Leitsatz (amtlich)
Zur Ermittlung des der geschiedenen Frau zustehenden Unterhalts, wenn sie selbst, sowie ihr früherer Ehemann und dessen neue Ehefrau Renten beziehen.
Leitsatz (redaktionell)
Die Frage, ob und in welcher Höhe der frühere Ehemann (Versicherter) zur Zeit seines Todes der geschiedenen Ehefrau unterhaltspflichtig war, ist unabhängig von dem ergangenen Unterhaltsurteil zu prüfen und zu entscheiden.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 17. September 1970 aufgehoben.
Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 10. März 1970 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte und die Beigeladene haben der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens je zur Hälfte zu erstatten.
Gründe
I
Die ... 1897 geborene Klägerin war seit dem 27. Juli 1929 mit dem im Jahre 1900 geborenen kaufmännischen Angestellten H. K. verheiratet gewesen.
Die Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Bremen vom 23. Januar 1952 aus dem alleinigen Verschulden des Ehemannes geschieden. Am 28. Juni 1952 heiratete dieser die am 18. Januar 1906 geborene Beigeladene. Am 30. Mai 1968 ist er gestorben.
Seit dem 1. Juni 1968 besieht die Beigeladene von der Beklagten aufgrund des Bescheides vom 15. Juli 1968 Witwenrente aus der Versicherung des Verstorbenen.
Am 28. September 1968 beantragte die Klägerin die Gewährung von Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG). Sie trug dazu vor, daß sie nach der Scheidung bis zum Februar 1968 keine Unterhaltsansprüche gegen ihren früheren Ehemann geltend gemacht habe, weil sie zunächst noch berufstätig gewesen sei. Erst am 18. März 1968 habe sie vor dem Amtsgericht (AG) Bremen eine Unterhaltsklage erhoben.
Das AG Bremen hat durch Urteil vom 7. November 1968 (11 C 226/68) die Beigeladene verurteilt, an die Klägerin 198,80 DM zu zahlen. Dazu hat es ausgeführt, die Beigeladene schulde diesen Betrag als Rechtsnachfolgerin des Verstorbenen. Dabei gehe das Gericht von einem Einkommen des Versicherten von monatlich 860,30 DM und einem Einkommen der Klägerin von monatlich insgesamt 490,70 DM aus. Höhere Einnahmen oder ein Vermögen des Versicherten seien nicht erwiesen. Damit sei er gemäß § 58 des Ehegesetzes (EheG) als allein schuldig geschiedener Ehemann bis zu seinem Tode unterhaltspflichtig gewesen. Die Klägerin und ihr früherer Ehemann hätten in der hier in Betracht kommenden Zeit zusammen monatlich 1.351,- DM an Einnahmen gehabt. Der Klägerin stünden zwei Fünftel vom Gesamteinkommen = 540,40 DM zu. Dieser Anteil und nicht ein solcher von 1/2 erscheine angemessen, weil der frühere Ehemann der Klägerin aufgrund eines schweren Magen- und Darmleidens erhöhte Aufwendungen und außerdem auch Verpflichtungen gegenüber seiner Ehefrau gehabt habe, deren monatliches Einkommen von 500,- DM nur geringfügig höher gewesen sei als das der Klägerin. Da die Klägerin somit 540,40 DM monatlich beanspruchen könne und selbst bereits Einnahmen in Höhe von 490,70 DM habe, sei ihr Unterhaltsanspruch in Höhe von 49,70 DM begründet. Das seien für die Monate Februar bis Mai 1968 insgesamt 198,80 DM. Im übrigen sei die Klage unbegründet.
Mit Bescheid vom 18. Februar 1969 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Geschiedenenwitwenrente ab. Der nach dem Urteil des AG Bremen vom 7. November 1968 gegebene Unterhaltsanspruch in Höhe von monatlich 49,70 DM reiche nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht aus, um einen Anspruch nach § 42 AVG zu begründen.
Das Sozialgericht (SG) Bremen hat durch Urteil vom 10. März 1970 den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 18. Februar 1968 aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin eine Hinterbliebenenrente nach § 42 AVG aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes H. K. zu zahlen. Gleichzeitig hat das SG den Bescheid vom 15. Juli 1968 teilweise, nämlich hinsichtlich der Höhe der Hinterbliebenenrente der Beigeladenen für die Zukunft aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Hinterbliebenenrenten für die Klägerin und für die Beigeladene nach § 45 Abs. 4 AVG zu berechnen und zu zahlen und den Beteiligten darüber je einen Bescheid zu erteilen.
Auf die Berufung der Beigeladenen hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen das vorgenannte Urteil aufgehoben und die Klage auf Zahlung von Geschiedenenwitwenrente abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, alle Beteiligten gingen mit Recht davon aus, daß die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten entsprechend dem Urteil des AG Bremen vom 7. November 1968 einen Unterhaltsanspruch von monatlich 49,70 DM gehabt habe. Zutreffend seien weiter alle Beteiligten bei der Auslegung des Begriffs "Unterhalt" im Sinne des § 42 AVG von der ständigen Rechtsprechung des BSG ausgegangen. Danach müsse in der Regel gefordert werden, daß der von dem Versicherten an seine frühere Ehefrau bezahlte oder zu zahlende Betrag, wenn er eine Hinterbliebenenrente auslösen solle, etwa 25 v.H. des Betrages ausmache, den ein Unterhaltsberechtigter unter den gegebenen zeitlichen und örtlichen Verhältnissen zur Deckung seines notwendigen Mindestbedarfs benötige. Der Streit gehe im vorliegenden Falle darum, ob diese 25 % des Mindestbedarfs durch den Unterhaltsanspruch der Klägerin in Höhe von 49,70 DM erreicht worden seien. Das sei nicht der Fall. Das SG sei zu seiner gegenteiligen Auffassung deshalb gelangt, weil es den Mindestbedarf nur auf Grund der Regelsätze des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) errechnet habe, also nur auf Grund der Barleistungen, die ein Hilfsbedürftiger nach dem BSHG zu beanspruchen habe. Dieser habe sich allerdings bei der Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten auf 175,50 DM belaufen.
Das stelle aber offensichtlich nicht den Mindestbedarf eines Hilfsbedürftigen dar, weil die Barleistung ua nicht den sehr wesentlichen Aufwand für Niete und Heizung usw. umfasse, worauf der Hilfsbedürftige nach § 12 BSHG ebenfalls einen Anspruch habe. Somit kämen weitere Beträge für Wohnung, Heizung, Wassergeld usw., außerdem aber auch für die Beschaffung von Kleidung und Schuhen sowie Hausrat mit größerem Anschaffungswert hinzu. Dieser notwendige Lebensunterhalt der Klägerin, der nicht durch den Regelsatz abgegolten werde, sei 1968 auf wenigstens weitere 125,- DM monatlich zu schätzen. Zur Deckung des notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin in Bremen zur Zeit des Todes ihres früheren Ehemannes sei somit ein Betrag von insgesamt wenigstens 300,- DM monatlich notwendig gewesen. Damit sei offensichtlich, daß der gegebene Unterhaltsanspruch von 49,70 DM weniger als 25 v.H. dieses Mindestbedarfs ausgemacht habe.
Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Bremen vom 17. September 1970 aufzuheben und die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des SG Bremen vom 10. März 1970 zurückzuweisen.
Die Beklagte hat keinen bestimmten Antrag gestellt, hält aber die Klage im Ergebnis für unbegründet.
Die Beigeladene beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin ist begründet.
Nach § 42 AVG wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit diesem geschieden, für nichtig erklärt oder aufgehoben ist, nach dessen Tod eine Rente ua dann gewährt, wenn er ihr, was hier vor allem in Betracht kommt, zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu leisten hatte (§§ 58 ff EheG).
Die Beteiligten sowie das SG und das LSG sind übereinstimmend davon ausgegangen, auf Grund des Urteils des AG Bremen vom 7. November 1960 sei geklärt, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin an Unterhalt monatlich 49,70 DM hätte leisten müssen. Die Unterhaltsfrage sei rechtskräftig entschieden und das Unterhaltsurteil "auch rechtsverbindlich für den Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 42 AVG". Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Die Beteiligten, das SG und das LSG waren in Wahrheit an das ergangene Urteil nicht gebunden. Es bestand weder eine "Tatbestandswirkung" noch eine "Gestaltungswirkung" des Zivilurteils. Soweit es nach § 42 AVG auf die Unterhaltspflicht nach dem EheG ankommt, ist allein die materielle Rechtslage maßgebende. Eine Gestaltungswirkung käme dem ergangenen Unterhaltsurteil nur zu, wenn es die Rechtslage geändert (gestaltet) hätte; dazu war es nicht imstande (BSG 11, 99, 101). Die Bindung läßt sich auch nicht aus der materiellen Rechtskraft des Unterhaltsurteils ableiten, weil es schon nach den Vorschriften der Zivilprozeßordnung (§ 325 ZPO) gegenüber der Beklagten, die am Verfahren vor dem AG nicht beteiligt war, keine Rechtskraftwirkung hatte (vgl. BSG, SozR Nr. 25 zu § 1265 RVO).
Somit ist die Frage, ob und in welcher Höhe der frühere Ehemann zur Zeit seines Todes der Klägerin unterhaltspflichtig war, unabhängig von dem ergangenen Unterhaltsurteil zu prüfen und zu entscheiden. Nach dem hier maßgebenden § 58 EheG hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit nicht ausreichen. Ausgangspunkt für die Beurteilung der Angemessenheit des Unterhaltsanspruchs der Klägerin ist damit der Lebenszuschnitt zur Zeit der Scheidung (vgl. Hoffmann/Stephan, EheG, 2. Aufl., § 58 Note 32). Da damals aber beide Ehegatten berufstätig waren, muß er zur Zeit der Scheidung jedenfalls besser gewesen sein als im Jahre 1968, als die beiden früheren Eheleute auf ihre Renten angewiesen waren. Deshalb ist davon auszugehen, daß der nach den Lebensverhältnissen zur Zeit der Scheidung angemessene Unterhalt für die Klägerin höher war, als ihr Anspruch auf Unterhalt zur Zeit des Todes des Versicherten. Für die Beurteilung ihrer Unterhaltsberechtigung und der Unterhaltsverpflichtung ihres früheren Ehemannes zur Zeit seines Todes sind daher die Verhältnisse des Jahres 1968 zugrunde zu legen; sie sind, wie das LSG festgestellt hat, auf Grund des vorliegenden Unterhaltsurteils unter den Beteiligten unstreitig.
Die Zivilgerichte gehen zur Ermittlung des jeweiligen konkreten Unterhaltsanspruchs der getrennt lebenden sowie der geschiedenen Ehefrau in der Regel entweder von der sog. Hamburger Formel (vgl. Millauer, Zur Bemessung des Frauen-Unterhalts, NJW 1967, 1061: danach steht der Frau, wenn beide früheren Eheleute verdienen, grundsätzlich eine Drittel des Mehrverdienstes des Mannes zu) oder von der sog. Düsseldorfer Formel aus (vgl. Pabst, Zur Bemessung des Frauenunterhalts, NJW 1967, 2248). Beide führen zu den gleichen Ergebnissen, wie Pabst aaO in Note 11 im einzelnen ausgeführt hat. Auch das BSG hat sich zu der Auffassung bekannt, daß zur Ermittlung des jeweiligen Unterhaltsanspruchs der geschiedenen Frau nach § 58 EheG von Richtlinien als Orientierungshilfen auszugehen ist. Nach dem Urteil des 11. Senats vom 9. Februar 1971 (11 RA 208/69, SozR § 1265 RVO Nr. 58) sind jedoch, wenn beide Ehegatten Einkünfte gehabt haben, die Nettoeinkünfte zusammenzurechnen und als der der geschiedenen Frau zustehende Unterhalt ist in der Regel ein Betrag in Höhe von einem Drittel bis drei Siebenteln dieses Gesamteinkommens anzusetzen. Derartige Anhaltspunkte können indes nur unter dem Vorbehalt einer Abweichung bei Besonderheiten des Einzelfalles maßgebend sein. Feste Richtlinien oder sog. Faustregeln für die Bemessung der Höhe des Unterhaltsanspruchs können, wenn sie auch die tägliche Praxis der Gerichte und der Versicherungsträger erleichtern, nicht verwendet werden, ohne daß jeweils sorgfältig geprüft wird, ob und inwieweit die Umstände des einzelnen Falles Abweichungen notwendig machen (so auch BGH in NJW 1969, 919 für den zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch getrenntlebender Ehegatten). § 58 EheG stellt es auf den Einzelfall ab. Eine die jeweiligen Umstände nicht berücksichtigende Schematisierung würde dieser Vorschrift nicht gerecht werden.
Im vorliegenden Fall ist besonders zu beachten, daß der Versicherte wieder geheiratet hatte und seine Ehefrau, die Beigeladene, ebenfalls Einkommen hatte, und zwar nach den nicht angegriffenen und danach für den Senat bindenden Feststellungen des ISG ein solches von monatlich 500,- DM. Sie konnte sich damit im wesentlichen selbst unterhalten. Darüber hinaus entstanden für sie und ihren Ehemann nur einmal Ausgaben für Wohnung, Licht und Heizung. Vor allem dieser Umstand rechtfertigt es, der Klägerin entsprechend dem erwähnten Urteil vom 9. Februar 1971 drei Siebentel des Gesamteinkommens von 490,70 DM zuzüglich 850,30 DM gleich 1251,- DM monatlich zuzubilligen. Das wären 579,- DM monatlich. Hiervon ist ihr eigener Verdienst von monatlich 490,70 DM abzuziehen. Danach bestand entgegen der Auffassung des AG Bremen ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten nach den Vorschriften des EheG zur Zeit seines Todes in Hohe von 88,30 DM monatlich. Denn andere Besonderheiten, die eine abweichende Beurteilung hätten rechtfertigen können, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
Daß ein Unterhaltsanspruch in dieser Höhe genügt, um die Voraussetzungen für einen Anspruch nach § 42 AVG zu begründen, entspricht auch der Auffassung des LSG (vgl. BSG, SozR Nr. 49 zu § 1265 RVO = NJW 1969, 1924). Es berechnet den Mindestbedarf der Klägerin auf wenigstens 300,- DM monatlich. Ein Unterhaltsanspruch in Höhe von fast 90,- DM stellte daher im Frühjahr 1968 einen Anteil von mehr als 25 v.H. des Mindestbedarfs dar. Damit erweist sich aus diesen Gründen das Urteil des SG als richtig, so daß auf die Revision der Klägerin unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beigeladenen gegen das zusprechende Urteil des SG zurückzuweisen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 193, 194 des Sozialgerichtsgesetzes iVm § 100 ZPO.
Fundstellen