Entscheidungsstichwort (Thema)
Betreuungspflicht des Versicherungsträgers
Leitsatz (amtlich)
Zur Betreuungspflicht des Versicherungsträgers in der RV bei bereits laufendem Rentenfeststellungsverfahren und zum Anspruch auf Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn der Versicherungsträger sich pflichtgemäß verhalten hätte.
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Umwandlung einer Rente wegen BU oder EU in flexibles Altersruhegeld handelt es sich um eine Erhöhung der Rente iS des RVO § 1290 Abs 3 S 1 mit der Folge, daß die Rente ab Antragsmonat beginnt.
2. Spätestens mit einem konkreten Rentenantrag entsteht zwischen den Beteiligten ein Verwaltungsrechtsverhältnis (Sozialrechtsverhältnis) mit gegenseitigen Rechten und Pflichten.
3. Zu den Nebenpflichten des Versicherungsträgers gehören als spezielle Dienstleistung Auskunft und Belehrung sowie "verständnisvolle Förderung".
4. Der Versicherungsträger muß bei konkretem Anlaß den Versicherten auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen, die klar zutage getreten, also für den Versicherungsträger erkennbar geworden sind und zweckmäßigerweise von jedem vernünftigen Versicherten genutzt werden. Der Versicherungsträger muß die ihm anvertrauten Interessen des Versicherten behutsam wahren und dem zu betreuenden Bürger zu den Rechten, insbesondere zu den Leistungen verhelfen, die ihm nach den Gesetzen zustehen.
5. Allerdings erfordert ein solches Tätigwerden des Versicherungsträgers einen konkreten Anlaß, der sich normalerweise aus einem entsprechenden Antrag oder einer Anfrage des Versicherten ergibt. In aller Regel besteht keine Verpflichtung, von Amts wegen den Versicherten gezielt auf seinen speziellen Einzelfall hin zu beraten und zu belehren.
Normenkette
RVO § 1290 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1972-10-16, Abs. 3 S. 1 Fassung: 1972-10-16; BGB § 242 Fassung: 1896-08-18; SGB 1 §§ 13, 16 Abs. 3, § 15 Fassung: 1975-12-11, § 14 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Januar 1977 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten der Beginn des dem Kläger gewährten flexiblen Altersruhegeldes (ARG - § 1248 Abs 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger ist am 6. August 1909 geboren. Er beantragte am 14. Juni 1972, ihm Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 7. Februar 1973, zur Post gegeben am 5. März 1973, nur Rente wegen Berufsunfähigkeit. Auf den weiteren Antrag des Klägers vom 12. März 1973 wandelte sie diese Rente im Bescheid vom 28. Juli 1973 für die Zeit ab 1. März 1973 in flexibles ARG nach § 1248 Abs 1 RVO um.
Mit der dagegen gerichteten Klage begehrte der Kläger die Zahlung des ARG bereits ab 1. Januar 1973, weil er die verspätete Antragstellung im März 1973 nicht zu vertreten habe. Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt (Urteil vom 22.08.1974). Die in erster Instanz zugelassene Berufung der Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) mit im wesentlichen folgender Begründung zurückgewiesen:
Der Leistungsbeginn richte sich im Falle des Klägers nach § 1290 Abs 1 S. 2 RVO, wonach ARG nach § 1248 Abs 1 bis 3 RVO vom Ablauf des Monats an zu gewähren sei, in dem seine Voraussetzungen erfüllt seien, jedoch vom Beginn des Antragsmonats an, wenn der Antrag später als drei Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt werde. Die Ausnahmevorschrift des § 1290 Abs 3 S. 1 RVO komme dagegen nicht in Betracht, weil es sich nicht um eine Rentenerhöhung handele. Die Voraussetzungen des § 1248 Abs 1 RVO habe der Kläger bereits mit der Vollendung des 62. Lebensjahres im August 1971 und dem Eintritt der Berufsunfähigkeit im Juni 1972 erfüllt. Da das flexible ARG vom Gesetzgeber erst ab 1. Januar 1973 eingeführt worden sei, könne frühestens mit diesem Zeitpunkt die Frist des § 1290 Abs 1 S. 2 RVO von drei Monaten beginnen. Das bedeute jedoch nicht, daß die Anspruchsvoraussetzungen erst im Januar 1973 erfüllt gewesen seien und die Rente erst vom Ablauf dieses Monats an gewährt werden könne. Allerdings stimme die Ansicht der Beklagten, wonach für den Beginn des ARG hier § 1290 Abs 3 S. 1 RVO maßgebend sei, mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) überein (BSG 39, 276; SozR 2200 § 1290 Nr 8). Die diesen Entscheidungen zugrunde liegende Auslegung der mit § 1290 Abs 3 S. 1 RVO übereinstimmenden Vorschriften der §§ 82 Abs 3 S. 1 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) und 67 Abs 3 S. 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) überzeuge das LSG jedoch nicht. Die "Erhöhung" von Renten könne sich nach dem natürlichen Sprachgebrauch nur auf eine Änderung in der Höhe einer der Art nach gleichbleibenden Leistung beziehen. Hier fehle es aber an der Identität der Versicherungsfälle und der auf ihnen beruhenden Leistungen. Der Anwendungsbereich von § 1290 Abs 3 S. 2 RVO sei nicht auf Fälle der Rentenumwandlung beschränkt und die Vorschrift daher nicht entbehrlich, wenn der Auslegung des BSG nicht gefolgt werde. Die Zweckbestimmung des Abs 3 S. 1 biete keine Anhaltspunkte für die Annahme, die Umwandlung sei ein Unterfall der Erhöhung. Die von der Rechtsprechung des BSG abweichende Auslegung sei unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes verfassungskonform (Urteil vom 10.1.1977).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1290 Abs 3 S. 1 RVO. Das Urteil des LSG weiche von den erwähnten Entscheidungen des 5. und des 11. Senats beim BSG ab. Die dafür gegebene Begründung vermöge nicht zu überzeugen. Das gelte für die Argumentation mit dem natürlichen Sprachgebrauch, für die Auseinandersetzung mit den Schlußfolgerungen des BSG aus § 1290 Abs 3 S. 2 RVO und für die Erwägungen bezüglich der Verletzung des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG). § 1290 RVO regele als Ordnungsvorschrift verschiedene Fälle des Rentenbeginns und unterscheide zwischen der Erstgewährung sowie den Fällen, in denen jemand bereits eine Rente erhalten habe oder erhalte. Von einem Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz könne dabei schlechthin keine Rede sein. Es gehe in dem Rechtsstreit um die grundsätzliche Frage, ob von einer Erhöhung der Rente iS des § 1290 Abs 3 RVO gesprochen werden könne, wenn die Erstrente noch nicht oder noch nicht verbindlich festgestellt worden sei. Das sei zu bejahen, weil sich die Erhöhung nach dem materiell-rechtlich bestehenden Anspruch richte, zumindest dann, wenn der Erstbescheid bereits zugestellt worden sei. Die in der Entscheidung des SG angesprochene Verletzung der Aufklärungs- und Hinweispflicht des Versicherungsträgers könne nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens sein, weil es sich insoweit um Tatfragen handele, die das LSG nicht aufgegriffen habe.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 10. Januar 1977 und das Urteil des SG Schleswig vom 22. August 1974 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückgewiesen; denn dem Kläger steht das flexible ARG auch für die Monate Januar und Februar 1973 zu.
Allerdings bestimmt sich entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts der Beginn des ARG hier nicht nach § 1290 Abs 1 S. 2 RVO, wonach ARG iS des § 1248 Abs 1 bis 3 RVO vom Ablauf des Monats an zu gewähren ist, in dem seine Voraussetzungen erfüllt sind, jedoch vom Beginn des Antragsmonats an, wenn der Antrag später als drei Monate nach Erfüllung der Voraussetzungen gestellt wird. Vielmehr handelt es sich bei der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit in flexibles ARG um die Erhöhung der Rente iS des § 1290 Abs 3 S. 1 RVO. Das hat der erkennende Senat bereits zu der im wesentlichen gleichlautenden Vorschrift des § 82 Abs 3 S. 1 RKG entschieden (vgl BSG 39, 276 in Fortführung von BSG 22, 208). Dieser Rechtsprechung hat sich der 11. Senat des BSG angeschlossen (SozR 2200 § 1290 Nr. 8). Die dagegen vom LSG vorgebrachten Bedenken haben den Senat nicht zur Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung veranlaßt. Der Ausnahmecharakter des § 1290 Abs 3 S. 2 RVO mit der Beschränkung auf das ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres verbietet es, diese Bestimmung auf das vorgezogene ARG einschließlich des flexiblen anzuwenden. Nach der Systematik der gesetzlichen Regelung ist jede Umwandlung von Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit in ARG ein Fall der Erhöhung, denn nur so läßt sich zufriedenstellend erklären, daß der Gesetzgeber eine Ausnahme für den Beginn des so umgewandelten ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 1248 Abs 5 RVO) ausdrücklich geregelt hat (§ 1290 Abs 3 S. 2 RVO).
Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich nicht daraus, daß der Kläger das flexible ARG zu einer Zeit beantragt hat, als der Bescheid über die Bewilligung der Rente wegen Berufsunfähigkeit noch nicht bindend war. Eine Anfechtung dieses Verwaltungsaktes durch den Kläger ist nicht erfolgt. Er wollte die Erhöhung des Zahlbetrages, an den die Beklagte bereits mit der Bescheiderteilung gebunden war, durch den Antrag auf Umwandlung der Rente in ARG erreichen.
Der auf Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Antrag des Klägers aus dem Jahre 1972 kann nicht als stillschweigend gestellter Eventualantrag auf Gewährung des flexiblen ARG angesehen werden (vgl BSG SozR Nr 12 zu § 1248 RVO). Das hat hier um so mehr zu gelten, als damals das flexible ARG gesetzlich noch nicht eingeführt worden war.
Die Beklagte hat das flexible ARG dem Kläger jedoch bereits ab 1. Januar 1973 zu gewähren, weil sie es pflichtwidrig unterlassen hat, ihn rechtzeitig darauf hinzuweisen, daß er dieses ARG beantragen und beziehen kann. Ein derartiger Anspruch ist vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu verfolgen. Dabei handelt es sich nicht um eine Schadensersatzforderung in Form einer Geldleistung, für die § 40 Abs 2 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eine Regelung des Rechtswegs zu den ordentlichen Gerichten enthält. Der Kläger begehrt vielmehr die Vornahme einer Amtshandlung zur Herstellung des Zustandes, der bestehen würde, wenn die Beklagte sich pflichtgemäß verhalten hätte. Gegenstand des Rechtsstreits ist somit eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der Sozialversicherung iS des § 51 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - (vgl BSG 41, 126, 127; SozR 2200 § 1286 Nr 3; 4100 § 44 Nr 9; Urteil vom 11.03.1976 - 7 RAr 152/74).
Wenn auch die Vorinstanzen die Verurteilung der Beklagten zur Gewährung des ARG bereits ab 1. Januar 1973 nicht auf einen derartigen sozialrechtlichen Schadensersatzanspruch gestützt haben, so hindert das den Senat nicht, aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Entgegen der von der Beklagten geäußerten Ansicht handelt es sich bei dem Komplex "Betreuungspflicht" nicht nur um Tatfragen mit der sich aus § 163 SGG ergebenden Bindung des BSG, sondern um eine im Revisionsverfahren nachprüfbare Rechtsverletzung.
Der sozialrechtliche Schadensersatzanspruch des Klägers basiert auf einer Verletzung von Nebenpflichten aus dem Sozialrechtsverhältnis, die der Beklagten hier in Form der Pflichten zur Beratung und Betreuung des Klägers oblagen. Spätestens mit dem Rentenantrag vom 14. Juni 1972 ist zwischen den Beteiligten ein Verwaltungsrechtsverhältnis (Sozialrechtsverhältnis) mit gegenseitigen Rechten und Pflichten begründet worden (vgl BSG in SozR 4100 § 44 Nr 9). Zu derartigen Nebenpflichten des Versicherungsträgers gehören als spezielle Dienstleistung Auskunft und Belehrung sowie "verständnisvolle Förderung" (so BSG in SozR Nr 3 zu § 1233 RVO). Der Versicherungsträger muß bei konkretem Anlaß den Versicherten auf solche Gestaltungsmöglichkeiten hinweisen, die klar zutage getreten, also für den Versicherungsträger erkennbar geworden sind und zweckmäßigerweise von jedem vernünftigen Versicherten genutzt werden. Dabei erwartet die Rechtsprechung, daß der Versicherungsträger die ihm anvertrauten Interessen des Versicherten behutsam wahrt und dem zu betreuenden Bürger zu den Rechten, insbesondere zu den Leistungen verhilft, die ihm nach den Gesetzen zustehen (vgl BSG 32, 60, 66; 34, 124, 127; 41, 126, 128; SozR Nr 3 zu § 1233 RVO; 4100 § 44 Nr 9; 5850 § 26 Nr 2; Urteil vom 19.8.1976 - 11 RA 142/75).
Allerdings erfordert ein solches Tätigwerden des Versicherungsträgers einen konkreten Anlaß, der sich normalerweise aus einem entsprechenden Antrag oder einer Anfrage des Versicherten ergibt. In aller Regel besteht keine Verpflichtung, von Amts wegen den Versicherten gezielt auf seinen speziellen Einzelfall hin zu beraten und zu belehren (vgl BSG 42, 224, 227). Im Falle des Klägers ergab sich der konkrete Anlaß aus dem laufenden Rentenfeststellungsverfahren, das die vertragsähnliche Nebenpflicht zur Betreuung aufgrund des öffentlich-rechtlichen Versicherungsverhältnisses nach dem Grundsatz von Treu und Glauben umfaßt (vgl BSG 41, 126, 127).
Ausgelöst durch den Rentenantrag vom 14. Juni 1972 hat die Beklagte geprüft, ob dem Kläger Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zustand. Durch dieses Verwaltungsverfahren war ihr sein Versicherungsverhältnis in Einzelheiten bekannt. Die Kenntnis erstreckte sich insbesondere auf das Alter des Klägers, seine Versicherungszeiten und die Tatsache, daß er einer Erwerbstätigkeit nicht mehr nachging. Als die Feststellungen der Beklagten lediglich einen Versicherungsfall der Berufs- und nicht der Erwerbsunfähigkeit ergeben hatten, mußte sich aufgrund der genannten Kenntnis für die Beklagte der Gedanke an eine Besserstellung des Klägers beim Bezug des gerade mit Wirkung ab 1. Januar 1973 eingeführten ARG gemäß § 1248 Abs 1 RVO aufdrängen. Diese Gestaltungsmöglichkeit, ab Januar 1973 das flexible ARG zu beantragen, ist klar zutage getreten und hätte im Interesse des Klägers gelegen. Er hatte im August 1972 das 63. Lebensjahr vollendet. Die Beklagte wußte spätestens im Januar 1973, daß die Voraussetzungen des § 1248 Abs 1 und 7 S. 1 RVO erfüllt waren. Das ergab sich aus dem Antrag des Klägers vom 14. Juni 1972 und dem Rentenbescheid vom 7. Februar 1973 einschließlich der dazu vorher erfolgten Feststellungen. Sie hätte ihn darüber noch im Januar 1973 aufklären können und dies bei der gegebenen Sach- und Rechtslage auch tun müssen. Indem sie das unterließ, verletzte sie die ihr obliegende Betreuungspflicht, was wiederum ursächlich für den Schaden des Klägers ist. Er kann somit von der Beklagten die Herstellung des Zustandes verlangen, der bestehen würde, wenn sie sich pflichtgemäß verhalten hätte. Daraus folgt die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger das flexible ARG auch für die Monate Januar und Februar 1973 zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen