Leitsatz (amtlich)
Die in BVG § 38 Abs 1 S 2 normierte Rechtsvermutung des Todes eines Beschäftigten als Schädigungsfolge gilt stets, aber auch nur dann, wenn das Leiden, für das dem Beschädigten im Zeitpunkt seines Todes Rente zuerkannt war, den Tod verursacht hat. Dieser ursächliche Zusammenhang zwischen dem anerkannten Leiden und dem Tod ist nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung festzustellen und im Falle der bejahenden Feststellung nach dem im Versorgungsrecht maßgebenden Rechtsbegriff der Ursache (Verursachung) zu beurteilen.
Normenkette
BVG § 38 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 19. Juni 1957 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayerische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin bezog auf Grund einer Umanerkennungsbescheides des Versorgungsamts (VersorgA.) Würzburg vom 15. Februar 1952 Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um 50 v.H. Als Schädigungsfolgen waren anerkannt: Rheumatismus und Herzbeschwerden, die er sich während des ersten Weltkrieges zugezogen hatte. Am 27. Juni 1952 starb der Ehemann der Klägerin im Alter von 75 Jahren. Im Leichenschauschein sind als Todesursache akute Herz- und Kreislaufschwäche, als Grundleiden Careinomverdacht, als Begleitkrankheiten Hypertension, Vitium Cordis und beginnende Dekompensation, als Nachkrankheit Perniciosa angegeben.
Die Klägerin beantragte am 30. Juni 1952 bei der Gemeindeverwaltung Geisingen, ihr Witwenrente nach dem BVG zu gewähren. Das VersorgA. Würzburg lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12. Dezember 1952 ab, da als Todesursache mit Wahrscheinlichkeit eine bösartige Geschwulst anzunehmen sei, die mit dem anerkannten Versorgungsleiden (Rheumatismus und Herzbeschwerden) in keinem Zusammenhang stehe. Das Oberversicherungsamt (OVA.) Würzburg wies die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 15. September 1953 zurück. Auf den Rekurs der Klägerin, der nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung neuen Rechts auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) überging, hob das LSG. dieses Urteil und den angefochtenen Bescheid durch Urteil vom 19. Juni 1957 auf und sprach der Klägerin Witwenrente nach dem BVG vom 1. Juli 1952 ab dem Grunde nach zu.
Das LSG. stützt seine Entscheidung auf § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG. Es führt dazu aus, der Ehemann der Klägerin habe bis zu seinem Tode wegen Rheumatismus und Herzbeschwerden Rente nach einer MdE. um 50 v.H. bezogen. Dieser Grad der MdE. habe seit Jahrzehnten bestanden. Der Tod sei laut Leichenschauschein durch eine akute Herz- und Kreislaufschwäche eingetreten. Zudem hätten als Begleitkrankheiten des Krebsleidens eine Hypertension, ein Vitium cordis und eine beginnende Dekompensation, also erhebliche organische Herzschädigungen, bestanden. Da bei dem Ehemann der Klägerin ein Herzleiden im Sinne der Entstehung als Schädigungsfolge anerkannt war, für das er bis zu seinem Tode Rente bezogen hat, sei "eine sachliche Nachprüfung des ursächlichen Zusammenhangs ausgeschlossen". Bei dieser Rechtslage könne der Auffassung der Ärzte Dr. B... und Dr. V... in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 28. August 1952 sowie des ärztlichen Sachverständigen des OVA. Dr. J... im Gutachten vom 15. September 1953, die den ursächlichen Zusammenhang sachlich geprüft haben, nicht gefolgt werden. Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen.
Gegen das am 14. September 1957 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 4. Oktober 1957 Revision eingelegt. Er hat beantragt,
das Urteil des Bayer. LSG. aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des OVA. Würzburg vom 15. September 1953 zurückzuweisen; hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayer. LSG. zurückzuverweisen.
Die Revisionsbegründungsschrift des Beklagten ist innerhalb der bis 14. Dezember 1957 verlängerten Revisionsbegründungsfrist am 6. Dezember 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen. Der Beklagte rügt darin eine Verletzung des § 38 BVG, wesentliche Mängel des Verfahrens durch Verstöße gegen die §§ 103, 128 SGG (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) sowie eine Verletzung des Rechtsbegriffs des ursächlichen Zusammenhangs (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Der Beklagte macht geltend, das LSG. habe den Ursachenbegriff im Sinne des § 38 BVG verkannt. Die Prüfung der Frage, ob das zum Tode führende Leiden mit dem anerkannten Rentenleiden in einem ursächlichen Zusammenhang stehe, werde durch die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG nicht ausgeschlossen, sie sei vielmehr Voraussetzung dieser Rechtsvermutung. Infolge seiner rechtsirrigen Auslegung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG habe das LSG. den ursächlichen Zusammen hang zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen und dem Tod des Ehemannes der Klägerin nicht geprüft und dadurch seine Aufklärungspflicht (§ 103 SGG) verletzt. Sofern das LSG. festgestellt habe, daß das zum Tode führende Leiden mit dem Rentenleiden identisch ist, sei diese Feststellung das Ergebnis ungenügender Sachaufklärung und unter Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung zustande gekommen. Denn die im Verwaltungsverfahren und im Klageverfahren gehörten ärztlichen Sachverständigen hätten einen Zusammenhang zwischen Todesleiden und Rentenleiden ausgeschlossen. Das LSG. habe seine Feststellung "ohne sachverständige Widerlegung" der (entgegengesetzten) Auffassung der ärztlichen Sachverständigen getroffen.
Schließlich führt der Beklagte aus, nach dem Leichenschauschein habe eine Anämie, deren Entstehungsursache unbekannt sei, zum Tode geführt. Nach ärztlicher Erfahrung sei es unwahrscheinlich, daß die Anämie mit den anerkannten funktionellen Herzbeschwerden in ursächlichem Zusammenhang stehe. Aus der Tatsache allein, daß Herzbeschwerden anerkannt gewesen seien und der Tod infolge akuter Herz- und Kreislaufschwäche eingetreten sei, lasse sich der ursächliche Zusammenhang noch nicht bejahen. Es komme darauf an, welche der verschiedenen Gesundheitsstörungen die wesentliche Ursache für den Tod sei. Wesentlich für den Tod des Ehemannes der Klägerin sei das Grundleiden, die Anämie, gewesen. Mit dieser Frage habe sich das LSG. nicht auseinandergesetzt, vor allem es unterlassen, einen Facharzt hierzu zu hören. Ein fachärztliches Gutachten sei aber notwendig.
Die Klägerin hat beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Sie ist der Ansicht, das Verfahren des LSG. sei nicht mangelhaft; eine Verletzung des § 38 BVG mache die Revision des Beklagten nicht statthaft.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision (§ 164 SGG) ist zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist statthaft, weil der Beklagte einen wesentlichen Mangel des Verfahrens des LSG. gerügt hat, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Auf eine Verletzung des § 38 Abs. 1 BVG, einer sachlichrechtlichen Vorschrift, kann die Statthaftigkeit der Revision nicht gestützt werden (vgl. BSG. 7, 53 [56, 57]). Damit der Sinn der übrigen Revisionsangriffe verständlich wird, ist zunächst klarzustellen, welche Feststellungen in dem angefochtenen Urteil enthalten sind. Das LSG. erwähnt in seinem Urteil mehrmals den "ursächlichen Zusammenhang", ohne die Vorgänge zu bezeichnen, zwischen denen ein ursächlicher Zusammenhang gedacht werden soll. Es spricht sich auch nicht deutlich darüber aus, wie sich die akute Herz- und Kreislaufschwäche, an welcher der Beschädigte gestorben ist, zu den als Schädigungsfolgen anerkannten Herzbeschwerden verhält. Dem angefochtenen Urteil kann infolgedessen nur schwer entnommen werden, welche Tatsachen das LSG. als Grundlage seiner rechtlichen Beurteilung festgestellt hat. Ob hierin ein wesentlicher Verfahrensmangel liegt, der die Revision statthaft machen könnte, muß dahingestellt bleiben, weil er von der Revision nicht gerügt ist.
Bei richtiger Anwendung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG mußte das LSG. prüfen, ob das Leiden, für das der Beschädigte im Zeitpunkt seines Todes Beschädigtenrente bezogen hat, dasselbe war, das den Tod verursacht hat. Obwohl auch die rechtlichen Erwägungen des LSG. nicht ganz klaren Ausdruck gefunden haben, ergibt sich aus dem Urteil, daß das LSG. selbst diese Frage für rechtserheblich hielt. In Übereinstimmung mit der Revisionsbegründung ist anzunehmen, daß das LSG. jene Voraussetzung des streitigen Anspruchs als erfüllt angesehen hat: Es hat dem Sinne nach festgestellt, daß die dem Tod vorhergehende akute Herzschwäche mit den im Umanerkennungsbescheid vom 15. Februar 1952 anerkannten Herzbeschwerden identisch ist. Gegen diese Feststellung richtet sich ein Angriff der Revision mit der Begründung, sie beruhe auf einem Verstoß gegen den Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Dieser von der Revision gerügte wesentliche Mangel des Verfahrens liegt auch vor.
Das LSG. hätte zunächst durch Auslegung der Verwaltungsbescheide ermitteln müssen, welche Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge und als Leistungsgrund anerkannt war (vgl. dazu BSG. 3 S. 45 [48]). Es spricht einmal von Herzbeschwerden, dann von Herzleiden, einmal davon, daß es im Sinne der Entstehung anerkannt war, dann davon, daß es durch Dienstbeschädigung wesentlich verschlimmert worden ist. Es berücksichtigt nicht, daß es eine Vielzahl von Herzleiden gibt, die nach ihrem Sitz und ihren funktionellen Folgen unter sich verschieden sind. Sodann mußte das LSG. prüfen, ob das als Schädigungsfolge anerkannte Leiden den Tod des Beschädigten im tatsächlichen Sinne verursacht hat und ob es als die wesentliche Ursache des Todes im Rechtssinne anzusehen ist. Für die Beurteilung des Zusammenhangs zwischen dem als Schädigungsfolge anerkannten Leiden und dem Tod des Beschädigten gelten die allgemeinen Grundsätze über den ursächlichen Zusammenhang (vgl. BSG. 7, 53).
Der Beklagte rügt mit Recht, daß das LSG. bei dem Verfahren, das zu der angegriffenen Tatsachenfeststellung geführt hat, die vorliegenden Gutachten der medizinischen Sachverständigen nicht gewürdigt hat (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG). Das LSG. hat das Rentenleiden und das zum Tode führende Leiden ohne zulängliche Begründung einander gleichgesetzt. Der Gerichtsarzt des OVA. Würzburg, Dr. J... (Gutachten vom 15. September 1953) und der Versorgungsarzt Dr. B... (Gutachten vom 28. August 1952 nebst dem zustimmenden Prüfungsvermerk des Regierungsmedizinalrats Dr. V... die sich auf die Bekundungen des behandelnden Arztes Dr. K... stützen, haben die Ansicht geäußert, daß die anerkannten Herzbeschwerden den Tod des Ehemannes der Klägerin nicht verursacht haben. Auch der behandelnde Arzt Dr. K... sieht nach seinem Bericht vom 18. August 1952 eine Anämie als das zum Tode führende Leiden an. Das LSG. hat diese für die streitige Tatsachenfrage wesentlichen Verfahrensergebnisse entgegen seiner Pflicht, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens sich zu bilden (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG), nicht berücksichtigt. Das LSG. hat als Grund, aus dem der Auffassung der ärztlichen Sachverständigen Dr. B... Dr. V... und Dr. J... "nicht gefolgt werden kann", die "Rechtslage" angeführt. Es hätte jedoch von seiner Rechtsauffassung aus die Gutachten der ärztlichen Sachverständigen würdigen müssen. Das LSG. hat dadurch § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verletzt (vgl. BSG. 1 S. 91 [94], SozR. SGG § 128 Da 1 Nr. 2, Da 4 Nr. 11, Da 5 Nr. 12). In diesem Verstoß liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens.
Die Revision ist auch begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; denn das LSG. wäre möglicherweise zu einer anderen Tatsachenfeststellung gekommen und hätte dann auch im Ergebnis anders entschieden, wenn es den Verfahrensmangel vermieden hätte (§ 162 Abs. 2 SGG).
Das angefochtene Urteil war daher nebst den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben, ohne daß es auf die weiteren Rügen des Beklagten ankommt. Das BSG. konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da der Sachverhalt, von dem die Entscheidung über den Anspruch auf Witwenrente abhängt, verfahrensrechtlich nicht einwandfrei (§ 163 SGG) festgestellt ist. Der Rechtsstreit war daher an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Das LSG. wird bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung die Anspruchsvoraussetzungen im Sinne des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG schärfer im einzelnen auseinander halten müssen. Die unwiderlegliche Vermutung, die in dieser Vorschrift als Rechtsfolge normiert ist, bezieht sich auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen einer Schädigung im Sinne des BVG und dem Tod des Beschädigten. Sie gilt stets, aber auch nur dann, wenn das Leiden, für das dem Beschädigten im Zeitpunkt seines Todes Rente zuerkannt war, den Tod verursacht hat. Diese Frage ist nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung festzustellen und im Falle der bejahenden Feststellung nach dem im Versorgungsrecht maßgebenden Rechtsbegriff der Ursache (Verursachung) zu beurteilen (vgl. RVGer. 12 S. 260 Nr. 75; BSG. 7, 53). Wenn es nach der Ansicht des LSG. auf Grund der erneuten Verhandlung etwa darauf ankäme, ob das anerkannte Rentenleiden den Tod nur mittelbar verursacht hat, so wird die Rechtsvermutung des § 38 Abs. 1 Satz 2 BVG - entgegen der Auslegung der §§ 34, 36 RVG durch das Reichsversorgungsgericht (RVGer. 13 S. 185 Nr. 45) - ebenso Platz greifen, wie wenn es sich um einen unmittelbaren Zusammenhang handelte. Das LSG. wird daher unter Würdigung aller Umstände, nötigenfalls nach weiterer Aufklärung des Sachverhalts, feststellen müssen, ob die als Schädigungsfolge anerkannten Herzbeschwerden den Tod des Ehemannes der Klägerin im tatsächlichen Sinn verursacht haben. Sollte es dies bejahen, bleibt noch zu prüfen, ob nicht auch andere Ursachen für den Tod des Ehemannes der Klägerin im tatsächlichen Sinne erheblich gewesen sind. Haben mehrere Krankheiten durch ihr Zusammenwirken zum Tode geführt, so kommt es darauf an, welche von ihnen als die wesentliche Todesursache anzusehen ist. Nur wenn das Rentenleiden die wesentliche Ursache des Todes war, greift die gesetzliche Vermutung Platz, nach der die Notwendigkeit eines Beweises, daß der Tod auf eine Schädigung ursächlich zurückzuführen ist, entfällt.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen