Leitsatz (amtlich)
Ist jemand im zweiten Weltkrieg bei dem Versuch, nach einem nächtlichen Fliegerangriff aus seinem durch Brandbomben beschädigten Haus Einrichtungsgegenstände zu retten, von Plünderern getötet worden, so ist der Tod Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des BVG § 5 Abs 1 Buchst e.
Normenkette
BVG § 5 Abs. 1 Buchst. e Fassung: 1953-08-07
Tenor
1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Oktober 1957 wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat der Klägerin die durch das Revisionsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin wurde am 30. August 1944 nach einem nächtlichen feindlichen Fliegerangriff auf Stettin bei dem Versuch, aus seinem durch Brandbomben beschädigten Haus Teile seiner Wohnungseinrichtung zu holen und in Sicherheit zu bringen, von Plünderern erstochen
Das Versorgungsamt Frankfurt/M. lehnte mit Bescheid vom 22. April 1953 den Antrag der Klägerin vom 3. März 1951 auf Gewährung von Hinterbliebenenversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) mit der Begründung ab, der Tod sei nicht die Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 BVG. Die von der Klägerin gegen diesen Bescheid an das Oberversicherungsamt Wiesbaden eingelegte Berufung (alten Rechts), die nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Wiesbaden übergegangen ist, hatte Erfolg. Durch Urteil vom 18. Juli 1955 hat das SG. den angefochtenen Bescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin Witwenrente in gesetzlicher Höhe seit Antragstellung zu gewähren, da die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG vorlägen.
Das Hessische Landessozialgericht hat durch Urteil vom 16. Oktober 1957 die Berufung des Beklagten, der Klagabweisung beantragt hatte, zurückgewiesen. Nach der Auffassung des LSG. ist der Tod des Ehemanns der Klägerin durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung, und zwar durch eine nachträgliche Auswirkung kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, herbeigeführt worden (§ 1 Abs. 2 Buchst. a, § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG). Das LSG. führt hierzu aus, die durch den Luftangriff auf Stettin in der Nacht zum 30. August 1944 ausgelösten Zustände- das allgemeine Durcheinander der Bevölkerung, das Offenstehen von Häusern und Wohnungen, das Umherstehen von Möbeln und Haushaltsgeräten mit Inhalt im Freien, dazu noch bei Verdunkelung - seien nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge. Eine weitere nachträgliche Auswirkung bestehe darin, daß verbrecherische Elemente diese Zustände ausnutzten, um zu plündern. Derartige Plünderer, die im Falle ihrer Entdeckung mit der Todesstrafe rechnen mußten, hätten einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich gebildet. Die Gefahr sei um so größer gewesen, wenn mehrere Personen zu wiederholten Plünderungen sich zusammengetan hatten. Der Ehemann der Klägerin habe die drei Plünderer entdeckt, die zu ihrer eigenen Sicherheit verhindern mußten, entdeckt zu werden, und sei (deshalb) von ihnen oder einem von ihnen getötet worden. Das LSG. hat die Revision zugelassen
Der Beklagte hat gegen das ihm am 31. Oktober 1957 zugestellte Urteil des LSG. Revision eingelegt. Die Revisionsschrift mit Begründung ist am 19. November 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen und enthält den in der mündlichen Verhandlung wiederholten Antrag,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 16. Oktober 1957 und des Sozialgerichts Wiesbaden vom 18. Juli 1955 aufzuheben und die Klage gegen den Verwaltungsakt vom 22. April 1953 als unbegründet abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 16. Oktober 1957 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte rügt die Verletzung des § 1 Abs. 2 BVG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG und begründet die Rüge damit, daß der kriegseigentümliche Gefahrenbereich, den der Bombenangriff auf Stettin in dem durch Brandbomben beschädigten Haus hinterlassen hat, sich nicht nachträglich schädigend auf die Gesundheit des Ehemannes der Klägerin ausgewirkt habe. Der Gefahrenbereich, dem der Verstorbene zum Opfer fiel, sei erst durch die Plünderer entstanden. Dieser Gefahrenbereich sei aber nicht mehr kriegseigentümlich.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete (§ 164 SGG) und infolge ihrer Zulassung durch das LSG. (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist zulässig (§ 169 Satz 1 SGG). Sie ist aber unbegründet. Das LSG. hat mit Recht angenommen, daß der Klägerin ein Witwenrentenanspruch nach § 38 Abs. 1 Satz 1 BVG zusteht; denn ihr Ehemann ist an den Folgen nachträglicher Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen hatten, gestorben (§ 5 Abs. 1 Buchst. e, § 1 Abs. 1 und 2 Buchst. a, Abs. 5 BVG).
Wie der erkennende Senat (BSG. 4 S. 230; 6 S. 188; SozR. BVG § 5 C a 7 Nr. 19) und andere Senate (BSG. 5 S. 116; 6 S. 102; SozR. BVG § 5 C a Nr. 18) mehrfach entschieden haben, fordert die Anwendbarkeit des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG, daß kriegerische Vorgänge einen Bereich kriegseigentümlicher Gefahren herbeigeführt haben und daß eine dieser Gefahren sich unmittelbar schädigend ausgewirkt hat. Das LSG., dessen tatsächliche Feststellungen von der Revision nicht angegriffen sind, hat zwar nicht deutlich gemacht, aus welchen Gründen der von ihm festgestellte Sachverhalt den einzelnen Merkmalen des gesetzlichen Tatbestandes entspricht. Das Ergebnis seiner rechtlichen Würdigung läßt jedoch einen Rechtsirrtum nicht erkennen. Zutreffend ist das LSG. davon ausgegangen, daß der Luftangriff, bei dem das Eigenheim der Klägerin und ihres Ehemannes teils beschädigt, teils gefährdet wurde, einen kriegerischen Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG darstellt. Mit der unmittelbaren Spreng- oder Zündwirkung der abgeworfenen Bomben waren die Folgen des feindlichen Luftangriffes, der auf die Vernichtung von Menschenleben und Sachgütern gerichtet war, noch nicht abgeschlossen. Vielfach hinterläßt ein solcher Vorgang einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich, der auch noch später Schaden anrichten kann. Als solche nachträgliche Auswirkungen eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs sind in der Rechtsprechung (vgl. BSG. 4, 230; 6, 188) vor allem schädigende Vorgänge anerkannt worden, bei denen nach Beendigung der Kampfhandlungen ein Sprengkörper unabsichtlich zur Explosion gebracht wurde. Das Anwendungsgebiet des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG beschränkt sich aber nicht auf derartige Fälle. Das Gesetz verlangt nicht, daß die kriegseigentümlichen Gefahren, die ein kriegerischer Vorgang hinterlassen hat, von den hierbei verwendeten Kampfmitteln ausgehen müssen. Der Luftangriff auf eine Großstadt wie Stettin in der Nacht zum 30. August 1944 hatte, wie sich aus den Feststellungen des LSG. ergibt, nicht nur Körperverletzungen und Sachbeschädigungen zur Folge, sondern auch einen allgemeinen Notstand und eine Lockerung der öffentlichen Sicherheit, die das Unwesen von Plünderern begünstigten. Wie das LSG. dem Sinne nach weiterhin festgestellt hat, war durch die Entschlossenheit der Plünderer, rücksichtslos Gewalt anzuwenden, um ihre Straftaten zu verdecken und dadurch der Todesstrafe zu entgehen, jeder, der in ihre Nähe kam, an Leib und Leben gefährdet. Diese Gefahren, die für die friedliche Bevölkerung in dem Auftreten plündernder Banden lagen, waren kriegseigentümlich. Gerade unter Ausnutzung der katastrophalen Folgen eines Luftangriffes war es Plünderern möglich, ihr gefährliches Treiben zu entfalten. Außerhalb des Kriegsgeschehens wäre es damals in Stettin zu solchen Zuständen nicht gekommen, und diese herbeizuführen, gehörte mit zu den militärischen Zielen des Feindes. Die diesem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich innewohnende Gefahr, als Bombengeschädigter einer Gewalttat von Plünderern zum Opfer zu fallen, hat sich an dem Ehemann der Klägerin verwirklicht. Der Luftangriff, der den Anlaß zu Plünderungen gegeben hatte, und die verbrecherischen Handlungen der Plünderer haben sich in derselben Nacht ereignet. Bei diesem engen zeitlichen Zusammenhang steht es außer Zweifel, daß die Kriegseigentümlichkeit der mit der Tätigkeit der Plünderer zusammenhängenden Gefahren auch in dem Zeitpunkt fortbestanden hat, in dem der Ehemann der Klägerin tödlich verletzt wurde.
Das LSG. hat mit Recht auch den ursächlichen Zusammenhang bejaht, soweit er für die Annahme erforderlich ist, daß der Tod des Ehemannes der Klägerin die Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne der §§ 1, 5 Abs. 1 Buchst. e BVG ist. Die rechtliche Beurteilung des Ursachenzusammenhanges durch das LSG. stimmt mit der ständigen Rechtsprechung des BSG. überein. Hiernach sind, wenn mehrere Umstände einen Schaden herbeigeführt haben, als Ursachen und Mitursachen im Sinne des Versorgungsrechts alle diejenigen Bedingungen anzusehen, welche zum Eintritt des Erfolges wesentlich mitgewirkt haben (BSG. 1 S. 72 [76]; 150 [156]; 6 S. 102, 188). Die unmittelbaren Folgen des Luftangriffes in der Nacht zum 30. August 1944 haben wesentlich dazu beigetragen, daß plündernde Banden in dem Zerstörungsgebiet auftauchten und die Bewohner am Leben bedrohten. Auch dieser Gefahrenbereich war eine wesentliche Ursache dafür, daß der Ehemann der Klägerin überfallen und tödlich verletzt wurde. So bilden die kriegerischen Vorgänge in der Nacht zum 30. August 1944 und die Verletzungen, denen der Ehemann der Klägerin erlegen ist, in ihrer Gesamtheit eine zusammenhängende rechtliche Ursachenreihe.
Da hiernach alle Voraussetzungen für den Versorgungsanspruch der Klägerin erfüllt sind, war die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen