Leitsatz (amtlich)
Kein Anspruch des Leistungsberechtigten gegen den Versicherungsträger auf Prozeßzinsen (Anschluß an BSG 1964-12-16 12 RJ 526/64 = SozR Nr 1 zu § 291 BGB).
Leitsatz (redaktionell)
1. Im sozialgerichtlichen Verfahren ist zwar die Parteivernehmung unzulässig, jedoch die Anhörung der Partei in dem durch den Sachverhalt gebotenen Umfang zulässig.
Der Begriff der "selbstgeschaffenen Gefahr" ist nur mit großer Vorsicht zu verwenden.
2. Die Wegstrecke, die der Verunglückte bei der Rückkehr vom Mittagessen öfter benutzte, war zwar nicht die kürzeste Verbindung zwischen Kantine und Bahnbetriebswerk, aber doch immerhin kürzer als die beiden erlaubten Wegstrecken. Sie kann als üblicher Weg angesehen werden.
3. Das zum Unfall führende Verhalten des Verunglückten war zwar unachtsam und leichtfertig, aber doch jedenfalls nicht in so hohem Maße unvernünftig und betriebsfremd, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit völlig in den Hintergrund gerückt würde.
Normenkette
BGB § 291 Fassung: 1896-08-18, § 288 Fassung: 1896-08-18; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 445; RVO § 543
Tenor
Soweit die Beklagte verurteilt worden ist, die dem Kläger zustehende Rente ab 1. Januar 1954 von der jeweiligen Fälligkeit an mit 4 v. H. zu verzinsen, wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. März 1964 aufgehoben; insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im übrigen wird die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. März 1964 zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger wurde am 30. Dezember 1945 auf Gleis 2 des Hauptbahnhofs Bremen von einem Güterzug erfaßt und verlor durch den Unfall den rechten Fuß. Die Beklagte lehnte seinen Entschädigungsanspruch ab; sie nahm an, der Kläger sei beim Betreten des Gleises nicht auf dem Weg zum Bahnbetriebswerk gewesen, wo er damals als Schlosser beschäftigt war, vielmehr habe er nach Zigarettenresten gesucht. Den Ablehnungsbescheid focht der Kläger erfolglos an (Urteil des Oberversicherungsamtes Hannover vom 19. April 1951). Seine weitere Berufung wurde vom Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen durch Urteil vom 26. September 1956 zurückgewiesen. Nach Aufhebung dieses Urteils und Zurückverweisung der Sache durch den erkennenden Senat (Urteil vom 29. Januar 1959 - 2 RU 267/56) wies das LSG die Berufung durch Urteil vom 15. Juni 1959 abermals zurück. Die erneute Zurückverweisung der Sache (Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1963 - 2 RU 220/59) hat zu dem Berufungsverfahren geführt, das der jetzt zu entscheidenden Revision zugrunde liegt. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des Verfahrensablaufes wird auf die Urteile des erkennenden Senats vom 29. Januar 1959 und 30. Oktober 1963 Bezug genommen.
In der erneuten Verhandlung am 9. März 1964 hat das LSG Niedersachsen - wie schon am 15. Juni 1959 - in Bremen Beweis erhoben durch Augenscheinseinnahme unter persönlicher Anhörung des Klägers sowie Vernehmung einiger Zeugen. Das LSG hat sodann die Beklagte verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des Unfalls vom 30. Dezember 1945 zu entschädigen und die ihm zustehende Rente ab 1. Januar 1954 von der jeweiligen Fälligkeit an mit 4 v. H. zu verzinsen: Der Klaganspruch sei gerechtfertigt, da sich der Kläger im Unfallzeitpunkt auf einem nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF versicherten Weg befunden habe. Infolge der unzulänglichen Ermittlungen durch die Beklagte gleich nach dem Unfall sei die Feststellung des Sachverhaltes jetzt, 19 Jahre nach dem Unfall, insofern schwierig, als die noch greifbaren Zeugen sich überhaupt nicht oder nur noch unvollkommen erinnern könnten. Man sei daher weitgehend auf die Angaben des Klägers angewiesen, dessen Erinnerungsvermögen auch nicht mehr ungetrübt sei; dennoch bestehe kein Anlaß, seinen Angaben zu mißtrauen; der Kläger habe sich bei mehrfachen Aussagen nicht in Widersprüche verwickelt, seine Darstellung werde zum Teil noch durch Zeugenbekundungen gestützt. Letzten Endes könne nur der Kläger selbst darüber Auskunft geben, zu welchem Zweck er sich damals in die Nähe des Gleises 2 begeben hatte. Insgesamt ergebe sich aus der Beweisaufnahme die Überzeugung, daß sich der Kläger im Unfallzeitpunkt bereits wieder auf dem Rückweg von der Betriebskantine zu seinem Arbeitsplatz befunden habe; dieser Weg sei nach dem Verlassen der Kantine auf dem Bahnsteig für einige Zeit unterbrochen, mit dem Hinabsteigen vom Bahnsteig aber wieder aufgenommen worden. Es sei unwahrscheinlich, daß der Kläger das Gleis 2 nur betreten habe, um dort während einer längeren Zeit Zigarettenreste aufzusammeln. In den wenigen Augenblicken bis zum Unfall habe er zu einer umfassenden, vielleicht mehrere Minuten dauernden Suche keine Zeit gehabt, es sei auch kein Anhalt dafür vorhanden, daß sich der Kläger - falls der Unfall nicht eingetreten wäre - länger auf dem Gleis aufgehalten hätte. Wenn aber der Kläger im Vorbeigehen auf Gleis 2 wirklich noch einige Zigarettenreste aufgelesen haben sollte, würde es sich nur um eine geringfügige, rechtlich nicht ins Gewicht fallende Unterbrechung gehandelt haben. Die gegen die klägerische Darstellung sprechenden Beweismittel, nämlich die Unfallanzeige und der Bericht des Bundesbahnamtmannes N, reichten zur Widerlegung nicht aus, da sie zu summarisch abgefaßt seien, um Schlüsse auf den wahren Sachverhalt zu gestatten.
Den Versicherungsschutz habe der Kläger nicht dadurch verloren, daß er einen bahnamtlich verbotenen und gefährlichen Weg benutzt habe, der noch dazu nicht die kürzeste Verbindung von der Kantine zum Arbeitsplatz gewesen sei. Die beiden dienstlich an sich vorgeschriebenen Wegstrecken durch Straßentunnel außerhalb des Bahnhofs seien noch länger gewesen als der im Unfallzeitpunkt beschrittene Weg über die Gleise, der Kläger habe unter den verschiedenen Wegen diesen auswählen können. Ausschlaggebend sei der Umstand, daß der Kläger wieder zu seinem Arbeitsplatz zurückkehren wollte. Der Gesichtspunkt der selbstgeschaffenen Gefahr trete demgegenüber zurück, obwohl im Verhalten des Klägers ein erhebliches Maß an Unachtsamkeit erkennbar werde; hierbei sei aber zu berücksichtigen, daß der Kläger glauben konnte, mit dem Bahnbetrieb vertraut zu sein, und daß er selbst so wie auch seine Arbeitskollegen fast täglich die Gleise zu überschreiten pflegten. Die Beklagte müsse hiernach den Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 30. Dezember 1945 entschädigen.
Der in der mündlichen Verhandlung neu gestellte Antrag auf Verzinsung der fällig gewordenen Rentenbeträge für die Zeit vom 1. Januar 1954 an sei als Erweiterung des ursprünglichen Klagantrages zulässig. Er sei auch in entsprechender Anwendung der §§ 291, 288 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) gerechtfertigt. § 291 BGB enthalte einen allgemeinen, auch im öffentlichen Recht geltenden Rechtsgedanken (LSG Nordrhein-Westfalen, Breithaupt 1963, 706; BVerwG 14, 1; Martens WzS 1962, 221; 1963, 135).
Die gegenteilige Auffassung (Hess. LSG, Sozialversicherung 1961, 58) überzeuge nicht.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 12. Mai 1964 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 1. Juni 1964 Revision eingelegt mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen. Am 27. Juni 1964 hat die Beklagte ihre Revision wie folgt begründet: Das LSG habe gegen § 118 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verstoßen. Nach dieser Vorschrift sei eine Parteivernehmung (§§ 445 bis 455 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit nicht statthaft. Die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils beruhten jedoch ausschließlich auf der Parteivernehmung des Klägers, die das LSG zu Unrecht als eine - nach §§ 106, 111, 112 Abs. 2 SGG zulässige - "Anhörung" bezeichnet habe. Die Anhörung eines Beteiligten dürfe nicht so weit gehen, daß sie zum ausschließlichen Beweismittel für seine von der Gegenseite bestrittenen Behauptungen gemacht werde; denn das würde auf eine Umgehung des Verbots der Parteivernehmung hinauslaufen. Die Zeugenbeweise seien demgegenüber vom LSG überhaupt nicht verwertet worden. Selbst bei einer entsprechenden Anwendung der zivilprozessualen Vorschriften wäre eine Parteivernehmung des Klägers zu seinen eigenen Behauptungen nur im Rahmen des § 448 ZPO zulässig gewesen, dessen Voraussetzungen jedoch hier nicht erfüllt gewesen seien.
Weiter macht die Revision geltend, das LSG habe die Grenzen des Beweiswürdigungsrechts überschritten. Durch die Unfallanzeige und die Bekundungen des Zeugen N sei der Beweis des ersten Anscheines für die Richtigkeit der von der Beklagten vertretenen Unfalldarstellung erbracht. Die Gründe des angefochtenen Urteils, die sich allein auf die Parteibehauptung des Klägers stützten, seien so wenig überzeugend, daß hieraus eine Verletzung des Rechts auf freie Beweiswürdigung abzuleiten sei.
Die Beklagte rügt ferner eine Verletzung des § 543 RVO aF. Das LSG habe nicht festgestellt, daß der vom Kläger gewählte Weg der regelmäßig benutzte und daher als üblich anzusehende gewesen sei, vielmehr erlaubten die Feststellungen nur den Schluß, daß der Kläger diesen Weg gelegentlich benutzt habe; schon aus diesem Grunde entfalle der Versicherungsschutz, der hier außerdem unter dem Gesichtspunkt der selbst geschaffenen Gefahr verneint werden müsse.
Schließlich meint die Beklagte, ihre Verurteilung zu 4 % Prozeßzinsen auf die dem Kläger zustehende Rente sei rechtswidrig. Im Bereich der RVO sei eine entsprechende Anwendung der §§ 291, 288 BGB unstatthaft (RVO AN 1939, 445 Nr. 5322).
Der Kläger beantragt Zurückweisung der Revision, er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Beklagten ist im wesentlichen unbegründet.
Zu Unrecht bemängelt die Revision die Art und Weise, in der das LSG die Aussagen des Klägers bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung verwertet hat. Daß eine Parteivernehmung wie im Zivilprozeß im Verfahren nach dem SGG nicht stattfinden darf (vgl. SozR ZPO § 445 Nr. 1, SGG § 103 Nr. 21), ist vom LSG nicht verkannt worden. Es hat sich jedoch veranlaßt gesehen, den Kläger persönlich anzuhören. Hierzu war es nach Lage des Falles verpflichtet, weil - wie schon der erkennende Senat im ersten Revisions-Urteil vom 29. Januar 1959 hervorgehoben hatte - aus den schriftlichen Unfallschilderungen (Unfallanzeige vom 31. Dezember 1945, Unfallbericht des Klägers vom 4. September 1946) allein keine einwandfreien Feststellungen über das zum Unfall führende Verhalten des Klägers zu gewinnen waren. Da kein einziger Augenzeuge des Unfalls vorhanden ist - jedenfalls hat die Beklagte seinerzeit keinen ermittelt -, verbleiben nur die Angaben des Klägers selbst als alleinige Erkenntnisquelle. Diese Angaben haben in der von Amtmann N aufgestellten Unfallanzeige einerseits und im Unfallbericht des Klägers andererseits zu verschiedenen Darstellungen des Unfallherganges geführt. Die Hauptaufgabe des Tatrichters bestand also in der Abwägung, welcher von diesen Darstellungen die größere Überzeugungskraft beizumessen ist. Da beide Darstellungen letztlich vom Kläger herrühren, war wiederum nur vom Kläger selbst - unter sorgsamer Prüfung seiner Glaubwürdigkeit - hierüber Aufschluß zu erlangen. In diesem Sinne hat das LSG seine Anhörung vorgenommen und bei der Überzeugungsbildung berücksichtigt, was nach Lage dieses Falles verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden ist (vgl. SozR SGG § 128 Nr. 56).
Dabei hat das LSG keineswegs die Zeugenaussagen - es handelt sich freilich im Hinblick auf das Unfallgeschehen nur um Zeugen vom Hörensagen - außer acht gelassen; vielmehr hat es sich mit dem Beweiswert der Aussagen des Bahnpersonals auseinandergesetzt und ist zu dem Schluß gelangt, diese Aussagen ließen erkennen, daß die bahnamtlichen Ermittlungen seinerzeit wenig sorgfältig durchgeführt wurden und sich niemand bemüht habe, den wahren Sachverhalt zu erforschen. Hiermit hat das LSG die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung nicht überschritten.
Auch der von der Revision gerügte Verstoß gegen § 543 RVO aF liegt nicht vor. Da das LSG festgestellt hat, daß der Kläger die Wegstrecke, auf der er am 30. Dezember 1945 verunglückt ist, bei der Rückkehr vom Mittagessen des öfteren benutzte und daß ferner diese Strecke zwar nicht die allerkürzeste Verbindung zwischen Kantine und Bahnbetriebswerk darstellte, aber doch immerhin noch kürzer war als die beiden erlaubten Wegstrecken außerhalb des Bahnhofs, bestehen keine rechtlichen Bedenken dagegen, daß das LSG hierin einen "üblichen" Weg erblickt hat, den der Kläger unter den mehreren möglichen Verbindungen wählen durfte, um wieder an seinen Arbeitsplatz zu gelangen.
Schließlich ist auch der von der Revision vorgetragene Gesichtspunkt der "selbst geschaffenen Gefahr" nicht geeignet, dem Kläger den Versicherungsschutz abzusprechen. Für diesen allgemein nur mit großer Vorsicht heranzuziehenden Begriff (vgl. z. B. BSG 6, 164, 169; 14, 64, 67; SozR RVO § 542 aF Nr. 53) finden sich hier keine hinreichenden Anknüpfungspunkte. Denn das zum Unfall führende Verhalten des Klägers ist zwar als unachtsam und ziemlich leichtsinnig, aber jedenfalls doch nicht in so hohem Maße als unvernünftig und betriebsfremd anzusehen, daß der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit völlig in den Hintergrund gerückt wird.
Die Revision ist also in der Hauptsache unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Soweit indessen die Beklagte sich gegen ihre Verurteilung zur Zahlung von Prozeßzinsen vom 1. Januar 1954 an wendet, ist ihre Revision begründet. Wie der 12. Senat des BSG in dem Urteil vom 16. Dezember 1964 (SozR BGB § 291 Nr. 1) eingehend dargelegt hat, ist in der Sozialversicherung ein Anspruch des Leistungsberechtigten gegen den Versicherungsträger auf Zahlung von Prozeßzinsen nicht begründet. Der erkennende Senat, der bereits in seinem Urteil vom 27. September 1957 (Breithaupt 1958, 725, 730) zur Frage der Verzugszinsen in der Sozialversicherung verneinend Stellung genommen hat, trägt keine Bedenken, sich dem vom 12. Senat des BSG vertretenen Standpunkt anzuschließen (vgl. auch BVerwG 15, 78, 84). Auch bei Abwägung der für die gegenteilige Ansicht vorgebrachten Argumente (vgl. letzthin SG Bremen, Breith. 1965, 71; Martens, WzS 1964, 293) erscheint es nicht vertretbar, im Bereich der Sozialversicherungsleistungen einen Zinsanspruch ohne ausdrückliche Regelung des Gesetzgebers anzuerkennen; denn im Hinblick auf die enge Wesensverwandtschaft zwischen Prozeßzinsen und Verzugszinsen könnten sich hieraus allzu weitreichende Auswirkungen ergeben. Bezüglich des Zinsanspruches ist demnach auf die in diesem Umfang begründete Revision der Beklagten das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen