Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit. Loslösung vom früheren Beruf
Orientierungssatz
War ein gelernter Fischereimeister die letzten 15 Jahre bis zur Stellung des Rentenantrags als ungelernter Arbeiter beschäftigt, so umfaßt diese Zeit einen so erheblichen Teil des Arbeitslebens des Versicherten, daß diese Tätigkeit gegenüber dem erlernten Beruf in den Vordergrund treten kann. Eine Verweisung auf das allgemeine Arbeitsfeld ist daher nicht zu beanstanden.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 27.02.1970) |
SG Speyer (Entscheidung vom 09.04.1968) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. Februar 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob der Kläger Versichertenrente beanspruchen kann (§ 1246 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der 1912 geborene Kläger stammt aus Ostpreußen und übersiedelte im Dezember 1949 aus Mitteldeutschland in die Bundesrepublik. Er war bis 1929 Fischereilehrling und danach Fischer. 1947 legte er die Fischereimeisterprüfung ab. In der Bundesrepublik arbeitete er versicherungspflichtig als ungelernter Arbeiter, weil er nach seinen Angaben keine Stelle als Fischereimeister bekommen konnte.
Der Kläger beantragte 1967 die Gewährung von Versichertenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Kläger noch nicht berufsunfähig oder erwerbsunfähig sei (Bescheid vom 10. Mai 1967).
Das Sozialgericht (SG) Speyer hat die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit verpflichtet (Urteil vom 9. April 1968). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat die auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gerichtete Anschlußberufung des Klägers zurückgewiesen. Die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 27. Februar 1970).
Das LSG hat eine Reihe nicht schwerwiegender Gesundheitsstörungen als vorliegend erachtet (Fettleber ohne nennenswerte Beeinträchtigung des Allgemeinbefundes, mäßig labiler Bluthochdruck ohne Herzausgleichstörungen, altersübliche Gefäßverhärtung, altersübliche Abnutzungserscheinungen an Wirbelsäule und Kniegelenken, Leistenbrüche ohne Einklemmung, Blindheit auf einem Auge, nicht hochgradige Schwerhörigkeit). Es hat festgestellt, daß der Kläger mindestens noch halbtägig regelmäßig ohne Unterbrechungen leichte körperliche Arbeiten im Freien und in geschlossenen Räumen verrichten kann. Der Kläger sei nicht aus gesundheitlichen Gründen vom Beruf eines Fischers und Fischereimeisters zu dem eines Hilfsarbeiters übergegangen. Es sei zu glauben, daß der Kläger nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik eine passende Arbeitsstelle als Fischereimeister oder Fischer aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht erlangt habe. Abgesehen vom Berufswechsel aus gesundheitlichen Gründen sei aber allein maßgeblich, daß tatsächlich eine Lösung vom früheren Beruf erfolgt sei. Dadurch, daß der Kläger seit seiner Übersiedlung - also mindestens 15 Jahre lang - als Hilfsarbeiter tätig gewesen sei, habe er sich im versicherungsrechtlichen Sinne von dem erlernten Beruf eines Fischereimeisters gelöst. Er sei daher bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit wie ein ungelernter Arbeiter zu behandeln. Dabei spiele es rechtlich keine Rolle, ob es in Frage kommende Arbeitsplätze am Wohnort des Klägers oder in der näheren Umgebung möglicherweise nicht gebe. Maßgebend sei, daß es, wie dies der Erfahrung des täglichen Lebens entspreche, solche Arbeitsplätze - das LSG hat mehrere Arten von Tätigkeiten aufgezählt - in ausreichender Anzahl im Gebiet der Bundesrepublik gebe.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Er wendet sich nicht gegen die Zurückweisung seiner Anschlußberufung.
Er hält § 1246 Abs. 2 RVO für verletzt. Er meint, das LSG hätte prüfen müssen, ob er in seinem Beruf als Fischer und Fischereimeister berufsunfähig sei. Er sei zum Berufswechsel nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik durch eine besondere Notlage veranlaßt worden; er habe den Beruf also unfreiwillig gewechselt. Die Rechtsgedanken zum krankheitsbedingten Berufswechsel müßten auf vergleichbare Situationen angewendet werden. Er habe seine Berufstätigkeit in Mitteldeutschland nicht freiwillig aufgegeben, sondern sei aus politischen Gründen in die Bundesrepublik geflüchtet. Er habe mangels anderer Möglichkeiten zur Sicherung seines Lebensunterhalts Fabrikarbeit aufnehmen müssen. Er habe sich wiederholt bemüht, in der Bundesrepublik eine Arbeit als Fischer oder Fischereimeister zu erhalten. Bei der ihm nur noch möglichen Teilzeitarbeit sei ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen. Er sei berufsunfähig.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet. Das LSG ist ohne Gesetzesverletzung vom Beruf eines ungelernten Arbeiters als dem "bisherigen Beruf" des Klägers im Sinne des § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO ausgegangen und hat Berufsunfähigkeit verneint.
Der Kläger hat die Feststellung des LSG, daß ihn nicht gesundheitliche Gründe zur Aufgabe des Fischerberufs und zur Aufnahme einer Tätigkeit als ungelernter Arbeiter veranlaßt haben, nicht angegriffen. Diese Feststellung ist daher für das Revisionsgericht bindend. Der Hinweis der Revision auf eine Notlage, in der sich der Kläger nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland befunden habe, geht fehl. Der Umstand, daß er hier nach seinen Angaben trotz Bemühungen keine Arbeitsstelle als Fischer bzw. Fischereimeister erhalten hat, wäre für die Frage, ob der Kläger berufsunfähig ist oder nicht, möglicherweise dann von Bedeutung, wenn gesundheitliche Beeinträchtigungen das Finden einer entsprechenden Arbeitsstelle verhindert hätten. Nur dann würde es sich um ein Risiko handeln, für das die gesetzliche Rentenversicherung bestimmungsgemäß einzutreten hätte. So aber liegen die Verhältnisse beim Kläger nicht; die von ihm geschilderte Notlage hatte andere Ursachen.
Mit Recht hat auch das LSG bei der Prüfung der Frage, ob sich der Kläger von dem früheren Fischerberuf gelöst hat, die gesamten Umstände des Einzelfalles gewürdigt. Dazu gehört, wie das Bundessozialgericht mehrfach entschieden hat, auch die Dauer der Ausübung der jeweiligen Berufstätigkeiten. Es ist nicht zu beanstanden, daß das LSG der Dauer der Verrichtung der ungelernten Berufstätigkeit durch den Kläger besonderes Gewicht beigelegt hat und die objektiven Umstände, nämlich die Tatsache, daß der Kläger etwa 15 Jahre lang als ungelernter Arbeiter versicherungspflichtig beschäftigt war, für bedeutsamer angesehen hat, als dessen nicht verwirklichten Wunsch, in der Bundesrepublik eine Tätigkeit als Fischer aufzunehmen. Die Beschäftigung als ungelernter Arbeiter während mindestens 15 Jahren in der Zeit bis zur Stellung des Rentenantrags umfaßt einen so erheblichen Teil des Arbeitslebens des Klägers, das 1929 nach seiner Berufsausbildung begonnen hat, daß dieser objektive Umstand gegenüber den subjektiven, nicht verwirklichten Momenten auf Seiten des Klägers - dem Wunsch, in der Bundesrepublik als Fischer zu arbeiten - in den Vordergrund treten kann, wie das LSG ausgeführt hat. Es hat mit dieser Rechtsauffassung § 1246 Abs. 2 RVO nicht verletzt. Es durfte zu Recht vom Beruf des Hilfsarbeiters ausgehen, zumal der Kläger die Berufsunfähigkeitsrente auch unter Berücksichtigung der in dieser Eigenschaft geleisteten Rentenversicherungsbeiträge begehrt.
Auch die weiteren Ausführungen der Revision zur Berufsunfähigkeit unter Zugrundelegung des Hilfsarbeiterberufs sind nicht begründet.
Das LSG hat zur Leistungsfähigkeit des Klägers festgestellt, daß alle Gesundheitsstörungen zusammengenommen nicht so schwerwiegend sind, als daß sie ihn hinderten, halb- bis ganztägig körperlich leichte Arbeiten im Freien oder in geschlossenen Räumen, stehend oder sitzend oder im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen ohne Unterbrechungen regelmäßig zu verrichten. Das LSG hat bejaht, daß es Arbeitsplätze, die dem Leistungsvermögen des nur noch beschränkt einsatzfähigen Versicherten entsprechen, in ausreichender Zahl im Gebiet der Bundesrepublik gibt. Es hat sich dafür auf die Erfahrung des täglichen Lebens berufen. Dies ist an Hand des Beschlusses des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 - GS 4/69-zu überprüfen. Nach den Feststellungen des LSG fällt der Kläger unter die Gruppe derjenigen Versicherten, die noch "halbschichtig bis unter vollschichtig" arbeiten und auf das "allgemeine Arbeitsfeld" verwiesen werden können. Gesundheitliche Beschränkungen, die über die zeitliche Einschränkung hinausgehen und den Einsatz des Klägers nur noch auf einem "stark eingeschränkten Teil" des nach dem Beschluß des Großen Senats vorhandenen "allgemeinen Arbeitsmarktes" zulassen würden, liegen nach den Feststellungen des LSG nicht vor. Einäugiges Sehen steht dem nicht entgegen, weil es sich nur bei ganz besonderen Arten von Arbeiten als störend auswirkt und der Geschädigte sich daran gewöhnt hat. Der Kläger ist in die Gruppe derjenigen beschränkt einsatzfähigen Versicherten einzureihen, bei denen eine Typisierung erlaubt ist (s. Teil C V 2 a des Beschlusses GS 4/69). Zwar ist im Urteil des LSG nicht ausdrücklich gesagt, daß der Kläger auch mittelschwere Arbeiten verrichten könne, wie dies bei den typisierten Fällen des Beschlusses GS 4/69 aaO erwähnt wird. Jedoch ist in dem Gutachten des Obermedizinalrats Dr. H, auf das sich das LSG bezogen hat und das als letztes Gutachten vor seiner Entscheidung erstattet wurde (10. November 1969), ausgeführt, daß der Kläger "sicher noch in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichtere bis mittelschwere Tätigkeiten im Freien oder geschlossenen Räumen, stehend, im Wechsel zwischen Stehen und Sitzen oder sitzend, mindestens halbtägig, ohne Unterbrechung mit Regelmäßigkeit zu verrichten".
Die Entscheidung des LSG, daß der Kläger nicht berufsunfähig ist, ist somit nicht zu beanstanden.
Die Revisions ist als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen