Orientierungssatz

Gerichtszuständigkeit nach § 215 Abs 8 SGG - Rechtszugeröffnung:

Ist eine bei einem Oberverwaltungsgericht anhängige Streitsache nach § 215 Abs 8 SGG als Berufung auf das LSG übergegangen, so kommt es nicht darauf an, ob der Rechtszug zum Oberverwaltungsgericht statthaft war (vgl BSG 1955-06-16 3 RJ 83/54 = BSGE 1, 82).

 

Normenkette

SGG § 215 Abs. 8 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 15.12.1955)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 15. Dezember 1955 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger erlitt am 11. Oktober 1948 einen Arbeitsunfall. Die Entschädigung hatte die Beklagte durch Bescheid vom 27. Dezember 1949 mit der Begründung abgelehnt, der Unfall habe keine Folgen hinterlassen, die einen Entschädigungsanspruch begründen könnten. Die Berufung des Klägers gegen diesen Bescheid hat das Oberversicherungsamt Osnabrück durch Urteil vom 28. April 1950 zurückgewiesen.

Mit einem am 20. September 1951 bei der Beklagten eingegangenen Schriftsatz hat die Industriegewerkschaft Metall in Vollmacht des Klägers erneut Entschädigungsansprüche gestellt und zur Begründung vorgebracht, die durch den Unfall verursachten Beschwerden hätten sich in der Zwischenzeit erheblich verstärkt. Durch Bescheid vom 7. August 1952 hat die Beklagte den Entschädigungsanspruch mit der Begründung abgelehnt, daß Unfallfolgen, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge haben, nicht vorlägen. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt in Osnabrück eingelegt. Dieses hat die Berufung durch Urteil vom 19. März 1953 zurückgewiesen.

Gegen das Urteil des Oberversicherungsamts hat der Kläger (weitere) Berufung zum Oberverwaltungsgericht in Lüneburg eingelegt. Von dort ist die Sache nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht Celle übergegangen. Dieses hat durch Urteil vom 15. Dezember 1955 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Oberversicherungsamts verworfen. Das Landessozialgericht ist der Auffassung, daß von den Verwaltungsgerichten nur solche Rechtsmittel als zulässig auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit übergehen könnten, die nach dem Verfahrensrecht der Reichsversicherungsordnung (RVO) zulässig gewesen seien. Im vorliegenden Fall ist nach Auffassung des Landessozialgerichts der Rekurs nach § 1700 Nr. 8 RVO ausgeschlossen gewesen.

Die Revision hat das Landessozialgericht zugelassen.

Gegen das Urteil des Landessozialgerichts, das am 6. Januar 1956 zugestellt worden ist, hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 27. Januar 1956 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 30. Januar 1956) Revision eingelegt und diese in demselben Schriftsatz begründet.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Beklagte stellt den gleichen Antrag.

Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).

Die Revision ist auch begründet.

Beim Inkrafttreten des SGG war die Sache noch beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg, einem allgemeinen Verwaltungsgericht des zweiten Rechtszuges, rechtshängig; da es sich zweifellos um eine Angelegenheit des § 51 SGG handelt, ist sie infolgedessen nach § 215 Abs. 8 SGG als Berufung auf das Landessozialgericht übergegangen, ohne daß es darauf ankommt, ob der Rechtszug zum Oberverwaltungsgericht statthaft war (vgl. BSG. 1 S. 82, insbes. S. 88, und BSG. in SozR. SGG § 215 Bl. Da 6 Nr. 23).

Für die Statthaftigkeit der Berufung ist es - entgegen der von der Revision mit Recht gerügten Auffassung des Landessozialgerichts - bedeutungslos, ob nach dem Verfahrensrecht der Reichsversicherungsordnung (§ 1700 Nr. 8 RVO) der Rekurs gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Osnabrück ausgeschlossen war. Die Anfechtung der vor dem Inkrafttreten des SGG ergangenen Urteile der Oberversicherungsämter außerhalb des Landes Bayern und des ehemaligen Landes Württemberg-Baden und die Weiterverfolgung der gegen solche Urteile nach dem Verfahrensrecht der RVO eingelegten Rechtsmittel ist vom Gesetzgeber nur unter den einschränkenden Voraussetzungen des § 214 SGG zugelassen worden. Der Gesetzgeber hat jedoch die Überleitung der Fälle, in denen vor dem Inkrafttreten des SGG durch Anrufung der Verwaltungsgerichte ein neuer Rechtszug eröffnet worden war, nicht in gleicher Weise beschränkt, wie aus den zweiten Halbsätzen der Absätze 7 bis 9 des § 215 SGG hervorgeht. Dieser Regelung liegt die Erwägung zu Grunde, daß in diesen Fällen ein gleichwertiger Rechtszug eröffnet und damit eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Rechtslage vermieden werden sollte. Deshalb richtet sich die Zulässigkeit der Berufung im Falle des § 215 Abs. 8 SGG nur nach den Vorschriften der §§ 143 bis 150 SGG (vgl. BSG. 1 S. 283).

Hiernach ist im vorliegenden Falle die Berufung nicht ausgeschlossen. Es handelt sich zwar um die Neufestsetzung einer Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, jedoch hängt es von der Entscheidung ab, ob überhaupt eine Rente zu gewähren ist (vgl. § 145 Nr. 4 SGG).

Die Berufung ist auch form- und fristgerecht eingelegt. Hierfür ist das zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels geltende Verfahrensrecht maßgebend (vgl. BSG. in Sozialrecht SGG 215 Bl. Da 6 Nr. 23), d. h. die Militärregierungs-Verordnung 165 über die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der britischen Zone. Nach deren § 83 war die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich (oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle) bei dem Gericht einzulegen, dessen Entscheidung angefochten wird, im vorliegenden Fall also beim Oberversicherungsamt Osnabrück. Dort ist ein den Formvorschriften entsprechender Schriftsatz des Prozeßbevollmächtigten des Klägers vom 29. Mai 1953 am 1. Juni 1953 eingegangen. Die Berufungsfrist muß als gewahrt angesehen werden, da, wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, nicht eindeutig ermittelt werden kann, wann das angefochtene Urteil abgesandt und zugegangen ist. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Osnabrück war somit zulässig.

Das Landessozialgericht hat sie zu Unrecht als unzulässig verworfen. Es hätte in eine sachliche Prüfung eintreten und eine Sachentscheidung treffen müssen.

Da eine Entscheidung in der Sache selbst durch das Bundessozialgericht nicht möglich ist, mußte das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324283

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