Leitsatz (amtlich)
Die in AVG § 28 Abs 1 Nr 6 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 6) aufgeführten Zeiten werden als Ersatzzeiten nicht dadurch anrechenbar, daß aufgrund AnVNG Art 2 § 27 (= ArVNG Art 2 § 28) Beiträge für Zeiten bis zum 1924-01-01 zurück nachentrichtet werden.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 6 Fassung: 1965-06-09; AnVNG Art. 2 § 27 Abs. 1 Fassung: 1969-07-28; ArVNG Art. 2 § 28 Abs. 1 Fassung: 1969-07-28
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. März 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des der Klägerin gewährten Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres streitig. Dabei geht es darum, ob die von ihr gemäß Art. 2 § 27 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) in der Fassung des Art. 2 § 2 Nr. 6 des Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 28. Juli 1969 (BGBl I 956) - 3. RVÄndG - nachentrichteten freiwilligen Beiträge eine Vorversicherungszeit im Sinne des § 28 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) begründen und demzufolge die in der Versicherungskarte Nr. 4 der Klägerin als Ersatzzeit eingetragene Zeit der Flucht und Internierung (Vertreibung) vom 1. Januar 1945 bis 20. November 1947 rentensteigernd zu berücksichtigen ist.
Die im März 1907 geborene Klägerin war von 1923 bis 1936 in ihrer ostpreußischen Heimat versicherungspflichtig beschäftigt. Anläßlich ihrer anschließenden Heirat ließ sie sich die Hälfte der entrichteten Beiträge erstatten. Im Jahre 1960 nahm sie wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. Am 16. März 1971 entrichtete sie gemäß Art. 2 § 27 AnVNG Beiträge für die Zeit von Januar 1924 bis Januar 1927 nach.
Bereits zum Zeitpunkt der Nachentrichtung hatten die Beteiligten einen Rechtsstreit darüber geführt, ob die nachentrichteten Beiträge als Vorversicherung eine rentensteigernde Anrechnung der Vertreibungszeit ermöglichen. Das Landessozialgericht (LSG) hatte dies in dem früheren Rechtsstreit bejaht (Urteil vom 9. Mai 1972 - IV ANBf 66/71 -). Das Bundessozialgericht (BSG) hatte die Entscheidung des LSG aufgehoben und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen, weil die Klage unzulässig gewesen sei und die Vorinstanzen deshalb eine sachlich-rechtliche Entscheidung nicht hätten treffen dürfen (Urteil vom 25. Mai 1973 - 11 RA 159/72 -). Mit Bescheid vom 16. Oktober 1972 bewilligte die Beklagte der Klägerin ein Altersruhegeld vom 1. April 1972 an und wies dabei darauf hin, daß die "strittige Ersatzzeit" im Hinblick auf das anhängige Revisionsverfahren und die noch ungeklärte Rechtslage nicht angerechnet werden könne. Nach Abschluß des Revisionsverfahrens erließ die Beklagte sodann am 13. Mai 1974 einen weiteren Bescheid, mit dem sie den Rentenbescheid ergänzte und eine Berücksichtigung der Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 20. November 1947 mangels einer Vorversicherungszeit im Sinne des § 28 Abs. 2 AVG ablehnte.
Die hiergegen erhobene Klage blieb in den Vorinstanzen ohne Erfolg. Das LSG wies die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) im wesentlichen mit folgender Begründung zurück: Der Bescheid vom 13. Mai 1974 sei kein "negativer Zugunstenbescheid" nach § 79 AVG, sondern ein Zweitbescheid, der ohne Vorverfahren mit der Klage habe angefochten werden können. In diesem Bescheid sei die begehrte Anrechnung der streitigen Ersatzzeit zu Recht abgelehnt worden, weil aufgrund nachentrichteter Beiträge gemäß Art. 2 § 27 AnVNG eine gültige Vorversicherung nicht entstehe. Die gesetzliche Regelung entspreche dem im Recht der Rentenversicherung geltenden Grundsatz, daß eine Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit vor Beginn einer Ersatzzeit ein Versicherungsverhältnis mit dem Recht auf Anrechnung von Ersatzzeiten nicht zu begründen geeignet sei. Dies habe das BSG für die Fälle der gemäß Art. 2 § 50 AnVNG nachentrichteten Beiträge bereits entschieden (u. a. Hinweis auf BSG 36, 32). Für die rechtssystematisch dieser Vorschrift ähnliche Regelung des Art. 2 § 27 AnVNG gelte nichts anderes (Hinweis auf BSG 36, 191, 194). Es bestehe kein Anhalt dafür, daß der Gesetzgeber die mit der Beitragserstattung verbundene Verfallswirkung bei der Einführung des Art. 2 § 27 AnVNG habe beseitigen wollen. Ihm könne nicht der Wille unterstellt werden, durch Nachentrichtung möglicherweise nur eines einzigen Beitrags die Anrechnung von - unter Umständen mehrjährigen - Ersatzzeiten zu eröffnen (Urteil vom 14. März 1975).
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.
Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 2 AVG.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des SG Hamburg vom 7. August 1974 aufzuheben und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 16. Oktober 1972 in der Fassung des Bescheides vom 13. Mai 1974 zu verpflichten, die Ersatzzeit vom 1. Januar 1945 bis zum 20. November 1947 als Versicherungszeit rentensteigernd zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Das LSG ist ohne Rechtsfehler davon ausgegangen, daß der mit der Klage angefochtene Bescheid vom 13. Mai 1974 als sogenannter Zweitbescheid zu werten ist, durch den die Bindungswirkung des Rentenbescheids vom 16. Oktober 1972 insoweit beseitigt wurde, als dieser die bei der Rentenberechnung unberücksichtigt gebliebene Ersatzzeit betrifft. Die Beurteilung eines Verwaltungsaktes als Zweitbescheid richtet sich stets nach den Umständen des Einzelfalles, wobei naturgemäß dem Inhalt des Bescheides selbst eine besondere Bedeutung zukommt (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 40 VerwVG mit weiterem Nachweis). Mit dem Bescheid vom 13. Mai 1974 entsprach die Beklagte dem Begehren der Klägerin in den Schreiben vom 20. Dezember 1973 und 6. Februar 1974 auf "Erteilung eines neuen klagefähigen Bescheides", nachdem die Beteiligten bei Erteilung des Rentenbescheides vom 16. Oktober 1972 angenommen hatten, das BSG werde in dem damals noch anhängigen Revisionsverfahren des Vorprozesses über die Anrechnungsfähigkeit der Ersatzzeit sachlich entscheiden. Der weitere Bescheid vom 13. Mai 1974 erging deshalb ausdrücklich in Ergänzung des Bescheides vom 16. Oktober 1972 und wurde erneut mit der Klageklausel versehen. Aus diesen Umständen erhellt, daß die Beklagte mit dem Ergänzungsbescheid einen neuen Verwaltungsakt erlassen hat, um in zulässiger Weise den Rechtsweg zu eröffnen und die Rechtmäßigkeit der von ihr bereits im ursprünglichen Rentenbescheid ausgesprochenen Rechtsfolge - Nichtanrechnung der geltend gemachten Ersatzzeit - der sozialgerichtlichen Nachprüfung zuzuführen (vgl. BSG in SozR Nr. 35 zu § 77 SGG).
Insoweit hat das LSG zu Recht entschieden, daß die Ersatzzeit von Januar 1945 bis November 1947 auf das der Klägerin gewährte Altersruhegeld nicht rentensteigernd angerechnet werden kann, weil hierfür die in § 28 Abs. 2 Satz 2 AVG genannten besonderen Voraussetzungen nicht vorliegen und die somit nach § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG erforderliche Vorversicherungszeit ebenfalls fehlt. Eine solche können die vor dem Beginn der Ersatzzeit entrichteten Pflichtbeiträge nicht begründen. Alle Ansprüche hieraus sind durch die im Jahre 1936 erfolgte Beitragserstattung erloschen (vgl. § 47 AVG in der damals gültigen Fassung). Die Beitragserstattung beseitigte somit rückwirkend das Versicherungsverhältnis mit all seinen Rechtsfolgen (vgl. BSG 22, 246, 249).
Aber auch die von der Klägerin gemäß Art. 2 § 27 AnVNG für die Zeit von Januar 1924 bis Januar 1927 nachentrichteten Beiträge kommen für eine Vorversicherungszeit im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG nicht in Betracht. Die gegenteilige Auffassung der Revision übersieht, daß die für Zeiten vor der Ersatzzeit nachentrichteten Beiträge nur dann als vorhergehende Versicherungszeit im Sinne des § 28 Abs. 2 AVG gelten können, wenn ihnen das Gesetz ausdrücklich die Eigenschaft rechtzeitig entrichteter Beiträge zugesteht. Dies ist beispielsweise gemäß § 124 Abs. 4 AVG bei der Nachversicherung im Sinne des § 9 AVG, gemäß Art. 2 § 5 a Abs. 2 AnVNG bei der Wiedereinzahlung der aufgrund des § 82 Abs. 1 AVG erstatteten Beiträge und gemäß den §§ 8 Abs. 1 Satz 3, 10 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) bei der besonderen Berechtigung zur Beitragsnachentrichtung für Verfolgte jeweils der Fall. Dagegen fehlt eine vergleichsweise Regelung für die Beitragsnachentrichtungen nach Art. 2 §§ 27, 50 AnVNG. Nicht zuletzt deshalb hat das BSG im Urteil vom 25. Mai 1973 - 11 RA 236/72 - (BSG 36, 32, 34) entschieden, daß eine Ersatzzeit nicht dadurch anrechenbar wird, daß später Beiträge aufgrund des Art. 2 § 50 AnVNG für Zeiten vor dem Beginn der Ersatzzeit nachentrichtet werden. Gleiches hat der erkennende Senat - wenngleich in anderem Zusammenhang - bereits im Urteil vom 3. Oktober 1973 - 1 RA 57/73 - (BSG 36, 191, 194) auch für die Nachentrichtung gemäß Art. 2 § 27 AnVNG ausgesprochen und sich hierbei primär auf die gegenüber § 8 WGSVG unterschiedliche gesetzliche Regelung gestützt. Danach kann die hier vorliegende Beitragsnachentrichtung nach Art. 2 § 27 AnVNG nicht die Wirkung einer Vorversicherung im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG haben (ebenso Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl., Anm. 8 zu Art. 2 § 27 AnVNG; Koch/Hartmann/v. Altrock/Fürst, Das Angestelltenversicherungsgesetz, Kommentar, Band IV, Anm. C II 1 zu § 28 AVG; vgl. auch Pappai in BABl 1969, 481 f).
Das Vorbringen der Revision rechtfertigt keine davon abweichende Entscheidung. Dies gilt gerade bezüglich des Hinweises auf die Motivation des Gesetzgebers. Die Neufassung des Art. 2 § 27 AnVNG geht auf einen Antrag des Ausschusses für Sozialpolitik des Deutschen Bundestages zurück, der im Schriftlichen Bericht vom 29. Juni 1969 (zu BT-Drucks. V/4474, S. 7) wie folgt begründet worden ist:
"Durch das Finanzänderungsgesetz 1967 ist die Möglichkeit der Beitragserstattung bei Heirat für weibliche Versicherte beseitigt worden. Der Ausschuß war der Meinung, daß aus der Entscheidung des Gesetzgebers auch für die Vergangenheit gewisse Konsequenzen gezogen werden sollten. Er hat deshalb beschlossen, den weiblichen Versicherten, die sich in der Vergangenheit anläßlich einer Heirat Beiträge haben erstatten lassen, die Möglichkeit einzuräumen, freiwillige Beiträge bis zum 1. Januar 1924 nachzuentrichten. Den Frauen soll freistehen, Zahl und Höhe der nachzuentrichtenden Beiträge selbst zu bestimmen.
Das Recht der Nachentrichtung besteht nur, wenn nach der Beitragserstattung während mindestens 24. Kalendermonaten für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung Beiträge entrichtet worden sind und die Frau zum Zeitpunkt der Nachentrichtung eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausübt."
Anders als bei den in den §§ 8, 10 WGSVG getroffenen Regelungen, die - u. a. - ermöglichen sollen, durch Beitragsnachentrichtungen bisher versicherungsrechtlich irrelevante Verfolgungszeiten zu anrechenbaren Ersatzzeiten zu machen (so ausdrücklich Begründung zum Regierungsentwurf, BT-Drucks. VI/715 S. 10), läßt sich eine derartig weitgehende Absicht weder der zitierten maßgeblichen Überlegung des Gesetzgebers, "gewisse Konsequenzen" aus der Beseitigung der Beitragserstattung bei Heirat zu ziehen, noch der auf dieser Motivation beruhenden Neufassung des Art. 2 § 27 AnVNG durch das 3. RVÄndG entnehmen.
Nach alledem muß der Revision der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen