Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Unzulässigkeit der Berufung in der Kriegsopferversorgung. Höhe und Grund einer Waisenausgleichsrente. Umfang des Berufungsausschlusses
Orientierungssatz
1. Ein Streit über die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 Nr 4 SGG liegt auch dann vor, wenn aufgrund der angestellten Berechnungen über die Einkommensverhältnisse des Versorgungsberechtigten die Zahlung einer Ausgleichsrente nicht in Betracht kommt (vgl BSG vom 16.6.1955 - 8 RV 461/54 = BSGE 1, 62 = SozR Nr 1 zu § 215 SGG).
2. Dagegen greift § 148 Nr 4 SGG nicht ein, wenn das Urteil des Sozialgerichts die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts einer Waise nach § 47 Abs 1 BVG betrifft, da es sich insoweit um den Grund der Ausgleichsrente handelt (vgl BSG vom 7.6.1956 - 8 RV 411/54 = BSGE 3, 124 = SozR Nr 5 zu § 148 SGG und vom 26.10.1956 - 8 RV 17/55 = BSGE 4, 70 = SozR Nr 9 zu § 148 SGG).
3. Der Berufungsausschluss nach § 148 SGG idF vom 25.6.1958 richtet sich nicht nach dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung, sondern allein nach dem Beschwerdegegenstand im Berufungsverfahren.
Normenkette
SGG § 148 Nr. 4 Fassung: 1953-09-03, Nr. 4 Fassung: 1958-06-25; BVG § 47 Abs. 1
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 13.10.1955) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts von 13. Oktober 1955 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Durch Bescheid des Versorgungsamts (VersorgA.) R. vom 15. Dezember 1950 wurde der Anspruch der Mutter der Kläger auf Witwenrente nach dem Bayerischen. Körperbeschädigtenleistungsgesetz (KBLG) für die Zeit vom 1. Februar bis 31. März 1947 und vom 1. März 1949 ab anerkannt; die Witwenrente kam jedoch wegen Anrechnung eines monatlichen Nettoeinkommens von 160 DM nicht zur Auszahlung. Mit demselben Bescheid wurde den Klägern die Waisenrente nach dem KBLG gewährt. Das VersorgA. R. bewilligte ferner durch Bescheid vom 30. August 1951 der Witwe und den Waisen die Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), die bei der Mutter der Kläger vom 1. Oktober 1950 ab 40 DM und bei den Klägern je 10 DM monatlich betrug. Die Gewährung von Ausgleichsrente wurde abgelehnt, da der Lebensunterhalt durch die Einkünfte aus der Landwirtschaft der Mutter der Kläger sichergestellt sei.
Durch Urteil vom 14. August 1952 hat das Oberversicherungsamt (OVA.) L. die Berufung der Hutter der Kläger und der Kläger selbst gegen die Bescheide des VersorgA. R. vom 15. Dezember 1950 und 30. August 1951 zurückgewiesen. Streitig vor dem OVA. war lediglich noch der von der Mutter der Kläger nach dem KBLG geltend gemachte Anspruch auf Zahlung einer Witwenrente von 9 DM monatlich und der Anspruch der Kläger selbst auf Ausgleichsrente nach dem BVG. Das OVA. hat die Einkommensverhältnisse der Mutter der Kläger nachgeprüft und festgestellt, daß bei einer landwirtschaftlichen Nutzfläche von 34 Tagwerk Acker und Wiesen sowie 16 Tagwerk Wald ein monatliches Einkommen von mindestens 160 DM anzusetzen sei. Auf Grund dieser Feststellungen ist das OVA. zu der Überzeugung gelangt, daß der Mutter der Kläger keine Witwenrente nach dem KBLG zustehe. Das OVA. hat weiter nach dem BVG geprüft, ob der Lebensunterhalt der Witwe und der drei Waisen durch das Einkommen aus der Landwirtschaft sichergestellt ist. Es hat diese Frage im Hinblick darauf bejaht, daß das 50 Tagwerk große landwirtschaftliche Anwesen bei einem Einheitswert von 8.800 DM schuldenfrei und nur mit einem Austrag belastet sei, der bei der Größe des Anwesens durchaus tragbar erscheine.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.), auf das der Rekurs der Kläger, der zunächst nur von den zwei jüngsten Waisen eingelegt, in der mündlichen Verhandlung aber auf sämtliche Waisen ausgedehnt worden ist, gemäß § 215 Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als Berufung übergegangen ist, hat das Rechtsmittel durch Urteil vom 13. Oktober 1955 als unzulässig verworfen. Es hat die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt, daß der Streit lediglich die Höhe der Ausgleichsrente der Kläger im Sinne des § 148 Nr. 4 SGG betreffe, da die Verwaltungsbehörde und das OVA. Landshut eine Berechnung des Einkommens aus dem landwirtschaftlichen Anwesen vorgenommen und den Betrag von 160 DM monatlich ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hätten. Erst auf Grund dieser Berechnung sei das OVA. zu der Überzeugung gelangt, daß der Lebensunterhalt der Kläger sichergestellt sei.
Gegen dieses am 5. Juni 1956 zugestellte Urteil haben die Kläger mit einem am 15. Juni 1956 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Sie beantragen,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückzuverweisen.
Mit der Revision wird eine Verletzung der §§ 148 Nr. 4 und 150 Nr. 1 SGG gerügt. Es handele sich im vorliegenden Falle nicht um einen Streit über die Höhe der Ausgleichsrente der Kläger, sondern über den Grund des Anspruchs selbst. Daß die Verwaltungsbehörde das Einkommen der Mutter der Kläger aus dem landwirtschaftlichen Anwesen errechnet habe, sei nicht dafür entscheidend, ob das Urteil des OVA. Landshut den Anspruch auf Ausgleichsrente dem Grunde oder der Höhe nach betreffe. Maßgebend sei vielmehr die Begründung des Urteils, daß der Lebensunterhalt der Kläger nach § 47 Abs. 1 BVG auf andere Weise sichergestellt sei. Der Berufungsausschließungsgrund des § 148 Nr. 4 SGG greife daher nicht Platz. Das LSG. habe ferner die Prüfung der Frage unterlassen, ob die Berufung im Hinblick auf die Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG zuzulassen gewesen wäre, weil es sich bei der Sicherstellung des Lebensunterhalts im Sinne des § 47 Abs. 1 BVG um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung handle. Das Berufungsgericht hätte die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG aussprechen und in der Sache selbst entscheiden müssen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision der Kläger gegen das Urteil des Bayerischen LSG. vom 13. Oktober 1955 als unbegründet zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, das LSG. habe die Berufung der Kläger zutreffend als unzulässig verworfen, da die Gewährung von Ausgleichsrente auf Grund einer Berechnung des Einkommens abgelehnt worden sei und daher der Streit nicht die Sicherstellung des Lebensunterhalts, sondern die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 Nr. 4 SGG betreffe. Im übrigen liege ein Verstoß gegen § 150 Nr. 1 SGG nicht vor, da die Frage, ob den Klägern Ausgleichsrente zustehe, nicht von grundsätzlicher Bedeutung sei. In sachlicher Hinsicht sei die Entscheidung des OVA. Landshut nicht zu beanstanden, weil der Lebensunterhalt der Kläger im Hinblick auf das landwirtschaftliche Anwesen von etwa 50 Tagwerk bei einem Einheitswert von 8.800 DM als sichergestellt anzusehen sei.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG); sie ist daher zulässig. Die Revision ist auch begründet.
Die Kläger rügen zutreffend, daß das LSG. zu Unrecht ihre Berufung gegen das Urteil des OVA. L. vom 14. August 1952 als unzulässig verworfen habe. Nach § 148 Nr. 4 SGG in der Fassung des SGG vom 3. September 1953 (BGBl. I S. 1239) können in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung. (KOV.) Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie die Höhe der Ausgleichsrente betreffen. Diese Vorschrift ist durch das am 1. Juli 1958 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl. I S. 409) dahin neu gefaßt worden, daß die Berufung in Angelegenheiten der KOV. nicht zulässig ist, soweit sie die Höhe der Ausgleichsrente betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) ist § 148 SGG a.F. dahin auszulegen, daß der Ausschluß der Berufung nach dem Inhalt der angefochtenen Entscheidung, dagegen nicht nach dem Beschwerdegegenstand in Berufungsverfahren zu beurteilen ist (BSG. 1 S. 225 [226] und SozR. SGG § 148 Bl. Da 2 Nr. 6). Demgegenüber richtet sich nach § 148 SGG in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG der Berufungsausschluß allein nach dem Beschwerdegegenstand im Berufungsverfahren. Nach der früher herrschenden Meinung hatte das Revisionsgericht im Falle einer Gesetzesänderung bei der Nachprüfung des Berufungsurteils das Recht anzuwenden, das im Zeitpunkt des Erlasses des Berufungsurteils galt. Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsauffassung aufgegeben und ausgesprochen, daß das angefochtene Urteil grundsätzlich auf der Grundlage des bei der Verkündung des Urteils des Revisionsgerichts geltenden Rechts zu prüfen sei, sofern es nach seinem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfasse, da es nicht entscheidend sei, ob das Berufungsgericht subjektiv eine Rechtsnorm nicht beachte, sondern ob objektiv eine Rechtsverletzung vorliege (BGHZ. 9 S. 101 = NJW 1953 So 941; vgl, auch BAG. in NJW 1956 S. 39). Die Frage, ob bei den am 1. Juli 1958 in der Revisionsinstanz noch anhängigen Streitsachen die Vorschrift des § 148 Nr. 4 SGG in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG von 25. Juni 1958 anzuwenden ist - und zwar auch dann, wenn das Berufungsgericht bei Erlaß seines Urteils vor diesem Zeitpunkt zwangsläufig § 148 Nr. 4 SGG a.F. anwenden mußte - kann jedoch dahingestellt bleiben, da im vorliegenden Falle die Berufung der Kläger gegen das Urteil des OVA. Landshut vom 14. August 1952 sowohl nach § 148 SGG in der alten Fassung als auch in der neuen Fassung zulässig ist.
Ein Streit über die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 Nr. 4 SGG liegt auch dann vor, wenn auf Grund der angestellten Berechnungen über die Einkommensverhältnisse des Versorgungsberechtigten die Zahlung einer Ausgleichsrente nicht in Betracht kommt; denn auch in diesem Falle liegt nicht ein Streit über die sonstigen Voraussetzungen der Ausgleichsrente - mit Zulässigkeit der Berufung - vor, sondern ein Streit über die Höhe der Ausgleichsrente (BSG. 1 S. 62 [66, 67] = SosR. SGG § 148 Bl. Da 1 Nr. 2)" Dagegen greift § 148 Nr. 4 SGG a.F. nicht ein, wenn das Urteil des SG. die Frage der Sicherstellung des Lebensunterhalts einer Waise nach § 47 Abs. 1 BVG betrifft, da es sich insoweit um den Grund der Ausgleichsrente handelt (vgl. die Urteile des erkennenden Senats vom 7. 6. und 26.10.1956 in BSG. 3 S. 124 [126, 127] = SozR. SGG § 148 Bl. Da 2 Nr. 5 und in BSG. 4 S. 70 [72] = SozR. SGG § 148 Bl. Da 4 Nr. 9). Das OVA. Landshut hat in seinem Urteil vom 14. August 1952 die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche auf Gewährung von Ausgleichsrente nicht auf Grund der Berechnung ihres sonstigen Einkommens abgelehnt, sondern seine Entscheidung hinsichtlich der Waisenausgleichsrenten ausdrücklich damit begründet, daß der Lebensunterhalt der Kläger durch das Einkommen ihrer Mutter aus der Landwirtschaft sichergestellt sei. Das Berufungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil übersehen, daß das OVA. die Prüfung der Einkommensverhältnisse und die Berechnung der Einkünfte aus dem landwirtschaftlichen Anwesen lediglich im Hinblick auf den von der Mutter der Kläger geltend gemachten Anspruch auf Zahlung einer Witwenrente nach dem KBLG vorgenommen hat. Die Entscheidungsgründe schließen hinsichtlich dieses Witwenrentenanspruchs nach dem KBLG, der im vorliegenden Verfahren nicht mehr streitig ist, mit der Feststellung ab, daß die Berechnung des Einkommens der Mutter der Kläger von dem Beklagten richtig vorgenommen worden sei. Alsdann hat das OVA. nach dem BVG die Frage geprüft, ob der Lebensunterhalt der Witwe und der drei Waisen durch das Einkommen aus der Landwirtschaft sichergestellt ist. Es hat diese Frage bejaht und seine Überzeugung nicht auf einzelne Berechnungen des sonstigen Einkommens, sondern darauf gestützt, daß die 50 Tagwerk große Landwirtschaft bei einem Einheitswert von 8.800 DM schuldenfrei und nur mit einem Austrag belastet sei, der bei der Größe des Anwesens durchaus tragbar erscheine. In diesem Zusammenhang hat das OVA. noch ausdrücklich ausgesprochen, daß der Lebensunterhalt schon bei Gewährung des notwendigen Unterhalts sichergestellt sei. Hiernach betrifft das Urteil des OVA. L.; nicht die Höhe der Ausgleichsrente im Sinne des § 148 SGG a.F., sondern den Grund des Anspruchs, nämlich die Sicherstellung des Lebensunterhalts im Sinne des 47 Abs. 1 BVG. Die Berufung der Kläger ist somit nach dem bis zum 1. Juli 1558 geltenden Recht zulässig. Beschwerdegegenstand im Berufungsverfahren vor dem LSG. war lediglich der von den Klägern geltend gemachte Anspruch auf Gewährung von Waisenausgleichsrente; insoweit kommt aber auch ein Ausschluß der Berufung nach § 148 SGG in der Fassung des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG nicht in Betracht, da die Berufung nicht die Höhe der Ausgleichsrente betrifft. Denn es handelt sich im vorliegenden Falle - wie bereits oben dargelegt - nicht um die Frage, in welcher Höhe den Klägern auf Grund der Berechnung ihres sonstigen Einkommens eine Waisenausgleichsrente zusteht, sondern um die Frage, ob ihr Lebensunterhalt auf andere Weise im Sinne des § 47 Abs. 1 BVG sichergestellt ist. Die Berufung der Kläger ist daher sowohl nach der alten als auch nach der neuen Fassung des § 148 Nr. 4 SGG zulässig. Das angefochtene Urteil mußte hiernach wegen Verstoßes gegen diese Vorschrift aufgehoben werden.
Das LSG. hat eigene Feststellungen zu der Frage, ob der Lebensunterhalt der Kläger im Sinne des § 47 Abs. 1 BVG sichergestellt ist, nicht getroffen, weil es die Berufung gegen das Urteil des OVA. Landshut als unzulässig verworfen hat. Da insoweit keine ausreichende Grundlage für eine Entscheidung des erkennenden Senats in der Sache selbst gegeben ist, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Im übrigen wird das LSG. auch noch zu prüfen haben. ob der älteste Kläger, J. R., rechtswirksam Berufung eingelegt hat. In der Rekursschrift vom 18. September 1952 ist jedenfalls nur eine Entscheidung darüber beantragt worden, daß den zwei jüngsten Waisen Ausgleichsrente nach dem BVG zusteht. Erst in der mündlichen Verhandlung am 13. Oktober 1955 hat der Prozeßbevollmächtigte der Kläger beantragt, den drei Waisen vom 1. Oktober 1950 ab die volle Ausgleichsrente zuzusprechen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen