Leitsatz (amtlich)
Keine WDB, wenn eine gesundheitliche Schädigung durch das eigene Verhalten des Soldaten, das ein erheblich gesteigertes Unfallrisiko mit sich bringt, verursacht wird, so daß die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse in ihrer kausalen Bedeutung zurücktreten.
Normenkette
SVG § 80 S. 1 Fassung: 1971-09-01, § 81 Abs. 1 Fassung: 1971-09-01, Abs. 4 S. 1 Fassung: 1971-09-01
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Dezember 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1948 geborene Kläger hat den Beruf eines Malers erlernt; er leistete von Juli 1968 bis Januar 1970 Dienst bei der Bundeswehr als Soldat auf Zeit. Als er am 10. November 1969 um 0,30 Uhr in der Kaserne versuchte, von einem Treppengeländer auf den gegenüberliegenden Fenstersims zu springen, um wegen eines starken Sturmes das offenstehende Fenster zu schließen, stürzte er in einen 5 Meter tiefen Treppenschacht und erlitt eine schwere Schädelverletzung mit ausgedehnter Impressionsfraktur am Hinterhaupt. In der Neurochirurgischen Klinik Bremen wurde das Imprimat operativ entfernt. Als nach einigen Wochen eine Serumhepatitis auftrat, wurde der Kläger in die Medizinische Klinik Bremen verlegt und aus dieser im Januar 1970 entlassen. Von April bis Juni 1972 befand er sich wegen der Unfallfolgen wiederum in stationärer Behandlung, aus der er als gebessert mit der Diagnose "Zustand nach Schädelhirntrauma mit Hirnsubstanzschädigung, Postcontusionelles Syndrom" entlassen wurde. Seitdem bezieht er Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von der Landesversicherungsanstalt Hannover. Eine begonnene Umschulung als Bauzeichner brach er wegen behaupteter Überanstrengung ab.
Den wehrdienstlichen Unfallakten kann entnommen werden, daß der Kläger ohne dienstlichen Befehl und ohne Zuhilfenahme eines notwendigen Hilfsgerätes den Versuch unternommen hat - möglicherweise unter Alkoholeinfluß -, ein bei einem nächtlichen Sturm klapperndes Fenster des Kasernentreppenhauses zu schließen.
Mit Bescheid vom 16. März 1970 lehnte das Versorgungsamt den Versorgungsantrag des Klägers vom Januar 1970 ab, weil eine Wehrdienstbeschädigung (WDB) nach § 81 des Soldatenversorgungsgesetzes (SVG) nicht vorliege. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg. Mit weiterem Bescheid vom 16. Februar 1972 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 1972 lehnte das Versorgungsamt auch einen Einkommensausgleich nach § 82 SVG ab. Die gegen diese Bescheide erhobenen Klagen verband das Sozialgericht (SG) miteinander und verurteilte den Beklagten am 27. März 1973 zur Gewährung von Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. und Einkommensausgleich unter Anerkennung von "Postcontusionellem Syndrom, Zustand nach Schädelimpressionsfraktur und Operation, Zustand nach Leberentzündung und Harnwegsinfekt" als WDB. In dem vom Beklagten angestrengten Berufungsverfahren führte der Berichterstatter Augenscheinseinnahmen am Unfallort durch, vernahm drei Zeugen und hörte einen technischen Sachverständigen. Das Landessozialgericht (LSG) hob das Urteil des SG auf, wies die Klage ab und ließ die Revision zu (Urteil vom 15. Dezember 1975): Aufgabe des UvD/GvD sei es gewesen, das Schließen der Fenster außerhalb der Stuben zu besorgen. Dem Kläger, der sich in seiner dienstfreien Zeit befunden habe, sei hierfür kein Befehl erteilt worden. Ein enger innerer Zusammenhang des Unfalls mit dem Dienst sei somit nicht ersichtlich. Im übrigen könne eine nicht durch besonderen Befehl angeordnete Nachtruhe nicht als "Dienstverrichtung" angesehen werden. Treppenschächte mit Ausstellfenstern fänden sich auch im zivilen Bereich, weshalb insoweit nicht von wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen gesprochen werden könne. Der geltend gemachte Anspruch des Klägers sei auch nicht damit zu begründen, daß die Verpflichtung zur Kameradschaft zu einem rechtlich billigenswerten Entschluß des Klägers zur Hilfeleistung geführt haben könne. Zwar habe das mögliche Motiv des Klägers zur angegebenen Lärmbeseitigung wegen dessen Erinnerungslücke und der unbestimmten Zeugenaussagen nicht eindeutig geklärt werden können, wie sich auch der ursprünglich vermutete Alkoholeinfluß nicht habe nachweisen lassen. Möglich sei, daß der Kläger, der sich bereits im Schlafanzug befunden habe, durch Geräusche gestört worden sei. Möglich sei aber auch die reine kameradschaftliche Hilfeleistung gegenüber dem GvD oder der Versuch eines Mut- und Gewandtheitsbeweises des Klägers. Jedenfalls genügten die mehr oder weniger konkreten Möglichkeiten der Sprungmotivation nicht als Nachweis für die Erfüllung der haftungsbegründenden Kausalität. Aber selbst wenn man eine kameradschaftliche Hilfeleistung des Klägers bei dienstlichen Verrichtungen zur Herstellung der Nachtruhe als erwiesen ansehen wollte, fehle es für alle Alternativen des § 81 Abs. 1 SVG an den erforderlichen kausalen, zeitlichen oder teleologischen Zusammenhängen zwischen Wehrdienst und Unfall. Das Klägerverhalten stehe gegenüber dem wehrdienstlichen Bereich so sehr im Vordergrund, daß diesem nur die Bedeutung einer geringgradigen Ursache zukomme. Das Gefahrenrisiko, in das sich der Kläger begeben habe, stehe in keinem Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, das störende Fenster zu schließen. Dies treffe auch für einen gelernten Maler zu, dem zwar durchaus körperliche Gewandtheit, nicht aber fast artistische Fähigkeiten zuzutrauen seien.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen und formellen Rechts (§ 81 Abs. 1 und 5 SVG, §§ 103, 128 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die vom LSG getroffenen Feststellungen zu den die Aktivität des Klägers auslösenden Witterungsbedingungen und Lärmbeeinträchtigungen seien widersprüchlich, unlogisch und nicht hinreichend motiviert, soweit sie das Fensterklappern nur als mögliche Störung der Nachtruhe ansähen. Außerdem hätte das LSG berücksichtigen müssen, daß das Treppenhaus zur Nachtzeit vermutlich abgedunkelt und die Gefährlichkeit der Unfallstelle deshalb für den Kläger schwer zu erkennen gewesen sei. Der Umstand, daß sich der Kläger im Unfall Zeitpunkt bereits im Schlafanzug befunden und nicht unter Alkoholeinfluß gestanden habe, rechtfertige die Annahme, daß der Kläger eine Störung seiner Nachtruhe und der seiner Kameraden beheben wollte; dies genüge der dritten Alternative des § 81 Abs. 1 SVG. Die besonderen Bedingungen, denen die kasernierte Nachtruhe unterstehe, müßten nämlich als wehrdiensteigentümlich angesehen werden. Ferner habe sich der Kläger bei dem vergeblichen Versuch der Beseitigung der Ruhestörung im "Dienst" befunden, er sei bei dem Versuch zu Schaden gekommen, den für die Beseitigung des Lärms zuständigen Stellen zu helfen, so daß sein unfallbringendes Verhalten eine Wehrdienstverrichtung im Sinne des § 81 Abs. 1 SVG darstelle. Die Eigeninitiative des Klägers habe in jedem Falle im dienstlichen Interesse gelegen. Gerade der Soldat sei verpflichtet, bei allgemeiner Gefahr auch außerhalb des Dienstes und ohne Befehl tätig zu werden. Entscheidend sei im übrigen auch, daß der Kläger den Unfall und seine Folgen keineswegs absichtlich (§ 81 Abs. 5 SVG) herbeigeführt habe. Damit scheide aber eine Unterbrechung des Kausalzusammenhangs aus.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 27. März 1973 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint, der Unfall sei im wesentlichen auf das eigene Verhalten des Klägers zurückzuführen, so daß auch die erste Alternative des § 81 Abs. 1 SVG, die allenfalls einen Versorgungsanspruch rechtfertigen könnte, hier außer Betracht bleibe.
II
Die Revision des Klägers erweist sich als nicht begründet.
Dem Kläger stünde Versorgung nach dem SVG zu, wenn er bei dem Unfall vom 10. November 1969 eine WDB erlitten hätte (§ 80 SVG). Eine WDB käme nur in Betracht, wenn das vom LSG festgestellte Schadensereignis einer der Voraussetzungen des § 81 Abs. 1 SVG genügte. Dies ist nicht der Fall.
Den Versuch des Klägers, im Treppenhaus der Kaserne zur Nachtzeit bei stürmischer Witterung ein Fenster zu schließen, hat das LSG zu Recht nicht als Wehrdienstverrichtung (zur Erläuterung dieses Begriffes vgl. BSGE 33, 141, 142 und SozR Nr. 1 zu § 81 SVG 1967 mit weiteren Nachweisen) angesehen. Nach den Feststellungen des LSG gehörte es zu den Pflichten des GvD und nicht zu denen des Klägers, bei gegebener Notwendigkeit die Fenster im Treppenhaus der Kaserne zu schließen. Einen anders lautenden Befehl hatte der Kläger von keiner Seite erhalten. Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger mit Billigung des GvD dessen Aufgabe übernehmen und erfüllen wollte, sind nicht vorhanden. Ob überhaupt ein klapperndes Fenster im Unfallzeitpunkt die Nachtruhe störte, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Aber selbst wenn man von einer solchen Störung ausgehen wollte, wäre damit noch nicht zwingend ein Zusammenhang mit einer Dienstverrichtung herzustellen. Zwar dient der Schlaf, ähnlich wie auch andere alltägliche Verhaltensweisen, der Erhaltung der Dienstfähigkeit, zu der jeder Soldat verpflichtet ist (§ 17 Abs. 4 Soldatengesetz - SG - BGBl 1975, 2273). Nicht jede Handlung des Soldaten, die an sich geeignet sein kann, solchen allgemeinen soldatischen Pflichten (zB Kameradschaftshilfe nach § 12 SG oder besondere Rücksichtnahme) unmittelbar oder mittelbar zu genügen, stellt sich aber ohne weiteres als Dienstverrichtung dar, die unter Versorgungsschutz fallen müßte. Im vorliegenden Fall bestehen keine ausreichenden Anhaltspunkte für ein dringendes wehrdienstliches Interesse daran, daß in der gegebenen Situation ein Kaserneninsasse nicht bloß von der nächtlichen Störung Meldung machte, sondern aus eigener Initiative eingriff und das Fenster zu schließen versuchte. Eine WDB durch eine Dienstverrichtung scheidet damit aus. Im übrigen dürfte auch hier nicht unbeachtet bleiben, ob die wesentliche Ursache für das Unfallereignis in den objektiven Gegebenheiten oder aber - wie noch näher darzulegen ist - im besonderen Verhalten des Klägers zu erblicken ist.
Nach der zweiten Alternative des § 81 Abs. 1 SVG genügt zwar der zeitliche Zusammenhang des Unfalls mit der Ausübung des Wehrdienstes, es bedarf aber einer engen inneren Beziehung zu einer bestimmten Dienstverrichtung, weil nur dann tatsächlich "Dienst ausgeübt wird" (BSGE 33, 143; SozR Nr. 1 zu § 81 SVG 1967; SozR 3200 § 81 SVG Nrn. 5 und 6). Erforderlich ist somit, daß der Unfall während einer Zeit eingetreten ist, an der der Soldat tatsächlich Dienst ausgeübt hat. Den Feststellungen des LSG ist lediglich zu entnehmen, daß sich der Kläger im Unfall Zeitpunkt im Schlafanzug befunden und möglicherweise anstelle des GvD versucht hat, ein ihn oder seine Kameraden störendes Fenster zu schließen. Zur Dienstausübung konnte diese ohne Befehl oder Weisung und auch nicht einmal im bloßen Einvernehmen mit dem GvD unternommene Betätigung des Klägers zweifellos nicht gerechnet werden.
Nicht so ganz von der Hand zu weisen ist hingegen die von der Revision hauptsächlich verfochtene Subsumtion des hier gegebenen Sachverhalts unter die dritte Alternative des § 81 Abs. 1 SVG, wonach WDB eine durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführte gesundheitliche Schädigung ist. Zu den "dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnissen" (vgl. BSGE 37, 282; SosR 3200 § 80 SVG Nr. 2) könnte man durchaus die architektonische Gestaltung einer Kaserne zählen. Zwar kommen Treppenhausfenster, die von der Treppe durch einen 1 1/2 Meter breiten Schacht getrennt und deshalb nicht mühelos erreichbar sind, vielfach auch in Dienst- und Bürogebäuden des zivilen Bereichs vor; diese Gebäude sind aber - im Unterschied zu Kasernen - nur zur Benutzung tagsüber und nicht für die Nachtruhe bestimmt. Außerdem könnte die Art, wie hier die Vorrichtung zum Öffnen und Schließen der Fenster aufbewahrt wurde, von wehrdiensteigentümlichen Besonderheiten gekennzeichnet sein. Deshalb wäre der Versorgungsschutz nach Meinung des Senats nicht schlechthin zu verneinen, wenn der Kläger in der fraglichen Nacht dabei Schaden erlitten hätte, als er schleunigst den Wachhabenden alarmieren oder selbst die Schließvorrichtung für das Fenster aus dem Aufbewahrungsraum holen wollte. In dieser oder ähnlicher Weise der Situation angepaßt hat sich der Kläger indessen nicht verhalten. Vielmehr hat er durch seinen waghalsigen Sprung eine ganz erheblich gesteigerte Unfallgefahr selbst erst geschaffen, die den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen nicht mehr zugerechnet werden kann. Dies hat mit der Frage nach einem Verschulden und dessen Ausprägung (§ 1 Abs. 4 BVG = § 81 Abs. 5 SVG: absichtlich herbeigeführte Schädigung) nichts zu tun (vgl. BSGE 16, 216, 221; SozR 3200 § 81 SVG Nr. 5). Der im Versorgungsrecht (BSGE 1, 72, 76) wie im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung (insbesondere SozR Nr. 53, 77 zu § 542 RVO aF; BSGE 30, 14; Urt. vom 28. Oktober 1976 - 8 RU 24/76 mit weiteren Nachweisen -) entwickelte Begriff der selbstgeschaffenen Gefahrerhöhung zielt in Fällen der hier gegebenen Art nicht auf irgendeinen Grad des Verschuldens, sondern darauf ab, daß das mit einem bestimmten Tun verknüpfte Unfallrisiko nicht mehr in einer vernunftgemäßen Relation zu dem angestrebten Erfolg steht; es kommt also darauf an, ob das Verhalten des Soldaten in so hohem Grade vernunftwidrig und gefährlich war, daß er höchstwahrscheinlich mit einem Unglück rechnen mußte. So verhielt es sich - wie das LSG zutreffend dargelegt hat - bei dem Fenstersprung, den der Kläger riskierte Ein solches artistisches Wagestück, das zudem noch möglicherweise - wie die Revision vorgetragen hat - durch Abdunkelung des Treppenhauses während der Nachtstunden zusätzlich erschwert gewesen sein könnte, käme vielleicht als letzte Rettung aus einer extremen Gefahr in Betracht, z. B. wenn das Treppenhaus in Flammen gestanden hätte und kein anderer Ausweg aus dem brennenden Gebäude mehr möglich gewesen wäre. Zur Behebung einer bloßen nächtlichen Ruhestörung durch ein klapperndes Fenster war der Versuch des Klägers, im Sprung über den Schacht hinweg an das Fenster zu gelangen, kein adäquates Mittel, ganz abgesehen davon, daß - wie das LSG ebenfalls mit Recht hervorgehoben hat, Chancen für das Gelingen dieses Vorhabens kaum bestanden haben dürften. Damit haben aber wehrdiensteigentümliche Verhältnisse das Handeln des Klägers weder geboten noch irgendwie nahegelegt.
Da sonach auch die Voraussetzungen der 3. Alternative des § 81 Abs. 1 SVG nicht erfüllt sind, muß der Anspruch des Klägers abgelehnt werden.
Das angefochtene Urteil war daher zu bestätigen, die Revision des Klägers war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen