Leitsatz (amtlich)
Eine Wehrdienstzeit wird nicht als Ersatzzeit dadurch anrechenbar, daß später Beiträge aufgrund des AnVNG Art 2 § 50 für Zeiten vor der Wehrdienstzeit nachentrichtet werden.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1418 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09, Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 140 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 52 Fassung: 1969-07-28; AnVNG Art. 2 § 50 Fassung: 1969-07-28
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Sozialgerichts Düsseldorf vom 12. Januar 1972 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. September 1972 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind im Rechtsstreit nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger eine Ersatzzeit anzurechnen und infolgedessen höheres Altersruhegeld zu gewähren ist.
Der Kläger ist Vertriebener. Er war vor dem 2. Weltkrieg in Ostpreußen als selbständiger Landwirt erwerbstätig. Vom 3. Januar bis 29. Februar 1936, vom 24. Oktober 1938 bis 21. Januar 1939 und wieder vom 2. September 1939 an leistete er Wehrdienst. Am 19. Februar 1948 wurde er aus Gefangenschaft entlassen. Seit dem 17. März 1948 war der Kläger in der Angestelltenversicherung pflichtversichert. In den Jahren 1968 bis 1970 entrichtete er aufgrund des Art. 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) Beiträge u. a. für die Zeit von August 1931 bis Dezember 1935 nach.
Die Beklagte hat es in dem Rentenbescheid vom 7. September 1970 abgelehnt, die (erste) Wehrdienstzeit vom 3. Januar bis 29. Februar 1936 als Ersatzzeit anzurechnen, weil die Anrechnungsvoraussetzungen des § 28 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) nicht gegeben seien. Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) halten die streitige Zeit aufgrund des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG für anrechenbar; da der Kläger Beiträge für Zeiten vor Januar 1936 wirksam nachentrichtet habe, sei damit das Erfordernis der Vorversicherung ("wenn eine Versicherung vorher bestanden hat") erfüllt. Das LSG wies darauf hin, daß für das vor 1957 geltende Recht (§ 31 AVG aF i. V. m. § 1263 der Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) eine bei Beginn der Ersatzzeit erhaltene Anwartschaft aus früheren Beiträgen gefordert worden sei, nach dem seit 1957 geltenden Recht genüge jedoch, daß eine Beitragszeit vorausgehe, die beim Eintritt des Versicherungsfalles nach § 26 AVG anrechnungsfähig sei. Folgerichtig müsse nun bei zulässiger Nachentrichtung für vorausgegangene Zeiten ebenfalls die Vorversicherung bejaht werden, zumal da nachentrichtete Beiträge grundsätzlich dieselbe Wirkung hätten wie rechtzeitig geleistete Beiträge. Die Verneinung einer Vorversicherung wäre überdies mit dem Sinn des Nachentrichtungsrechtes nach Art. 2 § 50 AnVNG unvereinbar, weil dieses den vertriebenen Selbständigen nachträglich den Schutz der Rentenversicherung verschaffen solle.
Mit der zugelassenen Revision beantragt die Beklagte,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Sie rügt Verletzung des Art. 2 § 50 AnVNG. Wenn das Gesetz eine tatsächliche Beitragsentrichtung in einem bestimmten Zeitpunkt oder Zeitraum verlange - so § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG in Zeiten vor der Ersatzzeit -, dann komme den nachentrichteten Beiträgen nicht dieselbe Wirkung wie rechtzeitig geleisteten zu. Insoweit fingiere Art. 2 § 50 AnVNG auch keine frühere Entrichtung.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Anrechenbarkeit der ersten Wehrdienstzeit als Ersatzzeit (i. S. des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG) ist nach § 28 Abs. 2 AVG idF des Rentenversicherungsänderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 zu beurteilen. Die durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 erweiterten Anrechnungsmöglichkeiten (Art. 1 § 2 Nr. 8, Art. 2 § 2 Nr. 4 RRG) gelten nicht für Versicherungsfälle, die vor dem 19. Oktober 1972 eingetreten sind (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG).
Der Senat kann den Vorinstanzen nicht darin folgen, daß die streitige Zeit aufgrund des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG anrechenbar sei. Dazu wäre erforderlich, daß "eine Versicherung vorher bestanden hat". Das ist nicht der Fall.
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat zwar mehrfach, wenn auch bei Auslegung anderer Vorschriften als des § 28 Abs. 2 AVG, ausgeführt (zuletzt SozR Nr. 9 zu § 1290 RVO), nachentrichtete Beiträge hätten grundsätzlich dieselbe Wirkung wie rechtzeitig entrichtete, sie seien so zu behandeln, als ob sie während der Zeit, für die sie gelten sollen, entrichtet worden wären. Andererseits ist dieser Grundsatz gerade für die nach Art. 2 § 50 AnVNG nachentrichteten Beiträge eingeschränkt worden (zuletzt SozR Nr. 13 zu Art. 2 § 52 ArVNG zum Rentenbeginn). Aber auch für Nachentrichtungen allgemein wird die Gleichstellung jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn das Gesetz Rechtsfolgen bewußt vom Zeitpunkt der tatsächlichen Beitragsentrichtung abhängig macht. Ein solcher Ausnahmefall ist in § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG gegeben.
Das ergibt zwar noch nicht zwingend der Gesetzeswortlaut "wenn eine Versicherung vorher bestanden hat", zumal wenn man bedenkt, daß der folgende Satz 2 den gleichen Tatbestand als "vorhergehende Versicherungszeiten" wiedergibt (vgl. dazu SozR Nr. 4 zu § 1251 RVO). Für das Erfordernis tatsächlich vorher entrichteter Beiträge spricht jedoch neben dem bereits darauf hindeutenden Gesetzeswortlaut vor allem der mit der Anrechnung von Ersatzzeiten verfolgte Sinn und Zweck.
Für die Anrechnung von Ersatzzeiten genügen (auch nach dem RRG) nicht schon die Zugehörigkeit zum Kreis der Versicherten und die Verwirklichung eines der Ersatzzeittatbestände des § 28 Abs. 1 AVG. Wie die Anrechnungsvorschriften in § 28 Abs. 2 deutlich machen, hat der Gesetzgeber angenommen, daß die Ersatzzeittatbestände die Entrichtung von Beiträgen an den Versicherungsträger verhindert haben. Der Gesetzgeber verlangt zwar nicht den Nachweis der Kausalität im Einzelfall, er begnügt sich vielmehr mit einer allgemeinen Vermutung, sofern die Ersatzzeiten wenigstens mit einer gesetzlichen Rentenversicherung zeitlich verbunden gewesen sind (SozR Nr. 4 zu § 1251 RVO). Deshalb wird entweder eine vorherige Versicherung oder die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit innerhalb bestimmter Zeit (regelmäßig drei Jahre) danach gefordert. Im ersten Falle wird die Fortsetzung der Versicherung, im zweiten Falle ihr früherer Beginn vermutet. Eine Vermutung der Fortsetzung ist aber nur möglich, wenn die Versicherung tatsächlich vorher schon begonnen hatte; nur dann läßt sich annehmen, daß die Ersatzzeit die weitere Entrichtung von Beiträgen verhindert hat.
Dabei ist es hier ohne Bedeutung, daß der Versicherungsbegriff sich jetzt nur noch nach dem heute gültigen Recht und nicht nach dem zu Beginn der Ersatzzeit jeweils gültigen Recht bestimmt (SozR Nr. 4 zu § 1251 RVO). Damit wird auf eine tatsächliche vorherige Beitragsleistung nicht verzichtet.
Es gibt keine Vorschrift, die auch mit Auswirkung auf § 28 Abs. 2 Satz 1 für die nach Art. 2 § 50 AnVNG nachentrichteten Beiträge eine frühere Entrichtung fingiert. Die Beklagte weist in diesem Zusammenhang auf die §§ 8 und 10, jeweils Abs. 1 Satz 3, des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) hin; in diesen Vorschriften ist für die dort bezeichneten nachentrichteten Beiträge bestimmt: Sie "gelten als rechtzeitig entrichtete Beiträge für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit". Von der Gleichstellung mit Pflichtbeiträgen abgesehen wird damit im Wortlaut an sich nur wiederholt, was die Rechtsprechung des BSG im Grundsatz für nachentrichtete Beiträge ohnedies annimmt. Da eine ähnliche Vorschrift in Art. 2 § 50 AnVNG aber fehlt, braucht die Bedeutung besonderer Vorschriften über die Fiktion einer rechtzeitigen Beitragsentrichtung hier nicht erörtert zu werden.
Somit bleibt nur die Frage, ob Sinn und Zweck des Nachentrichtungsrechtes nach Art. 2 § 50 AnVNG es gebieten, die nachentrichteten Beiträge auch bei Anwendung des § 28 Abs. 2 Satz 1 AVG wie Beiträge zu behandeln, die zur Zeit der belegten Zeiträume entrichtet worden sind. Das ist ebenfalls zu verneinen. In mehreren Entscheidungen (SozR Nrn. 2 bis 4, 9, 10, 13 zu Art. 2 § 52 ArVNG) hat das BSG bereits hervorgehoben, daß das besondere Nachentrichtungsrecht des Art. 2 § 50 AnVNG es früheren Selbständigen, die durch die Vertreibung Existenz und wirtschaftliche Sicherung verloren haben, ermöglichen soll, sich nachträglich eine neue Sicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung zu verschaffen. Aus diesem Sinngehalt der Vorschrift folgt nicht, daß die Begünstigten auch bei der Anrechnung vergangener beitragsloser Zeiten schlechthin den schon früher Rentenversicherten gleichgestellt werden müßten; ein solcher Wille des Gesetzgebers kann nicht ohne weiteres unterstellt werden, zumal sonst unter Umständen die Nachentrichtung eines einzigen Beitrags zur Anrechnung mehrjähriger Ersatzzeiten führen könnte.
Schließlich kann die erste Wehrdienstzeit auch nicht aufgrund des § 28 Abs. 2 Satz 2 AVG angerechnet werden, weil der Kläger nicht innerhalb von drei Jahren danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hat.
Daß innerhalb dieses Zeitraumes - nach über zwei Jahren - eine neue Ersatzzeit folgte, die die Beklagte auch angerechnet hat, ist hierfür ohne Bedeutung (BSG 16, 204, 206).
Die Urteile der Vorinstanzen sind somit aufzuheben.
Die Klage ist abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen