Leitsatz (amtlich)
Ein Anspruch auf Geschiedenen-Witwenrente nach § 1265 S 2 RVO besteht auch dann, wenn die Geburt eines zu erziehenden, waisenrentenberechtigten Kindes im Zeitpunkt der Scheidung unmittelbar bevorstand.
Normenkette
RVO § 1265 S 2 Fassung: 1975-05-07
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 06.11.1981; Aktenzeichen L 6 Ar 685/80) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 24.10.1980; Aktenzeichen S 12 Ar 544/80) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Hinterbliebenenrente nach ihrem geschiedenen Ehemann aufgrund des § 1265 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die am 4. April 1920 geborene Klägerin heiratete 1942 den 1901 geborenen Versicherten Georg S.. Die Ehe wurde im Juli 1943 aus Verschulden des Versicherten geschieden. Das Urteil wurde am 3. September 1943 rechtskräftig. Am 27. Oktober 1943 wurde der Sohn der geschiedenen Eheleute, Karlheinz, geboren, für den die Klägerin das Sorgerecht erhielt. Der Versicherte, der sich nicht wieder verheiratete, zahlte der Klägerin seit 1963 keinen Unterhalt mehr. Er hatte nur ein Renteneinkommen von etwa 420,00 DM monatlich. Die Klägerin verdiente zu dieser Zeit etwa 1.000,00 DM netto monatlich. Im Dezember 1975 verstarb der Versicherte.
Im Mai 1976 beantragte die Klägerin Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte ab. Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) einigten sich die Beteiligten darauf, daß die Beklagte über den Anspruch der Klägerin neu entscheide, wenn die Klägerin das 60. Lebensjahr vollendet habe. Sie berufe sich dabei nicht auf die etwaige Bindungswirkung des damaligen Bescheides.
Am 4. Februar 1980 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung von Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 2. Juni 1980 ab. Das SG hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach ihrem geschiedenen Ehemann zu gewähren (Urteil vom 24. Oktober 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 6. November 1981 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Da der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt gewährt habe und auch keinen Unterhalt zu gewähren gehabt habe, bestehe ein Rentenanspruch der Klägerin nach § 1265 Satz 1 RVO nicht. Auch ein Anspruch der Klägerin nach § 1265 Satz 2 RVO sei nicht entstanden. Zwar habe eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nur wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der ehemaligen Eheleute nicht bestanden, und die Klägerin habe auch das 60. Lebensjahr vollendet. Doch habe die Klägerin "im Zeitpunkt der Scheidung" kein waisenrentenberechtigtes Kind "zu erziehen" gehabt. Der Sohn der Klägerin sei erst über einen Monat nach der Rechtskraft des Scheidungsurteils geboren worden.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 Satz 2 RVO durch das Berufungsgericht.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 24. Oktober 1980 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente nach ihrem geschiedenen Ehemann aufgrund des § 1265 Satz 2 RVO.
Nach § 1265 Satz 2 RVO hat die frühere Ehefrau des Versicherten ua dann einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn sie nur wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder ihrer eigenen Erträgnisse aus einer Erwerbstätigkeit keinen Anspruch auf Unterhalt gehabt hatte, wenn sie zudem das 60. Lebensjahr vollendet hat und wenn sie im Zeitpunkt der Scheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen hatte. Die beiden ersten Voraussetzungen liegen bei der Klägerin - auch nach den Auffassungen beider Prozeßbeteiligten - vor. Aber auch das weitere Merkmal, also daß die Klägerin "im Zeitpunkt der Scheidung" ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen hatte, ist gegeben.
Das Bundessozialgericht (BSG) hat sowohl Satz 1, als auch Satz 2 des § 1265 RVO wiederholt nicht streng nach dem Wortlaut, sondern nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes ausgelegt und dabei betont, daß bei der Gewährung von Dauerleistungen - wie den Hinterbliebenenrenten - nicht auf Zufälligkeiten und Besonderheiten abgestellt werden darf, die gerade und ausschließlich zu den in dieser Vorschrift genannten Zeiten des Todes des Versicherten und der Scheidung vorliegen (vgl hierzu eingehend BSG SozR Nr 9 zu § 1265 RVO; BSGE 37, 50, 52; SozR 2200 § 1244a Nr 21 mwN sowie SozR 2200 § 1265 Nrn 22, 60 und 61). Von daher ist die Voraussetzung "im Zeitpunkt der Scheidung" iS des § 1265 Satz 2 RVO auch dann erfüllt, wenn zu diesem Zeitpunkt - wie im Falle der Klägerin - die Geburt und damit auch die tatsächliche Erziehung eines waisenrentenberechtigten Kindes unmittelbar bevorstand und die Ehefrau des Versicherten deshalb zu diesem Zeitpunkt bereits absehbar an den Erziehungstatbestand gebunden war, den der Gesetzgeber für den Hinterbliebenenrentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO als rechtserheblich angesehen hat (vgl hierzu eingehend Urteil des erkennenden Senats vom 10. März 1982 in SozR 2200 § 1265 Nr 61).
Im übrigen hat auch der Begriff der Erziehung im Rentenversicherungsrecht von Anfang an stets eine weite Auslegung erfahren (BSG SozR 2200, § 1265 Nr 32 mwN). Zu beachten ist außerdem, daß es in § 1265 Satz 2 RVO heißt: "zu erziehen hatte", nicht aber "erzog". Das bedeutet, daß auch im Gesetzeswortlaut der aus der Entstehung der Vorschrift in gleicher Weise zu entnehmende Sinn der Bestimmung deutlich wird, nämlich die geschiedene Frau zu begünstigen, von der im Zeitpunkt der Ehescheidung Erwerbstätigkeit nicht zu erwarten war und der es erschwert oder unmöglich gemacht war, eigene Rentenanwartschaften zu erwerben (vgl BSGE 42, 156 = SozR 2200 § 1265 Nr 22 und Urteil des erkennenden Senats vom 10. März 1982 aaO). Auch wenn die Fürsorge, die die Mutter dem bereits gezeugten, aber noch nicht geborenen Kind zuteil werden läßt und die gerade im letzten Teil der Schwangerschaft offensichtlich wird, nicht als "Erziehung" im tatsächlichen Sinne zu verstehen ist, läßt sich doch zeigen, daß sie zu dieser Zeit bereits iS der genannten Vorschrift "zu erziehen hatte", wenn sie ihren - an das zu erwartende Kind ausgerichteten - Pflichten nachkam. Das Kind ist nämlich in der Zeit nach der Geburt so hilfebedürftig, daß schon erhebliche Vorbereitungen seitens der Mutter vor der Geburt getroffen werden müssen, um das Kind in der Zeit nach der Geburt tatsächlich aufziehen zu können. Da auch die Mutter unmittelbar nach der Geburt des Kindes zunächst hilfebedürftig ist, ist sie umso mehr gezwungen, alle notwendigen Vorkehrungen bereits früher zu treffen. Das gilt im besonderen von der Klägerin, die ihr Kind während der Kriegsereignisse des Jahres 1943 und ohne die Unterstützung durch ihren Ehemann zur Welt bringen mußte. Die Klägerin hatte somit ihr Kind iS des § 1265 Satz 2 RVO bereits "zu erziehen", als die Scheidung im September 1943 rechtskräftig wurde. Bereits zu dieser Zeit begann die Sorge um den Aufgabenkreis, den das Gesetz ihr spätestens mit der Geburt ihres Kindes zugute hält.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1660220 |
BSGE, 188 |