Leitsatz (amtlich)
Eine Rechtsmittelbelehrung ist nicht unrichtig iS des SGG § 66 Abs 2 S 1, wenn neben der zutreffenden Angabe der Straße die Hausnummer des Gerichts falsch angegeben ist (Bestätigung von BSG 1957-07-24 2 RU 85/55 = SozR Nr 15 zu § 66 SGG und BSG 1959-07-21 1 RA 190/57 = Breith 1959, 1135).
Normenkette
SGG § 66 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 21.09.1977; Aktenzeichen L 3 U 164/77) |
SG Kassel (Entscheidung vom 27.01.1977; Aktenzeichen S 3 UG 60/76) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. September 1977 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche des Klägers aus Anlaß eines Unfalles ab. In dem Bescheid der Beklagten vom 13. Januar 1976 ist als zuständiges Sozialgericht (SG) das SG in "... K, F-str. ..." angeführt. Der Bescheid wurde dem Kläger am 13. Januar 1976 als eingeschriebener Brief zugesandt.
Der Kläger hat Klage erhoben. Die Klageschrift mit Datum vom 26. Januar 1976 ist am 19. März 1976 beim SG eingegangen. Zugleich hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 17. März 1976 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt, weil die rechtzeitig diktierte Klageschrift durch ein Versehen einer geschulten und laufend überwachten, zuverlässigen Angestellten seines Büros nicht abgesandt worden sei, was er erst am 12. März 1976 nach Eingang der Vollmacht des Klägers bemerkt habe.
Das SG hat durch Urteil vom 27. Januar 1977 die Klage als verspätet abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 21. September 1977 das Urteil des SG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG zurückverwiesen. Es hat ua ausgeführt: Die Klage sei nicht verspätet erhoben worden, weil die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Bescheid unrichtig sei. Als zuständiges SG sei K, F-straße "..." angegeben, während die Hausnummer "..." sei. Zur Belehrung über den Sitz des zuständigen Gerichts gehöre auch die Hausnummer. Für den Bereich der Sozialgerichtsbarkeit seien wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der meist unbeholfenen Rechtsschutzsuchenden die Anforderungen an eine genaue Rechtsmittelbelehrung streng. Maßgebend für die Unrichtigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung sei, daß die abstrakte Möglichkeit eines Kausalzusammenhanges zwischen einer solchen unrichtigen Belehrung und einem Klageverlust nicht auszuschließen sei. Dies sei in einer Großstadt wie Kassel - gleichzeitig Sitz des Bundessozialgerichts (BSG), wenn auch mit anderer Anschrift - und einer Straße wie der F-straße zu bejahen, da diese nicht nur aus wenigen Häusern bestehe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie trägt vor: Die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Bescheid sei nicht unrichtig. Es genüge die Angabe des Sitzes des Gerichts. Außerdem sei die abstrakte Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen der verspäteten Klageerhebung und der Angabe einer falschen Hausnummer in dem angefochtenen Bescheid nicht gegeben.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil des Hessischen Landessozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zu verwerfen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Klage ist nach Ablauf der Klagefrist erhoben. Die Frist für die Klage hat mit der Zustellung des Bescheides der Beklagten zu laufen begonnen; denn die Rechtsmittelbelehrung ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht unrichtig erteilt im Sinne des § 66 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Belehrung über den Sitz des Gerichts erfordert nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) und des Bundesfinanzhofes (BFH) zu den insoweit mit § 66 Abs 1 SGG wörtlich übereinstimmenden § 58 Abs 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und § 55 Abs 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) neben der Stadt oder Gemeinde, in der das Gericht liegt, nicht noch die Angabe der Straße und der Hausnummer (BVerwGE 25, 261; BFH BB 1976, 822; OVG Münster DVBl 1962, 792; Bay VGH Bay VBl 1966, 355; Hess VGH ZfSH 1968, 255; VG Frankfurt ZBR 1962, 168; s. auch OLG Düsseldorf RzW 1963, 84). Das BSG hat im Rahmen des § 66 Abs 1 SGG die Angabe der Straße und Hausnummer ebenfalls im allgemeinen nicht als notwendig angesehen (BSG SozR Nr 15 zu § 66 SGG), jedenfalls solange dadurch der Zugang der Zustellung nicht gefährdet ist (BSG Breithaupt 1959, 1135 - insoweit nicht abgedruckt in SozR Nr 23 zu § 67 SGG; ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 8. Aufl, S. 248 y; Meyer-Ladewig, SGG, § 66 Anm 7; aA Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 66 Anm 3 Buchst c; LSG Berlin DOK 1954, 576; LSG Baden-Württ Breithaupt 1965, 881 und 1971, 74). Bei einem Gericht ist jedoch der Zugang der Klage durch das Fehlen der Straßenbezeichnung und der Hausnummer des SG im allgemeinen nicht gefährdet. Die Postämter stellen die an das Gericht in ihrer Stadt gerichteten Briefe in der Regel auch zu, wenn die Straßenbezeichnung und Hausnummer des der Post durch laufende Briefzugänge bekannten Gerichts fehlen, unabhängig davon, daß oft das Gericht ein Postfach besitzt, wodurch für die Postzustellung die Angaben über Straße und Hausnummer unerheblich sind. Das Berufungsgericht meint zu Unrecht, das BSG habe bei unrichtiger Hausnummer die Postzustellung lediglich deshalb nicht als gefährdet angesehen, weil das Gericht nur zwei Häuser von dem Haus entfernt lag, das die im Bescheid angegebene Hausnummer trug. Dieses Argument hat das BSG (vgl Breithaupt aaO) nur zusätzlich angeführt, so daß dahinstehen kann, ob es nicht außerdem für die Häuser der gesamten Straße zu gelten hätte. Die angeführte Rechtsprechung und Literatur, die jedenfalls im allgemeinen neben der nach § 66 Abs 1 SGG erforderlichen Belehrung über den Sitz des Gerichts in der Rechtsmittelbelehrung nicht die Angabe der Straßenbezeichnung und der Hausnummer für notwendig erachten, gehen zugleich davon aus, daß dies auch nicht deshalb erforderlich ist, weil der Betroffene das Rechtsmittel oder den anderen Rechtsbehelf auch persönlich zur Niederschrift der zuständigen Stelle oder dem zuständigen Gericht einlegen kann. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es für den Betroffenen in der Regel nicht schwieriger ist, zB aus dem Telefonbuch die Straßenbezeichnung und Hausnummer des Gerichts oder der sonst zuständigen Stelle zu ermitteln, als in der Stadt selbst die Straße aufzufinden. Zudem ist zu beachten, daß unbillige Ergebnisse dadurch vermieden werden können, daß in den Fällen, in denen sich der Zugang der Rechtsmittelschrift oder bei besonders unbeholfenen Klägern die Einlegung der Klage zur Niederschrift bei Gericht aufgrund fehlender oder falscher Straßenbezeichnung oder Hausnummer in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Bescheides ausnahmsweise verzögert hat, ggf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (vgl Brackmann aaO). Da demnach die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Bescheid der Beklagten durch die falsche Hausnummer des SG nicht unrichtig im Sinne des § 66 SGG ist, bedarf es auch keiner Entscheidung, ob die erforderliche abstrakte Möglichkeit eines Kausalzusammenhanges zwischen der Angabe einer unzutreffenden Nummer und dem verspäteten Klagezugang gegeben wäre (s BSGE 25, 31, 33; BSG SozR Nr 33 zu § 66 SGG), nachdem der Prozeßbevollmächtigte des Klägers in seinem Schriftsatz vom 17. März 1976 selbst dargelegt hat, daß die Klageschrift innerhalb eines Monats nach Zustellung des angefochtenen Bescheides diktiert, aber wegen eines Versehens einer Angestellten zunächst nicht abgesandt wurde.
Eine abschließende Entscheidung über die Zulässigkeit der Klage ist dem Senat jedoch nicht möglich, weil das LSG - von seiner Rechtsauffassung zu Recht - nicht geprüft hat, ob die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben sind. Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen