Verfahrensgang
SG Hamburg (Urteil vom 24.01.1964) |
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 24. Januar 1964 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Hamburg zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der im Jahre 1901 geborene Kläger war als Maler auf eine; Werft tätig. Während der Arbeit fiel ihm am 3. Mai 1961 ein Kreuzkopflager auf die rechte Hand. Er erlitt schwere offene Verletzungen an der rechten Hand. Nach Aufnahme der Arbeit am 4. Juni 1962 versuchte der Kläger, wieder als Maler zu arbeiten. Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls mußte er diese Tätigkeit jedoch aufgeben. Seit dem 3. September 1962 arbeitet er als Werkzeugausgeber auf der Werft.
Die Beklagte gewährte dem Kläger zunächst die Vollrente und vom Tage der Wiederaufnahme der Arbeit an Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. als vorläufige Rente. Mit Bescheid vom 27. Mai 1963 setzte sie die Dauerrente nach einer MdE um 30 v.H. fest.
Mit seiner hierauf erhobenen Klage hat der Kläger Rente unter Zugrundelegung einer MdE um 40 v.H. begehrt. Der vom Sozialgericht (SG) Hamburg als Sachverständiger gehörte Facharzt für Chirurgie Dr. W. ist der Meinung, daß die Greif- und Haltefähigkeit der rechten Hand erheblich beeinträchtigt sei und Malerarbeiten mit dieser Hand nicht mehr ausgeführt werden könnten; die MdE hat er auf 30 v.H. geschätzt.
Das SG hat die Beklagte durch Urteil vom 24. Januar 1964 unter Änderung ihres Bescheides verurteilt, dem Kläger ab 1. Juli 1963 Dauerrente nach einer MdE um 40 v.H. zu gewähren.
Seine Entscheidung hat das SG wie folgt begründet: Nach ärztlicher Ansicht sei der Verlust des erlernten Berufs die unausbleibliche Folge des erlittenen Unfalls. Damit seien die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung – RVO – (in der Fassung des Art. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes –UVNG–) erfüllt. Der Kläger könne infolge des Unfalls in seinem erlernten Beruf seine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr nutzen. Es erscheine daher angemessen, die MdE mit 40 v.H. zu bewerten.
Das SG hat die Berufung zugelassen.
Die Beklagte hat ihre – mit schriftlicher Einwilligung des Klägers eingelegte – Sprungrevision im wesentlichen wie folgt begründet: Das SG habe nicht festgestellt, daß dem Kläger durch die Aufgabe seines Berufs als Maler überhaupt wirtschaftliche Nachteile entstanden seien. Er verdiene als Werkzeugausgeber ebensoviel wie vorher als Maler. Der Auffassung des SG, daß allein die Notwendigkeit des Berufswechsels infolge des Unfalls die Verpflichtung der Berufsgenossenschaft begründe, Rente nach einem höheren Grad der MdE zu zahlen als die Ärzte festgestellt hätten, könne nicht gefolgt werden. § 581 Abs. 2 RVO fasse nur die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze über die Bewertung der MdE, die immer von der abstrakten Schadensbemessung ausgegangen seien, zusammen.
Der Kläger ist der Meinung, daß in § 581 Abs. 2 RVO nicht alle Gründe aufgezählt seien, die – über die ärztliche Beurteilung hinaus, die vorliegendenfalls müßten. Das Gesetz stelle allein auf bestimmte, vom Verletzten erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen ab, die er infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen könne. Rechtlich wesentlich müsse aber auch sein, wenn der Verletzte weder den bisher ausgeübten Beruf noch einen sozial gleichwertigen Beruf mehr ausüben könne. Die Einkommens- und Verdienstverhältnisse müßten ebenfalls berücksichtigt werden. Zwar stehe fest, daß der Kläger seine besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen als Maler möglicherweise dann noch nutzen könne, wenn er in einem Malerbetrieb beschäftigt werde; seinen eigentlichen Beruf als Maler könne er aber nicht mehr ausüben. Ob er in einem sozial gleichwertigen Beruf tätig sein könne, habe das SG nicht geprüft. Durch den Berufswechsel erleide der Kläger eine erhebliche Lohneinbuße; vor dem Unfall habe sein Stundenlohn 3,58 DM betragen, während der Kläger jetzt nur 3,30 DM in der Stunde verdiene. Dabei sei der Kläger selbst für die Arbeiten eines Werkzeugausgebers nicht voll einsatzfähig; diese Tätigkeit könne er nur mit Hilfe seiner Arbeitskollegen ausführen, da sie ihm allein zu schwer sei. Das SG habe daher – im Ergebnis zutreffend – die MdE auf 40 v.H. geschätzt, denn der Kläger könne in seiner jetzigen Tätigkeit seine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen als Maler nicht nutzen. Es sei nicht wahrscheinlich, daß er sonstige zumutbare Fähigkeiten im Erwerbsleben nicht einsetze; Feststellungen des SG lägen insoweit nicht vor.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die – nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte – Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil des SG begegnet Bedenken.
Das SG hat allein deshalb, weil der Kläger Maler sei und diesen Beruf nicht mehr ausüben könne, die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO als gegeben angesehen. Diese Auslegung wird jedoch dem Wortlaut und Sinn des Gesetzes nicht gerecht.
§ 581 Abs. 2 RVO ist nach den vom erkennenden Senat im Urteil vom 30. Juni 1965 (2 RU 175/63) aufgestellten Grundsätzen vorliegendenfalls anwendbar, obwohl der Arbeitsunfall schon vor dem Inkrafttreten des UVNG eingetreten ist (Art. 4 § 2 Abs. 2 UVNG). Er schreibt vor, daß bei Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen sind, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte von ihm erworbene berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung dem Verletzten zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Bei der Anwendung, des § 581 Abs. 2 RVO sind aber die in der gesetzlichen Unfallversicherung seit jeher angewandten Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung und der Verweisung des Unfallverletzten auf das Gesamtgebiet des Erwerbslebens zu beachten. Diese Grundsätze gelten einheitlich für alle Unfallverletzten, auch für gelernte Arbeiter. Der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung wirkt sich auf diese Gruppe von Versicherten nicht etwa nur nachteilig aus. Er ermöglicht, abweichend vom sonstigen Schadensersatzrecht, in einer Vielzahl von Fällen, in denen der Verletzte trotz der Unfallfolgen den gleichen Lohn wie vor dem Unfall verdient, überhaupt erst die Zahlung einer Unfallrente. Eine zu weitgehende Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalles würde dem Wesen der gesetzlichen Unfallversicherung, die durch den Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung gekennzeichnet ist, nicht gerecht werden (vgl. Kreil, Die Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit in der deutschen Sozialversicherung, 1935 S. 219).
Der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung wird durch § 581 Abs. 2 RVO nicht eingeschränkt. Nach ihrem Inhalt stellt diese Vorschrift nicht darauf ab, daß der Verletzte einen bestimmten Beruf erlernt hat. Die besonderen Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO liegen deshalb nicht schon stets dann vor, wenn ein Lehr- oder Anlernberuf nicht mehr ausgeübt werden kann. Vielmehr sind nach dieser Vorschrift – in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 1, 174, 178; 4, 147; 150; 4, 294, 298; Breithaupt 1957, 1008, 1015; SozEntsch III/2, BSG IV, RVO § 559 a Nr. 6, 7; vgl. ferner Wander, SozVers. 1963, 340) – nach den Besonderheiten des Einzelfalles bestimmte besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen, die der Versicherte infolge des Unfalls nicht mehr in gleichem Maße wie früher auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens wirtschaftlich verwerten kann, bei der vom Versicherungsträger oder vom Gericht vorzunehmenden Schätzung der MdE angemessen zu berücksichtigen. Indessen ist nicht stets erforderlich, daß bei Spezialberufen die besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen über diejenigen hinausgehen, die der jeweilige Beruf im allgemeinen vermittelt. Die Verletzung, die sich der Versicherte durch den Unfall zugezogen hat, darf aber nicht so sein, daß sie sich nicht spezifisch auf die Fähigkeit zum Erwerb auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirkt (vgl. BSG 4, 294, 298; SozEntsch III/2, BSG IV RVO § 559 a Nr. 6). Ob die vom Gesetz als rechtlich bedeutsam angesehenen Nachteile vorliegen, ist sonach auf Grund der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden; eine allgemeine Regel läßt sich hierfür nicht aufstellen. § 581 Abs. 2 RVO darf, wie sich aus seinem Sinn und Wortlaut ergibt, bei der Auslegung nicht in seine Halbsätze aufgeteilt werden; beide Halbsätze bilden vielmehr eine Einheit für die Beurteilung der Frage, ob Nachteile (im Sinne des Gesetzes bei der Bemessung der MdE im Einzelfall zu berücksichtigen sind.
Die Ansicht des SG, besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen seien immer schon dann beeinträchtigt, wenn ein Lehrberuf nicht mehr ausgeübt werden könne, deshalb sei dieser Umstand bei Schätzung der MdE entsprechend zu beachten, würde häufig zu einer doppelten Berücksichtigung des Berufes führen. Die durch eine abgeschlossene Lehre oder bei Anlernberufen durch eine vorgeschriebene Anlernzeit erworbenen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen wirken sich nämlich in der Regel auf die Höhe des vom Verletzten vor dem Unfall bezogenen Arbeitslohnes aus. Die Rente wird aber nach dem vor dem Unfall erzielten Jahresarbeitsverdienst berechnet. Nachteile im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO liegen daher im allgemeinen nur vor, wenn die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf des Verletzten bei der Bewertung der MdE zu einer unbilligen Härte führen würde. Eine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit – etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes –BVG– (in der Fassung des 1. NOG – würde dagegen den Voraussetzungen und der gegenüber dem Versorgungsrecht anders gearteten Systematik des Unfallversicherungsrechts widersprechen. Die Rentensätze des Versorgungsrechts sind grundsätzlich Pauschalsätze, die – was insbesondere die Grundrenten betrifft – ohne Rücksicht auf Alter oder Einkommen des Beschädigten abgestuft nach der MdE gewährt werden. In der gesetzlichen Unfallversicherung bildet die Grundlage der Rente dagegen das vom Verletzten wahrend des letzten Jahres vor dem Unfall verdiente Arbeitsentgelt. Biese Regelung trägt der sozialen Stellung des Verletzten in stärkerem Maße Rechnung. Sie stellt – ebenso wie § 581 Abs. 2 RVO – auf die Umstände des Einzelfalles ab.
§ 581 Abs. 2. RVO normiert sonach im wesentlichen die bisherige – vom erkennenden Senat weiterentwickelte – Rechtsprechung über die Grundsätze der Beurteilung der MdE (gleiche Ansicht: LSG Saarland, Breithaupt 1964, 382; Wander aaO S. 344; Schiecke, BG 1965, 2931; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 9 zu § 581; Noell/Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, Anm. 2 zu § 581; Bereiter-Hahn, Unfallversicherung, Anm. 7 zu § 581; Gotzen/Doetsch, Kommentar zur Unfallversicherung, Anm. zu § 581; Knoll/Schieckel/Gurgel, RVO-Gesamtkommentar Anm. 7 zu § 581; aA: LSG Rheinland-Pfalz, BG 1964, 503, 505; LSG Hamburg, Breithaupt 1965, 823 = SozSich 1965, Kartei-Nr. 1820). Die amtliche Begründung des Regierungsentwurfs zum UVNG läßt erkennen, daß für die Fassung dieser Vorschrift die „seit langem bestehende Übung der Rechtsprechung” maßgebend gewesen ist (BTDr. IV/120 S. 58). Aus den Niederschriften über die Sitzungen des federführenden Ausschusses für Sozialpolitik des deutschen Bundestages ist nicht ersichtlich, daß die Mehrheit des Ausschusses eine von der Begründung des Regierungsentwurfs abweichende Auffassung vertreten hat.
Kann der Verletzte infolge eines Arbeitsunfalls seinen erlernten Beruf nicht mehr ausüben, so hat dies also nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung hinausgehende Höherbewertung der MdE zur Folge. Die vom SG allein getroffene Feststellung der Kläger habe vor seinem Unfall einen Lehrberuf ausgeübt, bildet somit keine geeignete Grundlage für die von der Erstinstanz getroffene Entscheidung. Mangels sonstiger ausreichender tatsächlicher Feststellung war das angefochtene Urteil deshalb aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
Unterschriften
Brackmann, Hunger, Dr. Kaiser
Fundstellen