Entscheidungsstichwort (Thema)
Bindung der Instanzgerichte. Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Das Gericht, an das eine Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde, ist an die rechtliche Beurteilung des im Rechtszug übergeordneten Gerichts nur insoweit gebunden, als dieses seine Rechtsauffassung für rechtsirrig erklärt und das angefochtene Urteil aufgehoben hat; im übrigen soll es in seiner Entscheidung frei sein (vgl BSG 1970-03-17 9 RV 328/68 = SozR Nr 13 zu § 170 SGG).
2. Entnimmt das Gericht einem medizinischen Gutachten Folgerungen, die in ihm nicht enthalten sind, so ist § 128 SGG verletzt.
Normenkette
SGG § 170 Abs. 5, §§ 128, 162 Abs. 1 Nr. 2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 22.07.1970) |
SG Reutlingen (Entscheidung vom 28.11.1965) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. Juli 1970 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger geriet am 28. März 1962 auf dem Bau mit der rechten Hand in die Kreissäge. Er zog sich Verletzungen am Daumen und Zeigefinger zu; dieser mußte im Grundgliedbereich abgesetzt werden.
Die Beklagte bewilligte ihm durch Bescheid vom 13. November 1962 vorläufige Rente von 20 v.H. der Vollrente. Durch Bescheid vom 23. Januar 1964, der am 29. Januar 1964 mittels eingeschriebenen Briefs zur Post gegeben wurde, versagte sie die Dauerrente und entzog die vorläufige Rente mit Ablauf des Monats Februar 1964, weil die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch Unfallfolgen um nur noch 15 v.H. gemindert sei.
Mit seiner hierauf beim Sozialgericht (SG) Reutlingen erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, er sei durch die Handverletzung in seinem beruflichen Fortkommen so beeinträchtigt, daß nach § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 v.H. zu schätzen sei.
In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 25. November 1965 hat die Beklagte sich bereit erklärt, unter Änderung ihres Bescheids vom 23. Januar 1964 dem Kläger Dauerrente nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit vom 1. März 1964 bis 31. März 1965 zu gewähren; im übrigen hat sie beantragt, die Klage abzuweisen. Für den Kläger war in der mündlichen Verhandlung dessen Vater erschienen.
Das SG hat durch Urteil vom 25. November 1965 die Beklagte unter Änderung ihres Bescheids vom 23. Januar 1964 "entsprechend ihrem Anerkenntnis" verurteilt, dem Kläger Dauerrente nach einer MdE um 20 v.H. für die Zeit vom 1. März 1964 bis 31. März 1965 zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen, weil die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO nicht gegeben seien.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 25. Oktober 1967 die Entscheidung des Erstgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Januar 1964 aufgehoben, weil dieser Bescheid nach § 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes am 1. Februar 1964 als zugestellt gelte und die Entziehung der vorläufigen Rente nach § 623 Abs. 2 RVO somit erst mit Ablauf des Monats März 1964 wirksam geworden, bereits vorher aber die vorläufige Rente wegen Ablaufs der 2-Jahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO zur Dauerrente geworden sei, so daß diese nur noch in jährlichen Abständen geändert werden dürfe.
Auf die - zugelassene - Revision der Beklagten hat der erkennende Senat durch Urteil vom 19. Dezember 1968 die Entscheidung des LSG aufgehoben und die Sache an dieses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung mit folgender Begründung zurückverwiesen: Der Bescheid vom 23. Januar 1964 sei dem Kläger innerhalb der 2-Jahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 1 RVO zugestellt und damit die Dauerrente - negativ - festgestellt worden. Dies habe die Umwandlung der vorläufigen Rente in eine Dauerrente kraft Gesetzes verhindert; die bisherige Rechtsprechung, auf die sich das Berufungsgericht gestützt habe (BSG 24, 36), sei aufgegeben worden (BSG 29, 73). Da sich die Beklagte während des Rechtsstreits zur Gewährung einer Dauerrente, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, bereit erklärt und der Kläger dieses Teilanerkenntnis angenommen habe, sei nur noch streitig, ob der Kläger über den 31. März 1965 hinaus Anspruch auf Dauerrente in Höhe der von ihm begehrten 20 v. H. der Vollrente habe. Insoweit fehle es jedoch an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen.
Durch Urteil vom 22. Juli 1970 hat das LSG unter Änderung der vorinstanzlichen Entscheidung und des Bescheids vom 23. Januar 1964 die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente von 20 v.H. der Vollrente über den 31. März 1965 hinaus zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Beklagte habe durch ihr Teilanerkenntnis - wenn auch nur für eine zurückliegende Zeit - den Anspruch des Klägers auf Rente über die 2-Jahresfrist des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO hinaus anerkannt. Dadurch sei die vorläufige Rente automatisch zur Dauerrente geworden. Es handele sich somit um einen Streit über die Entziehung einer Dauerrente. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 622 Abs. 1 RVO liege nicht vor. Auszugehen sei von dem Gutachten der Berufsgenossenschaftlichen Klinik Tübingen vom 15. Januar 1964, weil dieses der letzten bindend gewordenen Verwaltungsentscheidung, nämlich der aufgrund des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 25. November 1965 getroffenen Regelung zugrunde liege. Die Gutachter seien der Ansicht, daß die Unfallverletzungen weitgehend konsolidiert seien und eine weitere wesentliche Besserung nicht wahrscheinlich sei. Dies werde durch das vom SG eingeholte Gutachten des Facharztes für Orthopädie und orthop. Chirurgie Dr. H vom 19. Juli 1965 bewiesen. Dieser Sachverständige lege in seinem - im ersten Berufungsverfahren erstatteten - Gutachten vom 10. Oktober 1966 allerdings dar, daß gegenüber den im Gutachten vom 15. Januar 1964 erhobenen Untersuchungsbefunden bei einigen Unfallschäden eine gewisse Besserung jeweils leichterer Art festzustellen sei. Dadurch sei aber die Funktionstüchtigkeit der rechten Hand insgesamt entscheidend nicht verbessert worden. Daß in den Unfallfolgen keine wesentliche Besserung eingetreten sei, werde dadurch bestätigt, daß Dr. H in seinen beiden Gutachten die MdE durch Unfallfolgen auf 15 v.H. schätze, wie dies auch bereits im Gutachten vom 15. Januar 1964 geschehen sei.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und gerügt, daß das Verfahren des Berufungsgerichts in mehrfacher Hinsicht an Mängeln leide.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertretene Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist, obwohl das Berufungsgericht sie nicht zugelassen hat, nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Unzutreffend ist allerdings die Rüge, das LSG habe sich nicht an die rechtliche Beurteilung des erkennenden Senats im Urteil vom 19. Dezember 1968 gehalten und damit § 103 SGG verletzt. Sie stützt sich in Wirklichkeit auf die Verletzung des § 170 Abs. 4 SGG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (SozR Nr. 4, 10, 13 zu § 170 SGG) ist das Gericht, an das eine Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, an die rechtliche Beurteilung des im Rechtszug übergeordneten Gerichts nur insoweit gebunden, als dieses seine Rechtsauffassung für rechtsirrig erklärt und das angefochtene Urteil aufgehoben hat; im übrigen soll es in seiner Entscheidung frei sein. Der erkennende Senat hat das Urteil des LSG aufgehoben, weil er dessen sachlich-rechtlichen Ausgangspunkt nicht gebilligt und sich mangels tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts außerstande gesehen hat, zu entscheiden, ob der Kläger über den 31. März 1965 hinaus Anspruch auf Dauerrente in Höhe der von ihm begehrten 20 v.H. der Vollrente hat. Darüber, ob es sich hier um die erste Feststellung der Dauerrente oder, wie das LSG angenommen hat, um deren Entziehung handele, hat der erkennende Senat keine Entscheidung zu treffen brauchen; in dem einen wie dem anderen Fall hat es an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des LSG gefehlt.
Die Revision rügt ferner, daß die Auffassung des Berufungsgerichts, es habe zu entscheiden gehabt, ob eine Dauerrente habe entzogen werden dürfen, gegen die Denkgesetze verstoße. Dieser behauptete Verstoß betrifft indessen nicht das Verfahren des Berufungsgerichts.
Ihrer weiteren Rüge, es liege ein Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG vor, hat die Revision zutreffend (vgl. BSG 2, 84) die Auffassung des Berufungsgerichts zugrunde gelegt, es habe über eine Rentenentziehung zu entscheiden gehabt. Die Revision rügt mit Recht, daß das LSG aufgrund des Gutachtens Dr. H vom 10. Oktober 1966 nicht zu dem Ergebnis gelangen konnte, eine für eine Rentenentziehung maßgebliche wesentliche Änderung der Verhältnisse sei nicht gegeben. Das Berufungsgericht nimmt, insoweit dem Gutachter folgend, an, daß in mehrfacher Hinsicht eine gewisse Besserung jeweils leichterer Art vorliege. Diese Änderung der Verhältnisse hat es mit der nicht näher begründeten Erwägung als nicht wesentlich angesehen, daß durch sie die Funktionstüchtigkeit der rechten Hand entscheidend nicht verbessert worden sei. Dem Gutachten Dr. H konnte es, wie die Revision zutreffend rügt, diese Folgerung nicht entnehmen. Dieser Sachverständige hat bereits im Gutachten vom 19. Juli 1965 auf die Frage des SG, in welchem Maße der Kläger seit dem 1. April 1964 durch Unfallfolgen in der Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt sei, unter Hinweis darauf, daß die Kombination eines Daumen- und Zeigefingerschadens der Gebrauchshand zu bewerten und ein nahe an der Berentungsgrenze liegender Schaden vorhanden sei, ausgeführt, daß die Kraftentfaltung beim Faustschluß und beim Gegendruck ganz ordentlich ausgeübt werden könne und die Muskulatur des rechten Unterarms nicht verschmächtigt sei. Im Gutachten vom 10. Oktober 1966 hat er dargetan, daß im Vergleich zu den im Gutachten vom 15. Oktober 1964 niedergelegten Untersuchungsbefunden eine Besserung vorliege, welche zwar nicht einem MdE-Grad von 10 v.H. entspreche, dies jedoch "in diesem Fall, wo es sich um Grenzwerte handelt, ohne Bedeutung" sei. Das LSG hatte im Gutachterauftrag den Sachverständigen ua auf folgendes hingewiesen: "In der Regel ist eine Änderung der Verhältnisse nur wesentlich, wenn die Befundbesserung die Festsetzung einer um 10 v.H. niedrigeren MdE rechtfertigt. Im vorstehenden Fall müßte von einer wesentlichen Befundbesserung schon dann ausgegangen werden, wenn wegen einer festgestellten Änderung die Festsetzung einer MdE unter 20 v.H. nur mehr gerechtfertigt wäre". Unter diesen Umständen hat die Revision die weitere Begründung des LSG, seine Auffassung, daß in den Unfallfolgen keine wesentliche Besserung eingetreten sei, werde dadurch bestätigt, daß Dr. Heber nach wie vor die auf Unfallfolgen zurückzuführende MdE auf 15 v.H. schätze, mit Recht als mit dem Inhalt dieses Gutachtens nicht vereinbar bezeichnet. Unter Beachtung jenes ihm vom Berufungsgericht erteilten Hinweises hat Dr. H nämlich ausgeführt: "Wenn also wirklich die Notwendigkeit zu einer Besserungsobjektivierung vorliegt, um die Erwerbsminderung, wie einheitlich in beiden Gutachten getan, auf 15 v.H. festzulegen, so sind die Voraussetzungen dafür erfüllt". Diesem Standpunkt des Gutachters kommt somit eine andere Bedeutung zu als dem in dem vorher erstatteten Gutachten dieses Sachverständigen, obwohl er auch seinerzeit die MdE mit 15 v.H. bewertet hatte; für den Gutachter war ersichtlich von Bedeutung, daß die Beklagte, nachdem er sein erstes Gutachten erstattet hatte, sich zeitlich befristet zur Gewährung von Rente von 20 v.H. der Vollrente bereit erklärt hatte.
Der Schlußfolgerung des Berufungsgerichts, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei nicht eingetreten, liegen somit tatsächliche Feststellungen zugrunde, die, wie die Revision mit Recht rügt, unter Verstoß gegen § 128 SGG zustande gekommen sind. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Sie ist auch begründet.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich in der vorliegenden Sache nicht um die Neufeststellung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse. Die Beklagte hat im Bescheid vom 23. Januar 1964 die bisher gewährte vorläufige Rente eingestellt und zugleich - negativ - die erste Dauerrente festgestellt (§ 1585 Abs. 2 RVO). Darüber, ob sie die Dauerrente zu Recht versagt hat, wird der gegenwärtige Rechtsstreit geführt. Die Feststellung der ersten Dauerrente setzt eine Änderung der Verhältnisse nicht voraus (§ 1585 Abs. 2 Satz 2 RVO). Allein aus dem Grund, weil die Beklagte im Laufe des Rechtsstreits den erhobenen Anspruch für eine begrenzte, in der Vergangenheit liegende Zeit anerkannt und der Kläger dieses Anerkenntnis angenommen hat, hat sich der Streitgegenstand nicht geändert. Ungeachtet dessen, ob - wie das LSG annimmt - das Teilanerkenntnis der Beklagten einem Bescheid gleichzuerachten ist, ist dadurch der im Streit befangene Bescheid nur teilweise geändert worden, dieser somit weiterhin Gegenstand des Rechtsstreits geblieben, soweit er vom 1. April 1965 an die Gewährung einer Dauerrente ablehnt. Streitig ist daher nach wie vor die Gewährung einer ersten Dauerrente und nicht deren Entziehung, so daß es auf § 622 Abs. 1 RVO nicht ankommt (vgl. SozR Nr. 9 zu § 622 RVO).
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt somit davon ab, ob der Kläger vom 1. April 1965 an in der Erwerbsfähigkeit in rentenberechtigendem Grad gemindert ist. Zur Beurteilung dieser Frage hat das Berufungsgericht, wie es am Schluß seines Urteils selbst betont, keine erschöpfenden tatsächlichen Feststellungen getroffen; von seinem Rechtsstandpunkt aus hat es diese auch nicht zu treffen brauchen.
Deshalb war unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.
Fundstellen