Entscheidungsstichwort (Thema)
Beurteilung der Berufsunfähigkeit
Orientierungssatz
Für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit kommt es darauf an, ob der Versicherte derjenigen Gruppe von leistungsbeschränkten Versicherten zuzurechnen ist, die noch die typischen Fähigkeiten des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes verrichten können und deshalb grundsätzlich nicht berufsunfähig sind oder ob bei der festgestellten Leistungsminderung das zur Verfügung stehende Teilzeitarbeitsfeld stark eingeschränkt ist, so daß Berufsunfähigkeit vorläge (vgl BSG 1969-12-1GS 4/69 = BSGE 30, 167).
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.11.1969) |
SG Duisburg (Entscheidung vom 15.07.1969) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. November 1969 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Kläger berufsunfähig ist und deshalb Anspruch auf Versichertenrente hat (§ 1246 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der Kläger, geboren 1930, hat keinen Beruf erlernt. Nach verschiedenen Hilfsarbeitertätigkeiten war er seit 1952 als Freileitungsmonteur beschäftigt. Seit 1966 ist er Wachmann. Die Beklagte lehnte seinen Rentenantrag von Januar 1966 ab, weil die festgestellten Krankheitserscheinungen - Resektionsmagen mit rezidivierenden Geschwürsbildungen und Verdauungsbeschwerden, geringe Schilddrüsenvergrößerung ohne Anzeichen für Überfunktion, leichter Rundrücken - noch keine Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit bedingten (Bescheid vom 17. Juli 1968).
Das Sozialgericht Duisburg hat die Beklagte zur Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente verpflichtet (Urteil vom 15. Juli 1969). Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 14. November 1969). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger könne zwar nicht mehr als Freileitungsmonteur tätig sein, jedoch sei er noch in der Lage, leichte Arbeiten ohne schweren körperlichen Einsatz, im Sitzen und Stehen, bei wechselnder Körperhaltung, möglichst in witterungsgeschützten Räumen, ohne das Erfordernis besonderer Handfertigkeiten und von Wechselschichten, täglich 4 bis 6 Stunden, zu verrichten. Dazu hat es sich auf das ärztliche Gutachten von Dr. B vom 5. Dezember 1968 berufen. Es hat weiter ausgeführt, der Kläger könne nicht einem Arbeiter, der einen Lehrberuf mit vorgeschriebener Lehrzeit und Abschlußprüfung erlernt habe, gleicherachtet werden. "Freileitungsmonteur" sei kein Lehrberuf, sondern eine Tätigkeit, bei der lediglich ein Teil der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Starkstromelektrikers benötigt würden. Dazu hat es sich auf das berufskundliche Gutachten des Sachverständigen K vom 22. April 1969 und die Aussage des sachverständigen Zeugen D vom 15. Juli 1969 berufen. Der Kläger könne allenfalls einem angelernten Arbeiter gleicherachtet werden, der auf ungelernte Tätigkeiten verwiesen werden könne (die nicht zu den Arbeiten einfacher Art gehören; SozR Nr. 32 zu § 1246 RVO). Es sei nicht erforderlich zu prüfen, ob es für die in Frage kommende zeitlich eingeschränkte Tätigkeit Arbeitsplätze in zumindest nennenswerter Zahl gebe. Die besonderen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes könnten bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit nicht berücksichtigt werden.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. November 1969 aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,
hilfsweise
den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger hält die "abstrakte" Auffassung des LSG bei der Auslegung von § 1246 Abs. 2 RVO für rechtswidrig. Sie stehe im Widerspruch zu den Beschlüssen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969. Seine Einsatzfähigkeit innerhalb des festgestellten Rahmens sei durch die besondere Art der Leiden weiter als nur zeitlich eingeschränkt. Deshalb sei ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen und er sei berufsunfähig (Hinweis auf Abschnitt C V 2 b), bb) des Beschlusses des Großen Senats GS 4/69).
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, der Kläger sei - abgesehen von der zeitlichen Einschränkung seiner Arbeitsleistung - nicht zusätzlich in seinem Leistungsvermögen so gemindert, daß eine "starke Einschränkung des Arbeitsfeldes" im Sinne des Beschlusses GS 4/69 vorliege.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das LSG hat den Kläger im Hinblick auf Verweisungsberufe zu Recht als angelernten Arbeiter angesehen. Seine Auffassung, für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten komme es nicht auf das Vorhandensein von Arbeitsplätzen an, widerspricht aber der Auslegung des § 1246 RVO durch den Großen Senat des BSG im Beschluß GS 4/69. Daß das LSG - entsprechend seiner Rechtsauffassung - nichts über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen festgestellt hat, zwingt dazu, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen, damit das LSG noch Ermittlungen zum Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen anstellen kann und unter Beachtung der in den Beschlüssen des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 (GS 2/68 und GS 4/69) herausgestellten Grundsätze und Anhaltspunkte entscheidet.
Der Streit konzentriert sich auf die Frage, ob der Kläger derjenigen Gruppe von leistungsbeschränkten Versicherten zuzurechnen ist, die noch die typischen Tätigkeiten des allgemeinen Teilzeitarbeitsfeldes verrichten können und deshalb grundsätzlich nicht berufsunfähig sind (C V 2 a in GS 4/69) oder ob bei der festgestellten Leistungsminderung des Klägers das zur Verfügung stehende Teilzeitarbeitsfeld "stark" eingeschränkt ist, so daß der Kläger berufsunfähig wäre (C V 2 b in GS 4/69).
Die typischen Tätigkeiten auf dem allgemeinen Teilzeitarbeitsfeld sind, wie im Beschluß des Großen Senats ausgeführt, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Sitzen, im Stehen und im Gehen, in geschlossenen Räumen und im Freien; Versicherte, die gesundheitlich noch imstande sind, diese Leistungen zu vollbringen, sind grundsätzlich nicht berufsunfähig (C V 2 a in GS 4/69).
Das LSG hat - was die Revision nicht angreift - festgestellt, daß der Kläger noch "leichte Arbeiten ohne schweren körperlichen Einsatz" verrichten kann. Damit ist nicht hinreichend klar, ob der Kläger nach der Meinung des LSG noch mittelschwere Arbeiten leisten kann, die, wie schon das Wort "mittelschwer" sagt, keinen "schweren" körperlichen Einsatz erfordern. Dr. B, auf den sich das LSG gestützt hat, hat die Leistungsfähigkeit des Klägers ausführlicher beschrieben: "Die vorstehenden Leiden ... machen den Kläger für eine anstrengende schwere oder mittelschwere Arbeit untauglich ... Der Kläger kann ohne Gefährdung seiner Gesundheit bei den erhobenen Befunden über 4 bis 6 Stunden einschichtig oder mit längeren Unterbrechungen leichte Arbeiten verrichten...". Danach könnten die Ausführungen des LSG so verstanden werden, daß dem Kläger "mittelschwere" Arbeiten allgemein nicht mehr möglich sind. Infolge dieser Unklarheit kann der Senat nicht davon ausgehen, daß der Kläger nach den Feststellungen der Tatsacheninstanz die typischen Tätigkeiten auf dem uneingeschränkten Teilzeitarbeitsmarkt noch voll verrichten kann. Er kann daher nicht in der Sache selbst entscheiden. Der Kläger kann nach der Auffassung des LSG noch als Maschinenarbeiter arbeiten; das LSG wird gegebenenfalls zu prüfen haben, ob bei dieser weit verbreiteten Art des Arbeitseinsatzes der Teilzeitarbeitsmarkt für den Kläger "stark" eingeschränkt ist oder nicht (vgl. auch das Urteil des BSG 5/4/12 RJ 388/67 vom 27.5.70). Im übrigen wird es bei seiner neuen Entscheidung die Ausführungen in den Beschlüssen GS 2/68 und GS 4/69 zugrunde zu legen haben.
Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich der Revisionsinstanz bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen