Entscheidungsstichwort (Thema)

Rücknahme eines Verwaltungsakts. Kenntnis. Jahresfrist. Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Änderung der Verhältnisse

 

Leitsatz (amtlich)

Die für den Beginn der Jahresfrist des § 45 Abs 4 S 2 SGB X maßgebliche Kenntnis der Tatsachen setzt voraus, daß der Leistungsträger sämtliche für die Rücknahmeentscheidung erheblichen Tatsachen vollständig kennt.

Bei Ableitung der Aufhebungsentscheidung aus § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 iVm Abs 4 SGB X gehört hierzu auch die Kenntnis davon, daß der Leistungsempfänger die Rechtsgrundlosigkeit der (weiteren) Leistung gekannt oder infolge einer Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße nicht gekannt hat (Fortführung von BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26).

 

Normenkette

SGB X §§ 45, 48; AVG § 45 (= RVO § 1268)

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 22.07.1993; Aktenzeichen L 5 A 61/92)

SG Koblenz (Urteil vom 11.09.1992; Aktenzeichen S 10 A 19/92)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. Juli 1993 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines rückwirkenden Teilaufhebungs- und -rückforderungsbescheids der Beklagten.

Der beklagte Rentenversicherungsträger gewährte der Klägerin mit Bescheid vom 23. Januar 1984 erhöhte Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen Ehemanns, weil sie mit dem Sohn Volker (geboren am 14. November 1970) ein waisenrentenberechtigtes Kind erzog. In diesem Bescheid wie im Neufeststellungsbescheid vom 5. April 1984 wies sie die Klägerin auf ihre Obliegenheit hin, Änderungen in den Verhältnissen unverzüglich mitzuteilen; die “Erziehung” eines Kindes ende in der Regel, sobald das Kind volljährig werde (also mit der Vollendung des 18. Lebensjahres).

Für das Kind Volker gewährte die Beklagte Halbwaisenrente mit Bescheid vom 12. Januar 1984 und nach Vorlage einer entsprechenden Schulausbildungsbescheinigung weiter mit Bescheid vom 31. März 1989. In einem Aktenvermerk der Beklagten vom 8. November 1988 heißt es : “An T + R- Stelle, bitte KT-Termin 11/88 … beachten”. Auf dem gleichen Blatt ist unter dem 15. November 1988 vermerkt: “KT 12 88 18J SG”. Nach Anfrage der Universität T.… vom März 1991, ob die Klägerin Witwenrente beziehe, heißt es in einem weiteren Aktenvermerk vom 25. April 1991, die Aktendurchsicht außerhalb des Klageverfahrens wegen eines Zeitenstreites der Geschiedenen habe ergeben, daß die Klägerin weiterhin Hinterbliebenenrente nach § 45 Abs 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) beziehe, obwohl die Waise Volker das 18. Lebensjahr bereits vollendet habe.

Nach entsprechender Anhörung wandelte die Beklagte die erhöhte Witwenrente mit Bescheid vom 13. August 1991 rückwirkend zum 1. Dezember 1988 in die “kleine” Witwenrente um und forderte von der errechneten Überzahlung nach entsprechender Ermessensausübung (§ 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – ≪SGB X≫) die Hälfte gemäß § 50 SGB X zurück, wobei sie von einem Mitverschulden der Beklagten ausging, weil sie bei der Überprüfung des Waisenrentenanspruchs über das 18. Lebensjahr hinaus Kenntnis vom Wegfall des Anspruchs auf erhöhte Witwenrente gehabt habe. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Bescheid vom 15. Januar 1992).

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. September 1992), das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung der Klägerin das erstinstanzliche Urteil sowie den Ausgangsbescheid der Beklagten aufgehoben, weil es die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 iVm § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X für versäumt gehalten hat (Urteil vom 22. Juli 1993). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Der Versicherungsträger könne die Änderung der Verhältnisse nach § 48 SGB X nur “innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen” geltend machen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigten. Dabei komme es nur auf die Kenntnis der Wegfalltatsachen, nicht aber auf deren rechtliche Einordnung – auf die Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bescheides – an. Die Vollendung des 18. Lebensjahres des Sohnes Volker der Klägerin sei der Beklagten bereits zu Beginn des Hinterbliebenen- und Waisenrentenverfahrens bekannt gewesen. Die Kenntnis dieser Tatsache durch die Beklagte sei durch die Aktenvermerke im November 1988 nachgewiesen. Selbst wenn als späterer Termin der Kenntniserlangung die Weiterbewilligung der Waisenrente (Bescheid vom 31. März 1989) angesehen werden könnte, sei die Jahresfrist versäumt.

Die Beklagte hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X, weil das angefochtene Urteil – entgegen der Rechtsprechung des BSG und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) – auf der Erwägung beruhe, daß die im Verwaltungsverfahren zuständige Behörde maßgebliche Kenntnis von einem die Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigenden Umstand bereits vor Eintritt dieses Umstandes selbst erlangt haben könne. Sie ist der Auffassung des LSG entgegengetreten, maßgebliche Tatsache iS des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X sei die Vollendung des 18. Lebensjahres durch den Sohn Volker; auf die rechtliche Schlußfolgerung komme es nicht an, auch nicht darauf, ob die Rechtswidrigkeit des Fortbestandes der erhöhten Witwenrente von der Beklagten erkannt worden sei, sondern lediglich auf die Aktenkundigkeit der Tatsache, aus der ohne weiteres der Schluß auf die Rücknahme des rechtswidrig gewordenen begünstigenden Verwaltungsakts habe gezogen werden können. Demgegenüber vertritt die Beklagte die Auffassung, daß nicht bereits die Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes die Rücknahmefrist in Lauf zu setzen vermöge und daß die vollständige Kenntnis des für die Entscheidung über die Rücknahme des Verwaltungsaktes erheblichen Sachverhalts nötig sei. Bei der für die Witwenrentenberechnung zuständigen Sachbearbeitung sei aber zwischen dem 30. November 1988 und dem 25. April 1991 keine positive Kenntnis darüber erlangt worden, daß der die große Witwenrente gewährende Bescheid inzwischen rechtswidrig geworden war.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 11. September 1992 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die Rügen der Beklagten für unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II

Die kraft Zulassung durch das BSG statthafte Revision der Beklagten ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG begründet. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Ob die Beklagte ihre Rücknahmeentscheidung innerhalb der Jahresfrist der § 48 Abs 4 Satz 1, § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X getroffen hat, läßt sich nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand nicht im vollen Umfang des maßgebenden rechtlichen Tatbestandes beurteilen. Hierzu bedarf es vielmehr noch der Aufklärung im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X, ob die Klägerin wußte oder wegen Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße nicht wußte, daß der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch auf erhöhte Witwenrente weggefallen war, und der Beklagten dies auch bekannt war.

Für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes auf der Grundlage des § 48 Abs 1 SGB X gilt nach Abs 4 Satz 1 der Vorschrift die Regelung des § 45 Abs 4 SGB X entsprechend. Die Behörde muß daher den Verwaltungsakt innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen aufheben, die seine Rücknahme wegen wesentlicher Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen für die Vergangenheit rechtfertigen. Diese Jahresfrist hat die Beklagte insofern gewahrt, als sie den Umwandlungsbescheid am 13. August 1991 erlassen hat. Das geschah innerhalb eines Jahres nach ihrer mit Aktenvermerk vom 25. April 1991 dokumentierten Kenntnis von dem Umstand, daß der Sohn der Klägerin 18 Jahre alt geworden war. Für den Beginn der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ist nach den bisherigen Feststellungen des LSG der Aktenvermerk als maßgebend anzusehen.

Soweit das LSG darauf abstellt, daß die Beklagte die Wegfalltatsache der Vollendung des 18. Lebensjahres aufgrund der Aktenkundigkeit des Geburtsdatums bereits zu Beginn des Hinterbliebenen- und Waisenrentenverfahrens gekannt habe bzw die Kenntnis der Vollendung des 18. Lebensjahres durch die Vermerke vom 8. und 15. November 1988 nachgewiesen sei, handelt es sich nicht um eine iS des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X maßgebliche Kenntnis. Denn das Wissen um einen die Rücknahme rechtfertigenden Umstand, das schon vor dem realen Eintritt des Umstandes besteht, sich also auf ein künftiges Ereignis bezieht, ist keine “Kenntnis” iS des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Dem Sachgehalt nach läßt sich hier nur von der “Erwartung”, daß etwas geschehen wird, mit der bei Erwartungen stets gegebenen Unsicherheit sprechen, ob sich die Verhältnisse auch tatsächlich so wie ins Auge gefaßt entwickeln. Eine derart faktisch offene Situation ist aber nicht geeignet, rechtlich ausreichende Grundlage für einen Eingriff in die Rechtsposition eines Versicherten von der Schwere zu sein, wie sie in der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsaktes liegt. Die erforderliche Gewißheit der Beurteilungsbasis ist vielmehr erst erreicht, wenn die “die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen” objektiv existent und damit unumstößlich geworden sind. Eine auf sie bezogene Kenntnis kann folgerichtig auch nicht eher Anknüpfungspunkt für eine Rechtsfolge sein, als die Erwartung zur Wirklichkeit geworden ist.

Der Umfang der erforderlichen “Kenntnis der Tatsachen” als Beginn der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X richtet sich nach dem Tatbestand der Aufhebungsnorm. Im Fall der Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes setzt die Rücknahme voraus, daß die Behörde in erster Linie Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes hat, sodann aber auch sämtliche für die Rücknahmeentscheidung außerdem erheblichen Tatsachen vollständig kennt (so BVerwG Großer Senat Beschluß vom 19. Dezember 1984 – GrS 1, 2/84 – NJW 1985, 819 – zu § 48 des Verwaltungsverfahrensgesetzes). Bei der “entsprechenden” Anwendung der Jahresfristregelung auf die Aufhebungsvorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X muß das maßgebende Wissen der Behörde die Tatsachen und Umstände betreffen, die die “wesentliche Änderung” der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse bei Erlaß des aufzuhebenden Verwaltungsakts darstellen. Im Fall der Gewährung einer sog großen Witwenrente nach § 1268 Abs 2 RVO wegen Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes sind dies die Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes, der damit verbundene Wegfall der Rechtsgrundlage für die Zahlung einer großen Witwenrente sowie – bei Ableitung der Aufhebungsentscheidung aus § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X – die Kenntnis davon, daß die Witwe die Rechtsgrundlosigkeit der über das angeführte Datum hinaus erbrachten Zahlungen gekannt oder wegen Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maß nicht gekannt hat (in diesem Sinn bereits, wenn auch bezogen auf § 50 Abs 2 SGB X, BSG, Urteil vom 9. September 1986 – 11a RA 2/85 – BSGE 60, 239 = SozR 1300 § 45 Nr 26).

Nachdem die Beklagte am 25. April 1991 durch eine Anfrage der Universität T.… auf den Hinterbliebenenrentenbezug der Klägerin gemäß § 45 Abs 2 AVG trotz Vollendung des 18. Lebensjahres des Sohnes Volker aufmerksam geworden war, ist ihre Kenntnis der wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse bezüglich eines weiteren Leistungsbezugs im Dauerrechtsverhältnis erstmals durch den Aktenvermerk dieses Datums dokumentiert. Daß sie zu diesem Zeitpunkt allerdings nur Kenntnis der objektiven Umstände – Vollendung des 18. Lebensjahres des Sohnes der Klägerin – hatte, nicht aber wußte, ob der Klägerin der Wegfall des Leistungsanspruchs kraft Gesetzes bekannt oder infolge einer Sorgfaltspflichtverletzung in besonders schwerem Maße nicht bekannt war, legt das Anhörungsschreiben vom 2. Mai 1991 nahe, womit sie die Klägerin auf die beabsichtigte Umwandlung der Rente in eine Witwenrente nach § 45 Abs 1 AVG hinwies. Hiernach war die Beklagte zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht ohne weitere Sachaufklärung in der Lage, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens (§ 48 Abs 1 Satz 2 SGB X) über die Rücknahme des Verwaltungsakts zu entscheiden. Denn die in § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X normierten Voraussetzungen für die Aufhebung des Witwenrentenbescheids vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an waren der Beklagten nicht bekannt.

Das LSG wird mithin noch Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die Klägerin wußte oder wegen Verletzung der erforderlichen Sorgfalt in besonders schwerem Maße nicht wußte, daß der sich aus dem Leistungsbewilligungsbescheid ergebende Anspruch auf erhöhte Witwenrente weggefallen war, und ab welchem Zeitpunkt die Beklagte hiervon ggf Kenntnis hatte.

Abhängig hiervon wird das LSG ferner zu prüfen haben, ob die Beklagte das ihr durch § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

NVwZ 1996, 1248

Breith. 1996, 926

SozSi 1997, 68

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