Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorwegnahme der Beweiswürdigung. Verletzung der Aufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

Geht das Gericht davon aus, daß eine Beweiswürdigung nicht anders ausfallen kann, wenn der angebotene Beweis erhoben wird, ist das eine unerlaubte Vorwegnahme der Beweiswürdigung (vgl BSG 1982-08-24 9a RV 13/82). Es verletzt damit seine Aufklärungspflicht, denn es hätte sich gedrängt sehen müssen, eine weitere Sachaufklärung zu betreiben.

 

Normenkette

SGG § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1974-07-30, § 160 Abs 2 Nr 3 Fassung: 1974-07-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 28.10.1981; Aktenzeichen L 2 Ua 1197/78)

SG Ulm (Entscheidung vom 16.06.1978; Aktenzeichen S 2 U 688/76)

 

Tatbestand

Der Kläger erlitt am 7. September 1972 auf einer Fahrt für seine Arbeitgeberin einen Verkehrsunfall. Über die Verletzungsfolgen dieses Unfalls besteht Streit, insbesondere über die Frage, inwieweit die vor dem Unfall bei dem Kläger bestehenden Krankheiten, namentlich eine Schädigung der Halswirbelsäule, nur vorübergehend oder auf Dauer wesentlich verschlimmert worden sind. Das Landessozialgericht (LSG) hat eine nur vorübergehende Verschlimmerung angenommen und ua ausgeführt, der Senat bezweifle zumindest die Darstellung, die der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat und im Schriftsatz vom 28. April 1981 über den Folgezustand und seine Behinderung unmittelbar nach dem Unfall gegeben habe. Wenn der Kläger entsprechend dieser Darstellung tatsächlich im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Verkehrsunfall eine so deutliche Änderung in seinem Gesundheitszustand bemerkt hätte, daß er durch die Armlähmung nicht mehr in der Lage gewesen wäre, selbst sein Auto zu lenken, dann wäre diese Befundänderung am 15. September 1972 von Dr. B. entdeckt worden.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) geltend. Im Schriftsatz vom 28. April 1981 und auch in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG habe der Kläger vorgetragen, daß schon unmittelbar am Nachmittag des 7. September 1972 nach dem Unfall beim Kaffeetrinken Schwierigkeiten aufgetreten seien und er nicht einmal mehr richtig die Kaffeetasse habe halten und zum Mund führen können. Die Beschwerden hätten sich nicht gebessert, so daß er fortan nicht mehr in der Lage gewesen sei, mit dem Pkw zu fahren und deshalb seine Frau auf der Fahrt zu r.R. diesen gelenkt habe. Hierfür habe er sich auf das Zeugnis seiner Ehefrau berufen. Auf die Aufklärung des Sachverhaltes sei es nach den Entscheidungsgründen des LSG auch erheblich angekommen; deshalb hätte der Beweis erhoben werden müssen.

Weiterhin meint der Kläger, wegen der unterschiedlichen Auffassungen der bisher gehörten Sachverständigen hätten entweder weitere Gutachten eingeholt oder zumindest die Sachverständigen erneut befragt werden müssen.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 16. Juni 1978 zurückzuweisen, hilfsweise: das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und den Rechtsstreit zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält es für fraglich, daß die Einvernahme der Ehefrau des Klägers entscheidungserhebliche Erkenntnisse hätte erbringen können. Die Ausführungen des Klägers hinsichtlich der Beschwerden nach dem Unfall seien bereits sehr umfangreich gewesen und seien vom Gericht in nicht zu beanstandender Weise gewürdigt worden. Selbst nach einer Aussage der Ehefrau wäre bei vernünftiger Würdigung aller vorhandenen Beweismittel eine andere als die getroffene Entscheidung nicht möglich gewesen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des LSG ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen. Das Urteil des LSG leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel.

Der Kläger hat in gehöriger Form einen Verfahrensfehler gerügt, auf dem das Berufungsurteil beruhen kann. In dem angefochtenen Urteil hat das LSG ausgeführt, daß es den Vortrag des Klägers, den er unter Beweis gestellt hatte, anzweifele. In die Beweiswürdigung hat das LSG nur die bereits vorliegenden Ergebnisse des Verfahrens einbeziehen können. Es hätte sich dem LSG jedoch aufdrängen müssen, eine ohne weiteres mögliche weitere Aufklärung dieses Komplexes durchzuführen und sodann unter Einschluß aller erreichbaren Beweismittel das Gesamtergebnis zu würdigen. Es ist nicht zulässig, davon auszugehen, daß eine Beweiswürdigung nicht anders ausfallen könnte, wenn der angebotene Beweis erhoben worden wäre. Das wäre eine unerlaubte Vorwegwürdigung einer Beweisaufnahme (BSG vom 24. August 1982 - 9a RV 13/82 -). Die Annahme jedenfalls, daß eine weitere Beweisaufnahme das bisherige Ergebnis unmöglich beeinträchtigen könne, war nicht gerechtfertigt. Das LSG hätte gerade bei der begrenzten medizinischen Aufklärungsmöglichkeit jeden Bedacht nehmen müssen, den Unfallhergang und seine unmittelbaren Folgen beim Kläger so weit als nur möglich sicher festzustellen. Das LSG wird ferner überprüfen müssen, ob die ärztlichen Sachverständigen bei ihren eigenen Deduktionen in vollem Umfang den vom LSG festgehaltenen Sachverhalt zugrundegelegt haben. Der medizinische Sachverständige hat nicht selbst darüber zu befinden, von welchem Tatsachenverlauf auszugehen ist, soweit die Feststellungen nicht ausschließlich von medizinischen Erkenntnissen abhängen.

Das LSG wird bei der erneuten Entscheidung selbst darüber zu befinden haben, ob aus den Strafakten oder durch gezielte Befragung eines medizinischen Sachverständigen eine weitere Aufklärung des Sachverhaltes angezeigt ist.

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653718

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