Leitsatz (amtlich)

Nach SGG § 55 Abs 2 ist nicht die Feststellung zulässig, das (nachentrichtete) Beiträge eine "Vorversicherungszeit" iS des AVG § 28 Abs 2 S 1 (RVO § 1251 Abs 2 S 1) begründen.

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; SGG § 55 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 9. Mai 1972 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 26. Juli 1971 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob Beiträge, die die Klägerin aufgrund des Art. 2 § 27 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) idF des Art. 2 § 2 Nr. 6 des 3. Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 28. Juli 1969 (BGBl I, 956) nachentrichtet hat, als Vorversicherung die Anrechnung einer Ersatzzeit ermöglichen und die Beklagte deshalb verpflichtet ist, schon vor Eintritt des Versicherungsfalles die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit anzuerkennen.

Die 1907 geborene Klägerin war von 1923 bis 1936 in ihrer ostpreußischen Heimat versicherungspflichtig beschäftigt. Bei ihrer anschließenden Heirat ließ sie sich die Hälfte der entrichteten Beiträge erstatten. 1960 nahm sie in der Bundesrepublik wieder eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung auf. Die Zeit ihrer Flucht und Internierung (Vertreibung) vom 1. Januar 1945 bis 20. November 1947 wurde in ihrer Versicherungskarte Nr. 4 als Ersatzzeit eingetragen. 1969/1970 begehrte die Klägerin u. a. Auskunft darüber, ob diese Zeit als Ersatzzeit angerechnet werde, wenn eine "Wiedereinzahlung" von erstatteten Beiträgen erfolge. Die Beklagte antwortete im Bescheid vom 23. März 1970, daß erstattete Beiträge nicht "wiedereingezahlt" werden könnten; die Klägerin habe nur das Recht, freiwillige Beiträge nachzuentrichten, was nicht bewirke, daß Ersatz- und Ausfallzeiten anrechenbar würden. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Bescheid vom 28. Mai 1970 zurückgewiesen.

Während des folgenden Klageverfahrens entrichtete die Klägerin am 16. März 1971 Beiträge für die Zeit von Januar 1924 bis Januar 1927 nach. Sie beantragte vor dem Sozialgericht (SG), die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. Januar 1945 bis 20. November 1947 "als bei Eintritt des Versicherungsfalles anrechenbare Ersatzzeit anzuerkennen". Das SG Hamburg hielt die Klage als Anfechtungs- und Verpflichtungsklage für zulässig, wies sie jedoch mit Urteil vom 26. Juli 1971 als unbegründet ab. Das Landessozialgericht (LSG) hob dieses Urteil und die angefochtenen Bescheide auf. Entsprechend dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag der Klägerin stellte das LSG fest, daß die nachentrichteten Beiträge "eine Vorversicherungszeit i. S. des § 28 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) sind". Nach seiner Meinung betrifft das Klagebegehren die nach § 55 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Feststellung, in welchem Umfang Beiträge zu berechnen oder anzurechnen sind; zum Umfang der Anrechnung von Beiträgen gehöre auch deren Eigenschaft, eine Vorversicherung i. S. des § 28 Abs. 2 AVG zu begründen. Die Klage sei auch begründet, denn es sei Sinn und Zweck des Art. 2 § 27 AnVNG, einer wieder versicherungspflichtig tätig gewordenen Versicherten die Möglichkeit zu geben, ihren Rentenstatus durch die Nachentrichtung so zu verbessern, als sei keine Beitragserstattung erfolgt.

Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Sie rügt eine Verletzung materiellen Rechts; weder nach dem Wortlaut noch nach der Entstehungsgeschichte des Art. 2 § 27 AnVNG sollten die nachentrichteten Beiträge als zu einer früheren Zeit entrichtet gelten.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist dem Antrag nach begründet. Ihr ist stattzugeben, ohne daß der Senat auf die sachlich-rechtlichen Rügen der Beklagten eingehen kann. Das LSG durfte nicht in der Sache entscheiden; es mußte die Berufung zurückweisen, weil die Klage unzulässig ist. Die Zulässigkeit der Klage ist eine unverzichtbare Prozeßvoraussetzung; sie ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen, also unabhängig von der - hier fehlenden - Rüge der Beklagten zu prüfen.

Das LSG hat richtig erkannt, daß die Klägerin mit einem Klageantrag, wie sie ihn vor dem SG gestellt hat, hinsichtlich ihres Begehrens eine sachliche Entscheidung nicht erreichen konnte; es gibt keine gesetzliche Verpflichtung für die Beklagte, die Anrechenbarkeit einer Ersatzzeit schon im voraus für künftige Versicherungsfälle anzuerkennen; das Gegenteil läßt sich auch aus der Entscheidung des Senats in BSG 31, 226 (= SozR Nr. 1 zu § 1412 RVO) nicht herleiten. Es kam deshalb allenfalls in Betracht, die Klage als Feststellungsklage zu verstehen, wie es das LSG getan hat. Entgegen der Auffassung des LSG ist jedoch auch eine Feststellungsklage i. S. des von der Klägerin nunmehr gestellten Antrages unzulässig.

Zutreffend hat das LSG angenommen, daß das Begehren der Klägerin nicht die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG betrifft. Der von der Klägerin geltend gemachte prozessuale Anspruch betrifft ausschließlich die künftige Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten; denn eine sogenannte "Vorversicherungszeit" hat als solche keine rechtliche Bedeutung, sie kann erst für die Anrechnung von Ersatzzeiten rechtserheblich werden. Die Klägerin will sichergestellt wissen, daß die in ihrer Versicherungskarte eingetragene Zeit vom 1. Januar 1945 bis 20. November 1947 bei Eintritt des Versicherungsfalles für die Erfüllung der Wartezeit und bei der Rentenberechnung als Ersatzzeit angerechnet wird. Es handelt sich mithin lediglich um die Klärung eines Tatbestandsmerkmales des § 28 AVG; die Beteiligten streiten allein um eine Teilvoraussetzung (Vorfrage und Berechnungsfaktor) der der Klägerin bei Eintritt eines Versicherungsfalles möglicherweise zu gewährenden Rente. Wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat (BSG 4, 184), können aber bloße Rechtsfragen und die einzelnen Faktoren, die für eine möglicherweise später einmal zu zahlende Rente von Bedeutung sind, nicht Gegenstand einer Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG sein. Von dieser Rechtsauffassung abzuweichen besteht für den Senat kein Anlaß.

Das LSG hält die von der Klägerin gewünschte Feststellung jedoch nach § 55 Abs. 2 SGG für möglich. Dem kann nicht gefolgt werden. Nach § 55 Abs. 2 SGG ist auch die Feststellung zulässig, in welchem Umfang Beiträge zu berechnen oder anzurechnen sind. Der Senat kann dahingestellt lassen, ob hiernach auch Feststellungen über Verhältnisse getroffen werden können, die keine Rechtsverhältnisse i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG sind; schon der Wortlaut des § 55 Abs. 2 SGG: "Unter Absatz 1 Nummer 1 fällt auch die Feststellung, ...", läßt das zweifelhaft erscheinen. Selbst wenn jedoch § 55 Abs. 2 SGG insoweit selbständige Bedeutung hätte, wäre er nicht anwendbar; denn entgegen der Auffassung des LSG streiten die Beteiligten hier nicht um die Berechnung oder Anrechnung von Beiträgen. Zum Umfang der Anrechnung von Beiträgen gehört nicht jede Auswirkung von Beiträgen auf die Anrechnung anderer Zeiten; streitig müßte vielmehr die Anrechnung der Beiträge selbst sein. Daß die von der Klägerin nachentrichteten Beiträge wirksam entrichtet worden und deshalb auch anzurechnen sind, hat die Beklagte jedoch niemals bestritten.

Da somit eine Feststellungsklage schon aus den genannten Gründen nicht zulässig ist, kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin überhaupt noch ein berechtigtes Interesse an der begehrten Feststellung hat; das ist insbesondere deshalb zweifelhaft, weil sie vor dem LSG einen Antrag auf Gewährung von Altersruhegeld angekündigt hatte, so daß die Streitfrage nunmehr in diesem Verfahren und einer gegebenenfalls folgenden Klage geklärt werden könnte.

Auch soweit die Klage als Anfechtungsklage sich gegen die Bescheide vom 23. März und 28. Mai 1970 richtet, ist sie unzulässig. Die Klägerin wendet sich lediglich gegen eine Auskunft der Beklagten über die Frage einer künftigen Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten. Die Bescheide lassen nicht erkennen, daß die Beklagte ihrer darin geäußerten Ansicht Verbindlichkeit zukommen lassen wollte; sie hat insoweit in den Bescheiden keine Regelung getroffen. Eine Anfechtungsklage ist somit mangels Vorliegens von Verwaltungsakten unzulässig.

Da die Klage nach alledem insgesamt nicht zulässig ist, war den Vorinstanzen eine sachlich-rechtliche Prüfung verwehrt; sie hätten die Klage als unzulässig abweisen müssen. Die Revision der Beklagten muß deshalb insofern Erfolg haben, als das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das sozialgerichtliche Urteil zurückzuweisen ist; dabei ist klarzustellen, daß es sich bei der ausgesprochenen Abweisung der Klage nicht um eine sachlich-rechtliche, sondern um eine prozeßrechtliche Entscheidung handelt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669147

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