Leitsatz (amtlich)
AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4) idF des RRG gilt nur für nach Verkündung des RRG eintretende Versicherungsfälle.
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1972-10-16; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Fassung: 1972-10-16; RRG Art. 6 § 8 Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; RVÄndG Art. 5 § 3 Fassung: 1965-06-09; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1975 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1905 geborene Kläger bezieht seit Oktober 1970 Altersruhegeld. Dabei sind ihm Zeiten der im März 1926 beendeten Schulausbildung und der offenbar 1934 abgeschlossenen Hochschulausbildung nicht als Ausfallzeiten angerechnet worden, weil er nicht innerhalb von fünf Jahren danach eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hatte. 1973 entrichtete der Kläger nach Art. 2 § 44 a Abs. 3 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für seine Referendarzeit von Juni 1934 bis Mai 1939 Beiträge nach. Darauf stellte die Beklagte mit Bescheid vom 29. März 1974 das Altersruhegeld ab Juli 1973 neu fest; die Anrechnung von Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung lehnte sie weiterhin mit der Begründung ab, daß § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) in der eine Anschlußversicherung nicht mehr verlangenden Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) nur für nach der Verkündung des RRG eintretende Versicherungsfälle gelte.
Die Klage auf Anrechnung von insgesamt neun Jahren der Schul- und Hochschulausbildung hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) sah keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz darin, daß die Neufassung sich nicht auch auf früher eingetretene Versicherungsfälle auswirke.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Neuberechnung der Rente ab 1. Januar 1973 unter Berücksichtigung einer Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nF zu verurteilen.
Er ist der Ansicht, daß die Neufassung auch für früher eingetretene Versicherungsfälle gelte, zumal sonst ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) vorliege.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet; der Kläger hat keinen Anspruch auf Anrechnung einer Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG.
Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, ist für die Anrechnung einer Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG in der bis zum 18. Oktober 1972 geltenden Fassung kein Raum, weil der Kläger nicht im Anschluß an die Schul- und Hochschulausbildung (oder - was hier nicht in Betracht kommt - nach einer sich dieser anschließenden Ersatzzeit) innerhalb von fünf Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hat. Daran hat die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art. 2 § 44 a Abs. 3 AnVNG nichts geändert (vgl. das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats 11 RA 108/75 vom 15. Juni 1976).
Aber auch in § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG idF des RRG vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) findet das Klagebegehren keine Stütze. Zwar ist durch Art. 1 § 2 Nr. 13 Buchst. a RRG das Erfordernis des Anschlusses einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit (Anschlußversicherung) gestrichen worden; die Neufassung ist jedoch erst am 19. Oktober 1972 in Kraft getreten (Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG) und gilt damit nicht für Versicherungsfälle, die, wie das hier der Fall ist, bereits vorher eingetreten sind.
Wie das Bundessozialgericht (BSG) wiederholt entschieden hat, ist neues Recht auf alte Versicherungsfälle nur anzuwenden, wenn dies vorgeschrieben ist (BSG 10, 151 (155); 14, 95 (96 f)). Diesem Grundsatz steht nicht entgegen, daß das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) in seinem Art. 5 § 3 die Maßgeblichkeit des alten Rechts für alte Versicherungsfälle ausdrücklich ausgesprochen hatte. Das ist offenbar deshalb geschehen, weil der Gesetzgeber in Art. 5 §§ 4 und 5 zahlreiche Ausnahmen für früher eingetretene Versicherungsfälle zugelassen hat; angesichts dessen mag die Hervorhebung des im übrigen anerkannten Grundsatzes damals einem Bedürfnis nach Klarstellung gedient haben. Keinesfalls kann jedoch aus diesen Regelungen des RVÄndG entnommen werden, der Gesetzgeber habe von da an für die Auswirkung neuen Rechts auf frühere Versicherungsfälle neue Grundsätze einführen wollen. Wenn daher das RRG keine ausdrückliche Vorschrift darüber enthält, daß die Neufassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nur für neu eintretende Versicherungsfälle gilt, so kann dieses "Schweigen" des Gesetzgebers nicht dahin verstanden werden, als solle die Neufassung auch auf vorher eingetretene Versicherungsfälle anwendbar sein. Dementsprechend hat das BSG bereits entschieden (SozR Nr. 68 zu § 1251 RVO), daß die Verbesserungen, die das RRG gebracht hat, sich nicht auf Versicherungsfälle auswirken, die schon vor seinem Inkrafttreten eingetreten sind.
In der unterschiedlichen Behandlung der alten und der neuen Versicherungsfälle liegt kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, Gesetze nur mit Wirkung für die Zukunft zu ändern (BVerfGE 29, 245 (258)). Müßten gesetzliche Vergünstigungen stets auf abgeschlossene Sachverhalte - und sei es auch nur mit auf die Zukunft beschränkter Wirkung - ausgedehnt werden, so wären Leistungsverbesserungen oft überhaupt nicht einzuführen; es entspricht daher gerade unter Berücksichtigung der Eigenart des Sozialrechts dem Gleichheitssatz, daß die Anwendung neuer, mit Verbesserungen verbundener Vorschriften regelmäßig vom Zeitpunkt des Versicherungsfalles abhängig gemacht wird (vgl. SozR Nr. 3 zu § 1252 RVO; BSG 34, 287 (288); SozR Nr. 15 zu Art. 2 § 14 ArVNG). Umstände, die dem Gesetzgeber bei Beachtung des Gleichheitssatzes Anlaß geben mußten, die Neufassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ausnahmsweise auch für früher eingetretene Versicherungsfälle gelten zu lassen, sind nicht ersichtlich; die alte Fassung widersprach keinen Wertentscheidungen des Grundgesetzes; ihre Änderung stellte eine Fortentwicklung des Rechts ohne grundsätzliche Abkehr von den die früheren Regelungen tragenden Prinzipien dar.
Da sich mithin das Berufungsurteil als zutreffend erweist, war die Revision zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen