Verfahrensgang
LSG Bremen (Urteil vom 12.05.1977) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 12. Mai 1977 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Das klagabweisende, mit einer Vorschriftsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Sozialgerichts (SG) Bremen ist den Prozeßbevollmächtigten des Klägers (Rechtsschutz Sekretäre beim Landesverband des Reichsbundes der Kriegsopfer, Behinderten, Sozialrentner und Hinterbliebenen – Reichsbund –) am 29. September 1976 zugestellt worden; die Berufungsfrist (§ 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG–) endete daher mit Ablauf des 29. Oktober 1976 (Freitag). Die an das Landessozialgericht (LSG) Bremen adressierte Berufungsschrift vom 19. Oktober 1976 ist jedoch erst am Dienstag, dem 9. November 1976, beim LSG eingegangen. Hierzu kam es nach den Feststellungen des LSG folgendermaßen: Am Donnerstag, dem 21. Oktober 1976, suchte ein Rechtsschutzsekretär des Reichsbundes das Versorgungsamt Bremen und das SG Bremen auf, um dort Schriftstücke abzuliefern. Hierbei gab er versehentlich die Berufungsschrift – ob diese in einem Briefumschlag steckte oder offen befördert wurde, ist nicht ermittelt worden – in der Poststelle des Versorgungsamts ab, wo sie den Eingangsstempel dieses Tages erhielt. Nachdem der Schriftsatz sodann spätestens am 22. Oktober 1976 der Rechtsabteilung des Versorgungsamts zugegangen war, blieb er dort zunächst ungeprüft liegen; in dieser Abteilung benötigte die Vorlage von Eingängen beim zuständigen Sachbearbeiter damals mehrere Tage bis zu einer Woche. Erst mit Begleitschreiben vom 8. November 1976 leitete schließlich das Versorgungsamt eine Kopie der Berufungsschrift an das LSG weiter.
Das LSG hat die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs. 1 SGG) könne dem Kläger nicht gewährt werden, da die Fristversäumnis bei sorgsamem Verhalten des am 21. Oktober 1976 die Post austragenden Prozeßbevollmächtigten vermieden worden wäre. Ob das einmal gesetzte und fortwirkende Verschulden eines Beteiligten durch spätere Ereignisse wieder ausgeräumt werden könne, sei in der Rechtsprechung der obersten Verwaltungsgerichte des Bundes nicht befriedigend geklärt; insoweit stehe der vom Bundesfinanzhof und vom Bundesverwaltungsgericht vertretenen strengeren Auffassung die überwiegende Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gegenüber, wonach das auf ein Verschulden eines Beteiligten folgende Fehlverhalten von Gerichten oder Verwaltungsstellen dem Beteiligten nicht mehr zuzurechnen sei und daher zur Wiedereinsetzung führe. Ob dem BSG zu folgen sei, bedürfe keiner Entscheidung. Denn auch nach dessen Rechtsprechung ließen die Verhältnisse dieses Falles eine Wiedereinsetzung nicht zu. Ein pflichtwidriges Verhalten sei weder der Poststelle noch der Rechtsabteilung des Versorgungsamts vorzuwerfen. Die beim Geschäftsgang in der Rechtsabteilung „normale” Verzögerung müsse der Kläger hinnehmen. Maßgebend sei, daß damals auf Grund des beim Versorgungsamt vorhandenen Personals und seiner Organisation nicht damit zu rechnen gewesen sei, der am 21. Oktober 1976 eingegangene Schriftsatz würde bis zum 29. Oktober 1976 an das LSG weitergeleitet werden, und daß das Versorgungsamt nicht verpflichtet gewesen sei, seine Organisation zwecks schnellerer Weiterleitung von irrtümlich bei ihm abgegebenen Berufungsschriftsätzen umzustellen.
Mit seiner – vom erkennenden Senat durch Beschluß vom 6. Oktober 1977 zugelassenen – Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe gegen § 67 Abs. 1 SGG verstoßen, indem es die Berufung wegen der Fristversäumnis verworfen habe, statt dem Kläger im Hinblick auf die vom Versorgungsamt schuldhaft verzögerte Weiterleitung der richtig abdressierten Berufungsschrift Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Der Kläger beantragt,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Bremen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie meint, die Revisionsbegründung übertreibe die an die Organisation einer Behörde zu stellenden Anforderungen. Zum Geschehensablauf seit dem 21. Oktober 1976 trägt sie vor, es komme hier nur auf das Verhalten der Beklagten in der Zeitspanne von 8 Tagen bis zum Ablauf der Berufungsfrist am 29. Oktober 1976 an; daß die Beklagte anschließend noch weitere 10 Tage benötigt habe, um die Berufungsschrift des Klägers dem LSG zuzuleiten, sei für die Entscheidung bedeutungslos. Der Angestellte der Geschäftsstelle der Rechtsabteilung, der damals stark überlastet und mit seinen Arbeiten im Rückstand gewesen sei, habe den Irrläufer nicht bemerkt und deshalb – etwa 2 Wochen nach Eingang – das Original der Berufungsschrift in die Prozeßhandakte des Versorgungsamts eingeheftet; erst dem Leiter der Rechtsabteilung sei dann schließlich aufgefallen, daß das übliche vorgedruckte Begleitschreiben des LSG fehlte.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision hat insofern Erfolg, als der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist, weil dieses Gericht zu Unrecht die Berufung des Klägers wegen Frist Versäumnis verworfen hat; es hätte – unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – durch Sachurteil entscheiden müssen.
An der Einhaltung der mit dem 29. Oktober 1976 ablaufenden Berufungsfrist war der Kläger nicht völlig ohne eigenes Verschulden seines damaligen Prozeßbevollmächtigten (§ 73 Abs. 3 Satz 2 SGG) verhindert; denn dieser hatte 8 Tage vor Fristablauf den Berufungsschriftsatz versehentlich einer unzuständigen Behörde, nämlich dem Versorgungsamt Bremen, ausgehändigt. Dieses Fehl verhalten war jedoch – entgegen der Auffassung des LSG – nicht von ausschlaggebender Bedeutung für die Fristüberschreitung; bei einer nach den Umständen dieses Falles zu erwartenden Handlungsweise des Versorgungsamts hätte der Schriftsatz noch rechtzeitig zum LSG gelangen müssen, so daß damit die Folgen des dem Kläger zuzurechnenden Fehl Verhaltens ausgeglichen worden wären (vgl. BSGE 38, 248, 262).
Wie der erkennende Senat bereits im Zulassungsbeschluß vom 6. Oktober 1977 angedeutet hat, ist der hier zu beurteilende Sachverhalt durch Umstände gekennzeichnet, die einen solchen Verschuldensausgleich noch stärker rechtfertigen können als in den bisher vom BSG (vgl. BSGE 38, 248, 249 m.w. Nachw.; 10. Senat, Urteil vom 11. November 1976, ZfS 1977, 130) entschiedenen Fällen. Die angeführte Rechtsprechung betraf Rechtsmittelschriften, die infolge falscher Adressierung bei einer unzuständigen Stelle eingingen. Wenn der Rechtsmittelkläger sein Schreiben mit einer falschen Adresse versah, so bedeutet dies, daß er die ihm von der Vorinstanz erteilte Rechtsmittelbelehrung entweder gar nicht oder jedenfalls nicht mit der gehörigen Aufmerksamkeit gelesen hatte. Dies stellt schon einen beachtlichen Grad von Verschulden dar. Ein solches Verschulden war dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers nicht vorzuwerfen; er hatte die Berufungsschrift vom 19. Oktober 1976 ordnungsgemäß an das LSG Bremen adressiert, sie aber dann zwei Tage später, als er mehrere für verschiedene Empfänger in Bremen bestimmte Schriftstücke austrug, nicht beim LSG oder beim SG (§ 151 Abs. 2 SGG), sondern versehentlich in der Poststelle des Versorgungsamts abgeliefert. Hierbei handelte es sich um ein unbewußtes Fehlverhalten, wie es alltäglich jedem – in Gestalt von Vergreifen, Vergessen, Liegenlassen u. dgl. – zustoßen kann; mit einer auf Nichtbeachtung von rechtlichen Belehrungen beruhenden falschen Willensbildung hat solch ein Geschehnis nichts zu tun, deshalb ist der Verschuldensgrad hierbei erheblich geringer zu bewerten als in Fällen der ignorierten Rechtsmittelbelehrung.
Umgekehrt verhält es sich mit den Anforderungen, die jeweils an das pflichtgemäße Verhalten der unzuständigen Behörde bei der Weiterleitung einer irrtümlich an sie gelangten Rechtsmittelschrift zu stellen sind. In den bisher von der Rechtsprechung behandelten Fällen einer Fehladressierung erweckt die vom Absender verschuldete falsche Anschrift bei der empfangenden Dienststelle zunächst den Eindruck, der Absender wolle sich an sie wenden. Um den Inhalt seines Begehrens zu erkennen, muß sein Schreiben gelesen werden, was bei längerem Umfang eine „eingehende Durcharbeitung” (vgl. BSGE 38, 261) bedeuten kann; erst nach einer solchen – mehr oder minder zeitraubenden – Prozedur wird sich dann herausstellen, daß es sich in Wirklichkeit nicht um einen von der Dienststelle zu bearbeitenden Antrag, sondern um ein an das Gericht weiterzuleitendes Rechtsmittel handelt. Ist die Dienststelle stark überlastet, so kann eine zeitraubende Prüfung dieser Art. möglicherweise nicht schon am Eingangstag oder sofort danach erfolgen; ob freilich eine Verzögerung um 8 Tage hiermit noch zu rechtfertigen wäre, muß nach der Rechtsprechung (vgl. BSGE 38, 261) bezweifelt werden.
Ganz anders liegen die Dinge hier. Die Berufungsschrift war klar erkennbar an das LSG Bremen gerichtet, konnte also von vornherein nicht als ein dem Versorgungsamt unterbreitetes Anliegen aufgefaßt werden, welches – aufgrund fachkundiger inhaltlicher Prüfung – an das einschlägige Dezernat zu leiten gewesen wäre. Der irrige erste Anschein, der durch den Eingang bei der Poststelle des Versorgungsamts hervorgerufen wurde, konnte sich, wie die Beklagte selbst dargelegt hat, nur darauf beziehen, daß es sich um die vom LSG übersandte Abschrift der Berufungsschrift (§§ 153, 93, 104 SGG) handeln würde, die in die Prozeßhandakte des Versorgungsamts einzuheften war. Diesen Irrtum hat im vorliegenden Fall erst der Leiter der Rechtsabteilung aufgedeckt, als er das Begleitformular des LSG vermißte und sich deshalb mit der Geschäftsstelle des LSG in Verbindung setzte, nachdem inzwischen die Berufungsfrist abgelaufen war. So lange hätte es indessen bei einem ordnungsgemäßen Geschäftsgang im Versorgungsamt – dazu gehört auch eine hinreichende Instruktion und eine pflichtgemäße Aufmerksamkeit der in der Geschäftsstelle der Rechtsabteilung tätigen Angestellten – nicht dauern dürfen. Denn nicht allein wegen des fehlenden Begleitschreibens des LSG, sondern außerdem noch aus folgenden Gründen mußte schon auf den ersten Blick auffallen, daß es mit dem am 21. Oktober 1976 abgelieferten Schreiben des Reichsbundes seine besondere Bewandtnis hatte: 1) Das Schreiben datierte vom 19. Oktober 1976; es ist schwer vorstellbar, daß die Geschäftsstelle des LSG, hätte sie an diesem Tage diese Berufungsschrift erhalten, ihre vom Eingang an vorzunehmende Bearbeitung – Eintragung ins Register, Anforderung der Prozeßakten von der Geschäftsstelle des SG (§ 152 Abs. 1 SGG) – so zügig erledigt haben sollte, daß schon zwei Tage später die Abschrift des Berufungsschreibens bei der Beklagten eintreffen konnte. 2) Das Versorgungsamt erhielt nicht eine Abschrift, auch nicht etwa das Original der Berufungsschrift für sich allein, sondern – wie aus den Feststellungen des LSG hervorgeht – das Original nebst der Abschrift. 3) Auf diesen Schriftstücken fehlte der Eingangsstempel des LSG. – Bei dieser Häufung von vier leicht und schnell erkennbaren Merkmalen, die alle darauf hindeuteten, daß es sich nicht um den Routinevorgang des Empfangs einer Berufungsabschrift handelte, hätte schon die Geschäftsstelle der Rechtsabteilung sich nicht so verhalten dürfen, wie es geschehen ist; ob zu dem Fehlverhalten mangelnde Schulung oder zu geringe Aufmerksamkeit der dort tätigen Angestellten mehr beigetragen haben, kann auf sich beruhen; es kommt auch nicht darauf an, ob – wie die Beklagte vorträgt – der Eingang einer Rechtsmittelschrift als „Irrläufer” sehr selten (in Abständen von ein bis zwei Jahren) vorkommt.
Ausschlaggebend ist für den Senat, daß der Kläger, nachdem seinem Prozeßbevollmächtigten und Boten am 21. Oktober 1976 das Mißgeschick bei der Aushändigung der Berufungsschrift unterlaufen war, vom Versorgung samt erwarten konnte, diese Behörde werde das offensichtliche Versehen sogleich erkennen und innerhalb der noch 8 Tage währenden Berufungsfrist das Schriftstück an den richtigen Adressaten weiterleiten. Wenn diese Erwartung nicht erfüllt wurde, so ist dies nicht mehr dem Verschulden des Klägers zuzurechnen. Ihm kann deshalb die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht versagt werden.
Auf die begründete Revision muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden; da mangels ausreichender Feststellungen ein Urteil in der Sache selbst nicht in Betracht kommt, ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Revisionsverfahrens – nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen