Orientierungssatz
Zusammentreffen von Versicherten- und Verletztenrente bei rückwirkender Erhöhung der Verletztenrente und Ruhen der Versichertenrente (vgl BSG 1967-12-15 5 RKn 139/65 = BSGE 27, 253).
Normenkette
RVO § 1278 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 4 Fassung: 1963-04-30
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 13.03.1974; Aktenzeichen L 4 J 11/72) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 03.11.1971; Aktenzeichen S 6 J 376/68) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. März 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob die Berufsunfähigkeitsrente des Klägers wegen Bezug einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (UV) in der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1965 teilweise ruht (§ 1278 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger erlitt im Jahre 1964 einen Arbeitsunfall. Die Steinbruchs-Berufsgenossenschaft (BG) zahlte ihm im Juni, Juli und September 1965 Vorschüsse auf Entschädigungsleistungen. Mit Bescheid vom 6. Oktober 1965 gewährte sie ihm eine Teilrente von 40 v. H. vom 25. Mai 1965 an; der Beginn der laufenden Rentenzahlung wurde auf den 1. November 1965 bestimmt. Mit Bescheid vom 13. November 1967 bewilligte sie die Vollrente rückwirkend für die Zeit vom 25. Mai 1965 an.
Die beklagte Landesversicherungsanstalt gewährte mit Bescheid vom 23. Dezember 1965 eine Rente auf Zeit wegen Berufsunfähigkeit vom 6. April bis 31. Dezember 1965; ein Ruhen der Versichertenrente war nach der im Bescheid durchgeführten Berechnung nicht eingetreten. Im Hinblick auf den Bescheid der BG vom 13. November 1967 berechnete die Beklagte mit dem jetzt angefochtenen Bescheid vom 6. Mai 1968 die Berufsunfähigkeitsrente neu; unter Berücksichtigung der Vollrente aus der UV stellte sie fest, daß ein Teil der Versichertenrente für die Zeit vom 1. Juli 1965 an ruhe; da der erste Vorschuß im Juni 1965 angewiesen worden sei, stehe die Versichertenrente dem Kläger in der bisherigen Höhe noch bis 30. Juni 1965 zu. Der Kläger meint, ein Ruhen eines Teils der Versichertenrente sei nicht eingetreten.
Das Sozialgericht hat den Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 1968 aufgehoben (Urteil vom 3. November 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen, soweit die Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 6. Mai 1968 für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1965 begehrt wird; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 13. März 1974).
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, die Voraussetzungen des Ruhens nach § 1278 Abs. 1 RVO seien für die Zeit des Bezugs der Versichertenrente vom 1. Juli bis 31. Dezember 1965 erfüllt. Die im Dezember 1965 rückwirkend bewilligte Versichertenrente und die schon vorher im Oktober 1965 rückwirkend gewährte Verletztenrente seien seit dem 25. Mai 1965 zusammengetroffen. Die für das Ruhen in § 1278 Abs. 1 RVO bestimmten Grenzen seien rückwirkend dadurch überstiegen worden, daß die BG im November 1967 die Teilrente für die Zeit vom 25. Mai 1965 an auf die Vollrente erhöht habe. Infolgedessen habe die Versichertenrente nun ebenfalls rückwirkend teilweise geruht, da das Ruhen kraft Gesetzes eintrete. Die Versichertenrente sei nach § 1278 Abs. 4 RVO unverkürzt bis Ende Juni 1965 zu gewähren, weil in diesem Monat zum ersten Mal ein Vorschuß auf die Verletztenrente ausgezahlt worden sei. § 1278 Abs. 4 RVO erstrecke sich nicht auf die Zeit des Bezuges der Versichertenrente nach dem 30. Juni 1965. Die nachträgliche Erhöhung der schon gezahlten Verletztenrente falle nicht unter Absatz 4 des § 1278 RVO. Diese Vorschrift hebe vielmehr allein auf die erstmalige Auszahlung der Verletztenrente, der ein Vorschuß gleichstehe, ab.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat ohne Gesetzesverletzung den Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 1968, soweit darin das Ruhen eines Teils der Versichertenrente während der Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1965 festgestellt ist, bestätigt.
Nach § 1278 Abs. 1 RVO ruht die Versichertenrente kraft Gesetzes, wenn und sobald die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind. Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist es zu verhindern, daß die Summe der Renten aus der Sozialversicherung das frühere Arbeitseinkommen des Berechtigten übersteigt (vgl. BSG 22, 233 = SozR Nr. 6 zu § 1278 RVO). Absatz 4 des § 1278 RVO enthält eine Ausnahme von Absatz 1 für den Fall, daß die Versichertenrente mit der Verletztenrente zwar schon zeitlich zusammentrifft und ruht, daß aber noch nicht mit der Auszahlung der Verletztenrente begonnen worden ist. In einem solchen Fall wird die Versichertenrente unverkürzt bis zum Ende des Monats gewährt, in dem die Verletztenrente oder ein Vorschuß zum ersten Mal ausgezahlt wird. Damit soll ausgeschlossen werden, daß die Versichertenrente gekürzt wird, bevor der Versicherte in den Genuß der Verletztenrente kommt; denn bis zur ersten Auszahlung der Verletztenrente bedarf der Berechtigte noch der ungekürzten Versichertenrente zur Sicherstellung seines Lebensunterhalts. Nach diesem Sinn und Zweck ist für die Anwendung des Absatzes 4 des § 1278 RVO wesentlich, daß die Verletztenrente oder ein Vorschuß bei Feststellung und Zahlung der Versichertenrente noch nicht ausgezahlt ist, so daß der Berechtigte zu diesem Zeitpunkt noch nicht über die Verletztenrente oder einen Vorschuß verfügt (vgl. SozR Nr. 5 zu § 1279 RVO; Urteil vom 29. Mai 1973 - 5 RJ 7/73 -; SozR Nr. 2200 zu § 1278 Nr. 1 RVO).
Bei rückwirkender Änderung einer bereits laufend gezahlten Verletztenrente greift Absatz 4 des § 1278 RVO nicht ein, denn dann handelt es sich nicht mehr um eine erstmalige Auszahlung der Verletztenrente Wenn eine schon laufend gezahlte Verletztenrente rückwirkend geändert wird, hat der Berechtigte bereits vor dieser Änderung über beide Renten tatsächlich verfügt, wenn auch in anderer Höhe. In diesem Sinne hat schon das Reichsversicherungsamt im Jahre 1936 entschieden, daß die Vorschrift des § 1274 Abs. 5 RVO aF, wonach das Ruhen der Versichertenrente neben einer Unfallrente erst eintritt, wenn diese tatsächlich gewährt wird, dann nicht anzuwenden ist, wenn die Unfallrente nachträglich erhöht wird. Das Bundessozialgericht hat diese Rechtsprechung weitergeführt (BSG 27, 253). Auch der erkennende Senat vertritt nach neuer Prüfung diese Auffassung.
Im vorliegenden Fall lagen die Umstände, die für die Anwendung des § 1278 Abs. 4 RVO wesentlich sind, bereits bei Erlaß des Rentenbescheides der Beklagten vom 23. Dezember 1965 vor: Der erste Vorschuß auf die Verletztenrente war schon im Juni 1965 ausgezahlt worden, die Verletztenrente wurde seit 1. November 1965 laufend gezahlt. Somit waren bei Erlaß des Rentenbescheides die Voraussetzungen des Absatzes 4 aaO für eine befristete Weitergewährung einer unverkürzten Versichertenrente schon deshalb nicht erfüllt, weil die Verletztenrente (bzw. der Vorschuß) bereits ausgezahlt wurde - ganz abgesehen davon, daß sich wegen der Höhe der nach § 1278 Abs. 1 RVO maßgebenden Werte damals kein Ruhen der Versichertenrente ergab. Daß bei Erlaß des Rentenbescheides kein Raum für eine Weiterzahlung nach § 1278 Abs. 4 RVO war, führt nicht dazu, daß bei dem jetzt angefochtenen Bescheid vom 6. Mai 1968 der Absatz 4 des § 1278 RVO anzuwenden wäre. Der Zeitpunkt, zu dem die mit Bescheid der BG vom 13. November 1967 bewilligte rückwirkende Erhöhung der Verletztenrente ausgezahlt wurde, stellt nicht einen Zeitpunkt dar, der nun nach § 1278 Abs. 4 RVO eine unverkürzte Gewährung der Versichertenrente über Juni 1965 hinaus begründen würde; denn nach der oben angeführten Rechtsprechung kommt es bei dieser Vorschrift nur auf den Zeitpunkt der erstmaligen Auszahlung der Verletztenrente oder eines Vorschusses an. Das Gesetz hat die erstmalige Auszahlung einer rückwirkend bewilligten Erhöhung der Verletztenrente der erstmaligen Auszahlung dieser Rente oder eines Vorschusses entsprechend dem oben aufgezeigten Sinn und Zweck des Absatzes 4 aaO nicht gleichgestellt.
Nach alledem ist die Revision unbegründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen