Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Verweisung eines Vorarbeiters auf die Beschäftigung als Werkstattschreiber.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. April 1971 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit aus der Angestelltenversicherung (AnV) zusteht.
Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hat der 1914 geborene Kläger im Jahre 1932 die Gesellenprüfung als Schlosser abgelegt; bis Ende 1965 hat er in seinem erlernten Beruf als Facharbeiter (Maschinenschlosser, Anreißer und Vorarbeiter in der Gußputzerei) gearbeitet, seit 1956 bei der Firma B AG (BBC) in M. Aus gesundheitlichen Gründen, insbesondere wegen einer Hauterkrankung (dyshidrotisches Ekzem) ist er seit Anfang Januar 1966 bei dieser Firma als Werkstattschreiber beschäftigt. Als solcher gehört er der Lohngruppe K 2 an (monatlicher Tariflohn 858,- DM und widerrufliche Zulage von 150,- DM und Verheiratetenzulage von 20,- DM).
Im März 1969 beantragte der Kläger die Versichertenrente aus der AnV. Die Beklagte verneinte das Vorliegen von Berufsunfähigkeit und lehnte den Antrag durch Bescheid vom 14. August 1969 ab. Demgegenüber ist der Kläger der Ansicht, daß er als Facharbeiter berufsunfähig sei und auf die Tätigkeit als Werkstattschreiber, nicht zuletzt wegen der erheblichen Verdiensteinbuße, nicht verwiesen werden könne; der damit verbundene soziale Abstieg sei nicht zumutbar. Die beiden Vorinstanzen teilten die Auffassung des Klägers. Nach der Meinung des LSG ist für den Kläger als gelernten Facharbeiter die Verweisung auf die jetzt ausgeübte Tätigkeit als Werkstattschreiber nicht zumutbar, weil ihr gerade die Funktionen fehlen, die das soziale Ansehen als Vorarbeiter begründen (Urteil vom 15. April 1971).
Die Beklagte legte die vom LSG zugelassene Revision ein mit dem Antrag, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie rügt einen Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sowie eine Verletzung von § 23 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Gegen die vom LSG festgestellten medizinischen Befunde erhob die Beklagte keine Einwendungen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Bereits die von ihr nicht angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) reichen aus, bei dem Kläger das Vorliegen von Berufsunfähigkeit zu bejahen.
Nach § 23 Abs. 2 AVG kommt es für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers u. a. darauf an, welcher sein bisheriger Beruf gewesen ist und auf welche sonstige Tätigkeiten er verwiesen werden kann. Hierzu hat das LSG festgestellt, daß der Kläger nach Ablegung seiner Gesellenprüfung stets als Facharbeiter, zuletzt (bis Ende 1965) als Vorarbeiter beschäftigt gewesen ist. Dies ist sein "bisheriger Beruf" im Sinne des § 23 Abs. 2 AVG.
Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Kläger nicht mehr imstande, seinen bisherigen Beruf auszuüben. Das ist insbesondere auf sein Hautleiden zurückzuführen. Deshalb ist zu prüfen, ob er auf einen anderen Beruf verwiesen werden kann. Das hängt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. BSG 9, 254) davon ab,
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a) |
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ob seine Erwerbsfähigkeit in anderen Berufen mindestens die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten erreicht, |
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b) |
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ob die in anderen Berufen zu leistenden Tätigkeiten seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihn wissens- und könnensmäßig nicht überfordern und |
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c) |
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ob sie ihm auch subjektiv zugemutet werden können. |
Als Verweisungsberuf hat das LSG nur die Beschäftigung als Werkstattschreiber in Betracht gezogen. An der Ausübung dieser Tätigkeit ist der Kläger offensichtlich weder aus gesundheitlichen Gründen noch durch Mangel an Wissen und Können gehindert (b), was dadurch bestätigt wird, daß er diesen Beruf seit 1966 ausübt.
Auch ohne Berücksichtigung der ihm gewährten Zulagen erreicht er in diesem Beruf jedenfalls mehr als die Hälfte des Einkommens eines vergleichbaren gesunden Facharbeiters, wie das LSG zutreffend festgestellt hat (a). Die Beklagte macht allerdings geltend, das LSG habe insoweit "aus nicht ersichtlichen Gründen unterstellt, daß der Kläger in die Lohngruppe 11 eingestuft gewesen sei". Selbst wenn dem so wäre, könne für die Vergleichsperson des Klägers allenfalls von einem durchschnittlichen Tariflohn von ca 1.074,40 DM und nicht von monatlich 1.304,80 DM ausgegangen werden. Dieses Vorbringen der Beklagten kann jedoch auf sich beruhen; denn es ändert nichts daran, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers als Werkstattschreiber jedenfalls nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist (§ 23 Abs. 1 Satz 2 AVG).
Es kommt somit allein darauf an, ob die Beschäftigung des Klägers als Werkstattschreiber für ihn auch subjektiv zumutbar ist (c). Das ist in Übereinstimmung mit dem Urteil des LSG zu verneinen. Der Grund hierfür liegt vorwiegend in der verschiedenartigen Bewertung einer Beschäftigung als Vorarbeiter oder als Werkstattschreiber. Gewiß lassen sich diese beiden Tätigkeiten nur schlecht miteinander vergleichen; es ist auch nicht zu verkennen, daß von einem Werkstattschreiber in erhöhtem Maße Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit verlangt werden. Gleichwohl kann der Senat nicht der Meinung der Beklagten folgen, ein wertender Vergleich der beiden Tätigkeiten ergebe allenfalls einen gewissen, keinesfalls aber einen wesentlichen sozialen Abstieg.
Das LSG hat aus dem Beweisergebnis zu Recht gefolgert, daß die Tätigkeit eines Werkstattschreibers, auch wenn sie in die Lohngruppe K 2 eingestuft und in gewissem Umfang als Vertrauensstellung anzusehen ist, gegenüber der Tätigkeit als Vorarbeiter einen nicht zumutbaren sozialen Abstieg bedeutet. Dabei hat sich das LSG entgegen der Ansicht der Beklagten innerhalb der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung gehalten (§ 128 SGG). Ein darauf beruhender Verstoß gegen seine Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) ist nicht dargetan (§ 164 Abs. 2 SGG). Das LSG hat aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG und der allgemeinen Lebenserfahrung seine Schlußfolgerung gezogen, ohne dabei seinen Ermessensspielraum zu überschreiten oder von seiner Rechtsauffassung her zu weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen zu sein.
Die Einkünfte des Klägers in seiner jetzt ausgeübten Beschäftigung als Werkstattschreiber sind erheblich geringer als bisher. Daraus allein ist allerdings entgegen der Meinung des Klägers noch kein wesentlicher sozialer Abstieg herzuleiten. Zwar mag heute das gesellschaftliche Ansehen weitgehend von der Höhe des Einkommens bestimmt werden. Das ändert aber nichts daran, daß von Unzumutbarkeit eines anderen Berufes für den Versicherten nur dann gesprochen werden kann, wenn im neuen Beruf das Ausmaß der Einbuße in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht für ihn unzumutbar ist. Das folgt insbesondere daraus, daß das Gesetz einen spürbaren Verlust der Erwerbsfähigkeit, nämlich die Einbuße von mehr als der Hälfte des Einkommens eines vergleichbaren gesunden Versicherten fordert (vgl. SozR Nr. 92 zu § 1246 und die dort zitierte Rechtsprechung und Literatur). Eine derartige Einbuße wird jedoch - wie dargelegt - beim Kläger nicht erreicht.
Seine Verweisung auf die seit 1966 von ihm ausgeübte Beschäftigung als Werkstattschreiber ist gleichwohl nicht zumutbar. Zwar ist es grundsätzlich zulässig, einen gelernten Arbeiter auf einen Anlernberuf - für den eine ein- bis zweijährige Anlernzeit vorgeschrieben ist - zu verweisen. Um einen solchen Anlernberuf handelt es sich aber bei dem Werkstattschreiber nicht, auch wenn er - wie hier - in die Lohngruppe K 2 eingestuft ist. Für diese Tätigkeit wird eine kaufmännische oder handwerkliche Vorbildung in der Regel nicht vorausgesetzt. Ein Facharbeiter kann allerdings ausnahmsweise auch auf eine ungelernte Tätigkeit verwiesen werden; das setzt aber voraus, daß es sich um eine besondere aus dem Kreis der sonstigen ungelernten Tätigkeiten deutlich herausgehobene Tätigkeit handelt, etwa um eine besondere Vertrauensstellung oder eine besonders verantwortungsreiche Tätigkeit (BSG 19, 57, 60). Diese Voraussetzung erfüllt die Verweisungstätigkeit nicht. Gewiß darf die dem Versicherten zumutbare Tätigkeit nicht allein und nicht zu eng nach dem sogenannten Drei-Stufen-Schema (gelernt - angelernt - ungelernt) beurteilt werden (BSG 29, 96 sowie Urteil vom 16. März 1971 - 4 RJ 405/70). Die berufliche Ausbildung bleibt jedoch ein gewichtiges Kriterium. Hier kommt hinzu, daß der Kläger seit Abschluß seiner Lehre stets nur in seinem erlernten Beruf als Maschinenschlosser tätig gewesen, seine Berufsausübung mithin jahrzehntelang auf dem gleichen sozialen Niveau verlaufen ist. Dem entsprach seine tarifliche Einstufung, die ein wichtiges Indiz für die Bewertung eines Berufes im Betrieb ist. Die mit der Beschäftigung als Werkstattschreiber verbundene Einstufung in eine wesentlich geringere Lohngruppe bedeutet für den Kläger eine Abwärtsentwicklung, die im allgemeinen nicht zu dem Berufsbild des gelernten Maschinenschlossers paßt. Hinzu kommt, daß ein Versicherter, je länger er den durch Ausbildung und Beruf bisher erreichten sozialen Besitzstand gehalten hat, um so sicherer darin geschützt werden muß (BSG 17, 191, 194).
Unter diesen Umständen bedeutet für den Kläger die Beschäftigung als Werkstattschreiber einen wesentlichen sozialen Abstieg. Dabei kommt es weniger darauf an, ob sein sozialer Abstieg im Betrieb selbst empfunden wird, als vielmehr darauf, daß sein soziales Ansehen in den Augen der Umwelt schlechthin eine erhebliche Einbuße erleidet. Die heute festzustellende Tendenz einer zunehmenden Mobilität der Arbeitenden ändert daran nichts. Da hiernach dem Kläger die Beschäftigung als Werkstattschreiber nicht zumutbar ist, ist er berufsunfähig.
Die Revision der Beklagten muß deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen