bedingungen zur Verletzung des Beschädigten geführt (Herumliegen von Munition und das Verhalten des Beschädigten), dann ist nicht allein entscheidend, ob der Beschädigte oder andere Personen schuldhaft ebenfalls eine Bedingung für den Schaden gesetzt haben oder nicht. Selbst wenn der Beschädigte oder ein anderer zivil- oder strafrechtlich schuldhaft gehandelt hat, kann bei Abwägung der Bedingungen im Einzelfall dennoch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich derart an Bedeutung überwiegen, daß er allein die wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne darstellt.
Soweit die VV BVG § 1 Nr 4 Abs 3 etwas anderes besagen will, widerspricht sie dem Gesetz. Lediglich ein Verhalten, das durch die stärkste Form des Verschuldens, nämlich die Absicht, bestimmt ist, ist nach BVG § 1 Abs 4 stets als die wesentliche Bedingung für einen Schaden anzusehen.
3. Der schädigende Vorgang muß einer Gefahrenquelle entspringen, der eine Verbindung mit typischen Kriegsgeschehen eigen ist; dies ist im allgemeinen der Fall, wenn Kriegsgerät, das aus Kampfhandlungen des letzten Krieges zurückgeblieben ist, an einem für jedermann zugänglichen Ort herumliegt. Die Schädigung muß nicht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen stehen, auch eine örtliche Verbindung der Gefahrenquelle mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen ist nicht erforderlich. Die Verlagerung des gefährlichen Gegenstandes an einem anderen Ort, auch wenn der Verletzte selbst sie vorgenommen hat, löst nicht notwendig die Verbindung mit dem Kriegsgeschehen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 4 Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07; BVGVwV § 1 Abs. 3 Nr. 4
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. Oktober 1958 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Im April 1947 fand der damals 14 1/2jährige Kläger bei Feldarbeiten in der Gemarkung seines Heimatortes M... Kriegsmunition (Jabo-Munition); er nahm drei Geschosse an sich und hantierte zu Hause so damit, daß es zu einer Explosion kam; die linke Hand des Klägers wurde verstümmelt. Im Juni 1951 beantragte der Kläger Versorgung wegen Verstümmelung der linken Hand mit Verlust der Finger eins bis vier. Das Versorgungsamt H... lehnte den Antrag durch Bescheid vom 17. Dezember 1953 ab; ein kriegseigentümlicher Gefahrenbereich habe zwar vorgelegen, der ursächliche Zusammenhang sei jedoch durch das eigene verantwortliche Handeln des Klägers unterbrochen. Den Widerspruch wies das Landesversorgungsamt am 28. März 1955 zurück. Das Sozialgericht (SG) Mannheim verurteilte den Beklagten durch Urteil vom 26. April 1956, Verstümmelung der linken Hand mit Verlust des ersten, dritten und vierten Fingers links als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzuerkennen und eine entsprechende Rente zu gewähren. Der Beklagte legte Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Stuttgart ein. Das LSG erhob Beweis durch ein Gutachten von Frau Dr. H... beim Psychologischen Institut der Universität T... und durch eine schriftliche Auskunft des Hauptlehrers B.... Der Kläger berief sich zum Beweis dafür, daß er damals für sein Tun nicht verantwortlich gewesen sei, auf eine Veröffentlichung von Prof. Dr. H... in M... in "Das Kind in unserer Zeit" (Alfred Kröner Verlag S. 71 ff). Durch Urteil vom 7. Oktober 1958 wies das LSG die Berufung zurück: Das Herumliegen von Kriegsmunition sei eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG; die Verletzung des Klägers sei auf eine solche unmittelbare Kriegseinwirkung zurückzuführen; zwar habe auch das Verhalten des Klägers zu dem Schaden beigetragen, die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im versorgungsrechtlichen Sinne sei jedoch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich gewesen; dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger - wie die Beweisaufnahme ergeben habe - damals nicht nur die Einsicht in das Gefährliche und Verbotene seines Tuns, sondern auch die Fähigkeit besessen habe, seinen Willen gemäß dieser Einsicht zu bestimmen; entscheidend sei, daß er in einer für sein damaliges Alter typischen Weise die Chance, der Gefahr zu entgehen, erheblich überschätzt habe; auch wenn das Verhalten des Klägers strafrechtlich zu beurteilen wäre, könnte es sich nur um ein leichtes Verschulden handeln, ein solches Verschulden übertreffe aber in seiner Bedeutung für den späteren Unfall nicht die kriegseigentümliche Gefahr, die in dem Herumliegen der Munition bestanden habe. Die Revision ließ das LSG zu.
Das Urteil wurde dem Beklagten am 12. November 1958 zugestellt. Am 5. Dezember 1958 legte er Revision ein und beantragte,
die Urteile des LSG Stuttgart vom 7. Oktober 1958 und des SG Mannheim vom 26. April 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Am 9. Februar 1959 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 12. Februar 1959 - begründete er die Revision: Das LSG habe die §§ 1 Abs. 1 und 2 Buchstabe a und 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG sowie die für das Gebiet der Kriegsopferversorgung geltende Kausalitätsnorm verletzt. Die Explosion des Sprengkörpers sei allein durch das Handeln des Klägers ausgelöst worden; das Handeln eines Verletzten scheide als Ursache nur aus, wenn es entweder einem rechtfertigenden Motiv folge oder wenn es der Ausfluß einer nicht verantwortlichen Persönlichkeit sei; der Kläger sei verantwortlich für sein Tun gewesen, denn er habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme die nötige Einsicht und Willensfähigkeit besessen; zu Unrecht habe das LSG den Umstand berücksichtigt, daß der Kläger die Chance, der Gefahr zu entgehen, überschätzt habe; dabei handele es sich nur um eine gewisse Labilität in bezug auf das Wollen.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft; der Beklagte hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet, sie ist daher zulässig. Die Revision ist aber unbegründet.
Nach § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe a BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen im Sinne von § 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG auch nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Um die nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, handelt es sich dann, wenn der schädigende Vorgang einer Gefahrenquelle entspringt, der eine Verbindung mit typischen Kriegsgeschehen eigen ist; dies ist im allgemeinen der Fall, wenn Kriegsgerät, das aus den Kampfhandlungen des letzten Krieges zurückgeblieben ist, an einem für jedermann zugänglichen Ort herumliegt (BSG 1, 72, 75; 6, 102, 103; 6, 188, 190; Urteil des BSG vom 21. Januar 1959, SozR BSG IX/3 § 1 (b 1) Nr. 8). Die Schädigung muß nicht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen stehen, auch eine örtliche Verbindung der Gefahrenquelle mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen ist nicht erforderlich. Die Verlagerung des gefährlichen Gegenstandes an einen anderen Ort, auch wenn der Verunglückte selbst sie vorgenommen hat, löst nicht notwendig die Verbindung mit dem Kriegsgeschehen (vgl. Urteil des BSG vom 10. November 1960 - 8 RV 397/59 -). Von diesen rechtlichen Erwägungen ist auch das LSG ausgegangen. In tatsächlicher Hinsicht hat es festgestellt, daß die Munition, die der Kläger gefunden hat, auf einem Feld, also an einem für jedermann zugänglichen Ort, gelegen hat und daß es sich um Munition aus den Kampfhandlungen des letzten Krieges gehandelt hat. Diese Feststellungen sind mit der Revision nicht angegriffen und damit für das BSG bindend (§ 163 SGG). Das LSG hat auch zu Recht angenommen, daß der kriegseigentümliche Gefahrenbereich im Zeitpunkt der Explosion noch fortbestanden hat, obwohl der Kläger die Munition mit nach Hause genommen und an ihr hantiert hat. Es hat nicht bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs das Gesetz verletzt, wenn es zu dem Ergebnis gekommen ist, daß damit die kriegseigentümliche Gefahrenquelle bestehen geblieben ist. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm ist Ursache nicht jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele, sondern nur diejenige Bedingung, die wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (zB BSG 1, 150; 1, 268). Für den im Zivilrecht entwickelten Begriff der "Unterbrechung des Kausalzusammenhangs" ist, wie das LSG mit Recht angenommen hat, in der für das Versorgungsrecht maßgebenden "Theorie der wesentlichen Bedingung" kein Raum (vgl. Haueisen, JZ 1961, 9, 10; Tesmer, BVBl 1960, 161). Im vorliegenden Falle haben zwar zwei Bedingungen zu der Verletzung des Klägers geführt, nämlich einerseits das Herumliegen der Munition, andererseits das Verhalten des Klägers. In solchen Fällen ist aber nicht, wie die Revision meint, allein entscheidend, ob die verletzte oder eine andere Person schuldhaft ebenfalls eine Bedingung für den Schaden gesetzt hat oder nicht. Selbst wenn der Verletzte oder ein anderer -zivil- oder strafrechtlich schuldhaft gehandelt hat, so kann bei Abwägung der Bedingungen im Einzelfall dennoch der kriegseigentümliche Gefahrenbereich derart an Bedeutung überwiegen, daß er allein die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Rechtssinne darstellt (BSG 6, 188; Urteil des BSG vom 18. Januar 1961 - 11 RV 764/60 -). Soweit die Verwaltungsvorschrift Nr. 4 Abs. 3 zu § 1 BVG etwas anderes besagen will, widerspricht sie dem Gesetz. Lediglich ein Verhalten, das durch die stärkste Form des Verschuldens, nämlich die Absicht, bestimmt ist, ist nach § 1 Abs. 4 BVG stets als die wesentliche Bedingung für einen Schaden anzusehen; denn nach dieser Vorschrift ist eine von dem Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung niemals eine Schädigung im Sinne des Gesetzes. Bei der Beurteilung der übrigen Verschuldensformen kommt es dagegen stets auf die Verhältnisse des Einzelfalles an. Das LSG hat auf Grund des Gutachtens der Sachverständigen Frau Dr. H..., der Abhandlung von Prof. Dr. H... sowie des übrigen Ergebnisses der Beweisaufnahme festgestellt, der Kläger sei damals ein "normal entwickelter 14 1/2-Jähriger" gewesen; ihm sei zwar bewußt gewesen, daß sein Tun gefährlich und verboten gewesen sei, er habe auch das erforderliche Mindestmaß an Willensfähigkeit besessen, er habe aber - in einer für sein Alter typischen Weise - die Chance, der ihm bekannten Gefahr zu entgehen, erheblich überschätzt. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen sind begründete Revisionsrügen nicht erhoben, auch diese Feststellungen sind daher für das BSG bindend (§ 163 SGG). Aus dem festgestellten Sachverhalt hat das LSG zutreffend gefolgert, daß die wesentliche Bedingung und damit die Ursache im Rechtssinne für die Verletzung des Klägers in dem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich zu erblicken ist, während das eigene - zwar möglicherweise schuldhafte, aber auf kindlicher Unbekümmertheit beruhende und dadurch verständliche - Verhalten des Klägers demgegenüber an Bedeutung zurücktritt, es ist auch zu Recht davon ausgegangen, daß nach allgemeiner Lebenserfahrung bei Jugendlichen dieses Alters unbeschadet ihrer bereits vorhandenen Einsichts- und Willensfähigkeit damit gerechnet werden muß, daß sie sich, wenn sie Munition finden, so verhalten wie der Kläger. Die Erwägungen des LSG stehen auch nicht im Widerspruch zu dem Urteil des 10. Senats vom 10. Juni 1955 (BSG 1, 72). Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem Fall, über den der 10. Senat zu entscheiden gehabt hat, wesentlich schon allein dadurch, daß der Kläger in jenem Falle im Zeitpunkt der Schädigung 15 1/2 Jahre alt gewesen ist und bereits in einem Lehrverhältnis - als Kraftfahrzeugschlosser - gestanden hat; auch wenn der Altersunterschied zwischen einem 14 1/2-Jährigen und einem 15 1/2-Jährigen zunächst gering erscheint, ist er im vorliegenden Falle schon deshalb erheblich, weil der 15 1/2-Jährige bereits im Berufsleben gestanden hat, während der 14 1/2-Jährige noch die Schule besucht und auch schon damit nach allgemeiner Lebenserfahrung in einer kindlicheren Sphäre gelebt hat.
Das LSG hat unter diesen Umständen die Berufung des Beklagten mit Recht zurückgewiesen. Die Revision des Beklagten ist daher unbegründet und zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen