Entscheidungsstichwort (Thema)
Anerkennung einer Virushepatitis eines Flugbegleiters in Asien als Berufskrankheit
Orientierungssatz
1. Eine besondere Gefährdung bei einer bestimmten versicherten Tätigkeit, die der Gefährlichkeit von Betätigungen in den unter Nr 37 der Anlage 1 zur BKVO 7 ausdrücklich genannten Berufsbereichen gleichkommt, muß aus allgemeinen medizinischen Erfahrungen über eine Fülle gleichgelagerter Fälle erkennbar sein (vgl BSG 1978-04-20 2 RU 79/77 = SozR 5677 Anl 1 Nr 46 Nr 8).
2. Zur Frage, wann eine infektiöse Hepatitis, die sich ein Flugbegleiter während seines dienstbedingten Aufenthalts im Bereich des indischen Subkontinents zugezogen hat, als Berufskrankheit nach Nr 37 der Anl 1 zur BKVO 7 anerkannt werden kann.
Normenkette
BKVO 7 Anl 1 Nr 37 Fassung: 1968-06-20
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen einer Virushepatitis A als Berufskrankheit, die am 14. März 1974 bei ihm festgestellt wurde. Er war als Flugbegleiter der Deutschen Lufthansa AG (DLH) in der Zeit vom 7. bis 24. Februar 1974 auf Flügen im Fernen Osten zwischen Bangkok, Tokio, Bangkok, Hongkong, Delhi, Bangkok, und Delhi tätig und hatte die Passagiere bestmöglich zu betreuen. Am 17. Februar 1974 flog er von Hongkong nach Delhi, am 18. Februar nach Bangkok, wo er sich bis zum 20. Februar zur Verfügung halten mußte, und am 20. Februar zurück nach Delhi. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung nach den §§ 548, 551 Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm den Nummern 37 und 44 der Anlage zur 7. Berufskrankheitenverordnung (BKVO) ab, weil der Kläger sich die Virushepatitis nicht bei einer mit außergewöhnlicher Infektionsgefahr verbundenen Tätigkeit zugezogen habe und weil sie keine Tropenkrankheit sei (Bescheid vom 27. Januar 1975). Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab (Urteil vom 19. November 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, die Virushepatitis des Klägers zu entschädigen (Urteil vom 10. September 1980): Diese auf fäkal-oralem Weg übertragene Virushepatitis, die nach Fortfall der Arbeitsunfähigkeit zeitweilig die Erwerbsfähigkeit des Klägers um 30 vom Hundert (vH) gemindert habe, habe er sich wahrscheinlich in der Inkubationszeit (zwischen dem 17. und 24. Februar 1974) bei seiner Flugbegleitertätigkeit zugezogen. Er sei in dieser Zeit einer erheblich erhöhten Infektionsgefahr in ähnlichem Ausmaß wie bei einer Beschäftigung im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium in Deutschland ausgesetzt gewesen. Als Angehöriger des Kabinenpersonals habe er sich in allen Räumen, auch in den Toiletten, die allen Fluggästen zugänglich seien, aufhalten, mit Geld und mit benutztem Geschirr umgehen und nach Bedarf einzelne Passagiere körperlich unterstützen müssen. Die Gäste auf den bezeichneten Flügen, insbesondere im Bereich von Indien, hätten als transkontinentale Besucher ebenso wie als Einheimische sich vorher in diesen Gebieten aufgehalten; dort sei das Infektionsrisiko vierzehnmal so groß wie in Deutschland für die Gesamtbevölkerung, in deutschen Krankenhäusern aber nur zehnmal so groß. Während des Landganges habe der Kläger in Vertragshotels der DLH mittelbar Kontaktmöglichkeiten mit den örtlichen hygienischen Verhältnissen gehabt, und zwar in Hongkong, Delhi und Bangkok, außerhalb dieser Unterkünfte aber unmittelbar im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit auf Betriebsfahrten und auf Wegen von und zu der Nahrungsaufnahme, zB im Zusammenhang mit Mahlzeiten im MoghulRestaurant am 18. Februar und im Tij- Mahal -Restaurant am 20. Februar in Delhi. Auch im dortigen Vertragshotel sei der Kläger einem erheblich höheren Infektionsrisiko als in Deutschland ausgesetzt gewesen; denn Einheimische seien in diesem Haus als Personal beschäftigt und verkehrten als Gäste, die die Gemeinschaftseinrichtungen benützten; zudem stammten das Trinkwasser und ein Teil der Nahrungsmittel aus einheimischen Quellen, und Fliegen, die Speisen mit Erregern behafteten, seien nicht völlig fern zu halten. Außerdem handele es sich beim Kläger um eine Tropenkrankheit. Indien sei in entsprechendem Ausmaß mit der Virushepatitis A durchseucht.
Die Beklagte hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Bei dem unstreitigen Sachverhalt hat nach ihrer Auffassung das Berufungsgericht die während der Flugbegleitertätigkeit zugezogene Infektion zu Unrecht als Berufskrankheit gewertet. In den Flugzeugkabinen und den Vertragshotels, in denen der Kläger verkehrt habe, sei die Ansteckungsgefahr nicht derart groß gewesen, daß dies den Verhältnissen im Gesundheitswesen in Deutschland gleichzuachten wäre. Auch habe der Kläger nicht genügend Berührung mit den gefährdenden indischen Verhältnissen gehabt, um eine Tropenkrankheit anerkennen zu können. Das LSG habe mit seiner Entscheidung die §§ 103 und 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verletzt. Aus den Gutachten, auf denen sein Urteil beruhe, könne eine Gefährdung, wie sie die 7. BKVO verlange, nicht gefolgert werden.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg.
Das LSG hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, die Virushepatitis A des Klägers als Berufskrankheit wie die Folgen eines Arbeitsunfalles zu entschädigen (§§ 547, 548 Abs 1 Satz 1, § 551 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 Satz 1 RVO).
Diese Krankheit ist deshalb eine Berufskrankheit iS der genannten Vorschriften, weil sie in der hier anzuwendenden 7. BKVO vom 20. Juni 1968 - BGBl I 721 - als solche bezeichnet worden ist und weil der Kläger sie sich bei der versicherten Tätigkeit als Flugbegleiter zugezogen hat (§ 551 Abs 1 Satz 2, § 539 Abs 1 Satz 1 RVO, § 1 der 7. BKVO). Es handelt sich um eine Infektionskrankheit, an der sich zu infizieren für den Kläger durch seine Tätigkeit eine besondere Gefahr in einem ähnlichen Ausmaß wie im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege und in Laboratorien in Deutschland bestand (Nr 37 der Anlage 1 zur 7. BKVO).
Der Kläger hat sich wahrscheinlich an Hepatitisviren vom Typ A beim Flugdienst im Bereich des indischen Subkontinentes oder beim dienstbedingten Landaufenthalt in Delhi/Indien oder in Bangkok/Thailand angesteckt. Das hat das LSG verbindlich festgestellt (§ 163 SGG). Diese tatsächlichen Feststellungen werden von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen. Das LSG hat auch einen zutreffenden Maßstab der Wahrscheinlichkeit angewendet (zB BSG SozR Nr 20 zu § 542 RVO aF; 2200 § 551 Nr 1).
Die Beklagte wirft dem Berufungsgericht ein Überschreiten der der richterlichen Überzeugungsbildung gesetzten Grenzen (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) und eine unzureichende Sachaufklärung (§ 103 SGG) lediglich im Zusammenhang mit der Bewertung vor, jene dienstliche Erkrankung sei eine Infektionskrankheit iS der Nr 37 der Anlage 1 zur 7. BKVO. Damit greift die Revision die Feststellung von Allgemeintatsachen an, die zu generellen Erfahrungen als Voraussetzungen jener rechtlichen Zuordnung gehören. Dies hat das Revisionsgericht, das die Rechtsanwendung zu kontrollieren hat (§ 162 SGG), selbst zu überprüfen (zur Veröffentlichung bestimmtes Urteil des BSG vom 24. August 1982 - 9a RV 4/82 -).
Unter den tatsächlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, unter denen der Kläger sich die Virushepatitis im indischen Raum zugezogen hat, hat das LSG diese Infektionskrankheit zutreffend als Berufskrankheit im bezeichneten Sinn bewertet. Diese Lebererkrankung ist durch besondere Einwirkungen verursacht worden, denen ein Flugbegleiter wie der Kläger bei seiner versicherten Tätigkeit in dem erforderlichen Grad stärker ausgesetzt ist als die übrige deutsche Bevölkerung (vgl dazu Entwurf der 7. BKVO - BR-Drucks 128/68, Begründung S 1; BSG 26. Januar 1982 - 2 RU 77/80 -).
Eine solche besondere Gefährdung bei einer bestimmten versicherten Tätigkeit, die der Gefährlichkeit von Betätigungen in den unter Nr 37 der Anlage 1 zur 7. BKVO ausdrücklich genannten Berufsbereichen gleichkommt, muß aus allgemeinen medizinischen Erfahrungen über eine Fülle gleichgelagerter Fälle erkennbar sein (BVerfG SozR 2200 § 551 Nr 11; BSG SozR 5677 Anl 1 Nr 46 Nr 8).
Über Infektionsgefahren für Flugpersonal gibt es keine statistisch aufgeschlüsselten Beobachtungen, die genau den Personenkreis und die Gefahrenherde dieses Falles betreffen. Die DLH hat Hepatitiserkrankungen ihrer Flugzeugbesatzungen weder speziell nach Fällen der Virushepatitis A zahlenmäßig abgegrenzt noch auf Flugbegleiter und besonders auf solche beschränkt, die sich im Raum des indischen Subkontinents infiziert haben (vgl dazu BSG SozR 5676 Anl 1 Nr 44 Nr 2 S 12). Dementsprechende Krankenfälle lassen sich daher nicht nach solchen Erhebungen mit anderen Infektionsfällen vergleichen. Untersuchungen über Hepatitisinfektionen unter bestimmten im Ausland tätig gewesenen Mitarbeitern stammen aus Zeiten, in denen noch nicht nach den verschiedenen Hepatitisarten, insbesondere A und B, unterschieden wurde; das ergibt sich aus dem von Chefarzt Dr. K. und Facharzt Dr. S., Tropenheim P.-L.-Krankenhaus in T., im Verfahren L-3-U/1039/78 des Hessischen LSG erstatteten Gutachten vom 10. September 1982, das die Beklagte in diesem Rechtsstreit eingereicht hat. Diese beiden Krankheitstypen unterscheiden sich aber wesentlich in mancherlei Hinsicht, die für diesen Fall bedeutsam ist.
Bei diesem Erkenntnisstand bleibt nichts anderes übrig, als das Ausmaß der Infektionsgefährdung durch Vergleiche aufgrund der Erfahrungen zu beurteilen, die die Sachverständigen Dr. K. und Dr. S. durch laufende Beobachtungen verschiedener Patientenkreise gewonnen haben. Das ist in dem in dieser Sache eingeholten Gutachten geschehen.
Weder hat das LSG die angefochtene Entscheidung noch hat das Bundessozialgericht (BSG) sein von der Beklagten gleichzeitig beanstandetes Urteil vom 26. Januar 1982 - 2 RU 77/80 - einfach und ausschließlich auf die allgemeine Erfahrung gestützt, daß in Indien die Gefahr, sich eine Virushepatitis A zuzuziehen, vierzehnmal so groß ist wie durchschnittlich für die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, während Ärzte und Pflegepersonal in deutschen Krankenhäusern einem nur zehnmal größeren Infektionsrisiko ausgesetzt sind. Dem Berufungsurteil liegt vielmehr ein differenzierteres Vergleichsmaterial zugrunde, das den besonderen Verhältnissen dieses Falles einigermaßen nahe kommt. Den erhöhten Gefährdungsgrad, der erfahrungsgemäß für den Kläger während seiner verschiedenen versicherten Tätigkeiten in der maßgeblichen Ansteckungszeit bestanden haben wird, hat das LSG zutreffend jeweils danach bestimmt, wieweit das allgemein in Indien herrschende Infektionsrisiko auf den besonderen Lebensbereich einwirkt, in dem der Kläger sich jeweils befand. Dabei wird zwischen verschiedenen versicherten Betätigungen unterschieden:
Dem Dienst an Bord als Flugbegleiter, dem Aufenthalt in Vertragshotels der DLH und den dienstbedingten Fahrten zu den Restaurants in Delhi.
Die Beklagte hat auf keinerlei sachlich begründete, wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse hinweisen können, die die Beurteilung widerlegen, daß in diesen Lebensbereichen nach allgemeiner Erfahrung eine erhöhte Ansteckungsgefahr bestand, die für diesen Fall erforderlich ist. Sie kann sich auch nicht auf das in der Sache S-3/U-8/78 für das SG Gießen erstattete Gutachten berufen, das sie eingereicht hat. Es betrifft eine Flugbegleiterin, die während der Inkubationszeit nicht im Bereich von Indien geflogen war und gelebt hatte, und geht deshalb auf die einzelnen zuvor erörterten Gefahrenbereiche gar nicht ein. Entgegen der Behauptung der Beklagten hat das BSG im Urteil vom 22. Oktober 1975 - 8 RU 54/75 - (= SozR 5676 Anl § 44 Nr 2) nicht entschieden, das Risiko, an einer Virushepatitis vom Typ A zu erkranken, sei beim Aufenthalt in Luxushotels europäischen Standards niedriger als sonst in der jeweiligen Umgebung. Dieser Fall betraf allein die Entscheidung über eine Tropenkrankheit iS der Nr 44 der Anl zur 6. BKVO, außerdem nicht erkennbar eine Virushepatitis A. Ob für den ständigen Aufenthalt in Luxushotels etwas anderes gelte, hat das Gericht ausdrücklich dahingestellt sein lassen.
Ob die infektiöse Hepatitis, die der Kläger sich im Bereich des indischen Subkontinents zugezogen hat, außerdem eine Tropenkrankheit iS der 7. BKVO ist (vgl dazu BSG SozR 5676 Anl Nr 44 Nr 1; BSG WSK 7809; USK 77, 210; speziell für die epidemische und infektiöse Hepatitis: BSG SozR 5676 Anl Nr 44 Nr 2; BSG USK 75124 und 77210), braucht nicht entschieden zu werden.
Die mithin nicht begründete Revision der Beklagten muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen