Entscheidungsstichwort (Thema)
Übernahme früher anerkannter Gesundheitsstörungen nur, soweit sie fortbestehen
Leitsatz (redaktionell)
1. Für die erste Feststellung der Versorgungsbezüge nach dem BVG sind die tatsächlichen Verhältnisse, die bei dieser Feststellung vorliegen, maßgebend.
2. Nur soweit früher anerkannte Gesundheitsstörungen noch fortbestehen, ist die frühere Entscheidung iS des BVG § 85 S 1 rechtsverbindlich.
Normenkette
BVG § 85 S. 1 Fassung: 1950-12-20
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Februar 1955 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger bezog nach dem Urteil des Versorgungsgerichts (VersorgG.) Stuttgart vom 24. September 1927 Versorgungsrente nach dem Reichsversorgungsgesetz (RVG) wegen einer MdE. um 30 v.H. Als Versorgungsleiden war hysterische Nervenschwäche nach Verletzung an der Schläfe anerkannt. Im Bescheid vom 25. Mai 1949 nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) hat die Landesversicherungsanstalt (LVA.) als damalige Versorgungsbehörde ohne ärztliche Untersuchung dieses Leiden als Leistungsgrund übernommen und Rente nach einer MdE. um 30 v.H. gewährt. Dieser Bescheid ist rechtskräftig. Im Juli 1951 machte der Kläger Verschlimmerung seines Leidens geltend und legte auf Aufforderung ein Zeugnis des Nervenarztes Dr. H... vom September 1951 vor. Im März 1952 wurde der Kläger versorgungsärztlich durch den Nervenfacharzt Dr. S... untersucht. Dieser sah die hysterische Reaktion nach Verwundung als längst abgeklungen an. Mit Umanerkennungsbescheid vom 12. Juni 1952 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA.) Weichteilnarbe an der linken Schläfe als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) an mit einer MdE. um 30 v.H. ab 1. Oktober 1950 und um weniger als 25 v.H. ab 1. April 1952.
Im Berufungsverfahren gegen den BVG-Bescheid hat das Oberversicherungsamt (OVA.) den Nervenarzt Dr. H... gehört; dieser trat dem Gutachten des Dr. S... bei. Mit Urteil vom 25. August 1953 wurde die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG.), auf das der Rekurs des Klägers mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 übergegangen ist, hat mit Urteil vom 23. Februar 1955 die Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, nach dem Gutachten des Dr. S... und H... beständen neurologische Ausfälle von seiten der Kopfverletzung nicht mehr. Eine hysterische Reaktion sei längst abgeklungen. Die Kopfschmerzen hingen wahrscheinlich mit einer beim Kläger vorliegenden Turmschädelbildung zusammen.
... Nervöse Erscheinungen seien Ausdruck einer konstitutionellen Eigenheit (Schwachsinn). Abgeheilte Leiden seien nach § 85 Satz 1 BVG nicht zu übernehmen, da hierfür kein Rechtsschutzinteresse des Klägers bestehe. Die erstmalige Feststellung nach dem BVG erfolge grundsätzlich unabhängig von der früheren Feststellung, allerdings unter Beachtung des § 85 Satz 1 BVG. Auch der BVG-Rente sei nur der wirkliche Leidenszustand zugrunde zu legen. Daher habe der Beklagte die hysterische Nervenschwäche nicht im BVG-Bescheid übernehmen müssen. Die noch vorhandene reizfreie Weichteilnarbe bedinge keine nennenswerte MdE. Revision wurde zugelassen.
Der Kläger hat mit der Revision beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23.2.1955 sowie das Urteil des Oberversicherungsamts Stuttgart vom 25.8.1953 aufzuheben, den Revisionsbeklagten zu verurteilen, hysterische Nervenschwäche nach Verletzung an der linken Schläfe im Sinne der Verschlimmerung als Schädigungsfolgen anzuerkennen und unter Abänderung des Bescheides des Versorgungsamts Stuttgart vom 12.6.1952 über den 31.7.1952 hinaus Rente wegen einer MdE. um 30% zu gewähren, ferner dem Revisionsbeklagten die Erstattung der außergerichtlichen Kosten aufzuerlegen.
Die Revision rügt Verletzung des § 85 Satz 1 BVG. Die hysterische Nervenschwäche sei durch das Urteil des VersorgG. und ebenso durch den KBLG-Bescheid von 1949 anerkannt worden. Der Sachstand sei bei Erlass des Urteils des VersorgG. 1927 und bei der Erteilung des KBLG-Bescheides 1949 der gleiche gewesen, er werde jetzt nach dem BVG nur anders beurteilt. Dies sei wegen der Rechtskraftwirkung der früheren Entscheidungen, zumindest des KBLG-Bescheides von 1949, nicht möglich.
Der Beklagte hat beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 Abs. 1, § 166 SGG). Sie ist infolge Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sachlich ist sie nicht begründet.
§ 85 Satz 1 BVG schreibt vor, dass, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinn des § 1 BVG entschieden worden ist, die Entscheidung auch nach diesem Gesetz rechtsverbindlich ist. Das Bundessozialgericht (BSG.) hat hierzu bereits ausgesprochen, dass eine rechtsverbindliche Entscheidung in diesem Sinn nicht vorliegt, wenn eine Gesundheitsstörung als Folge einer Dienstbeschädigung nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften anerkannt war und diese Gesundheitsstörung bei Erlass des Umanerkennungsbescheids nicht mehr bestand (BSG. 2 S. 113 und BSG. Urteil des 10. Senats vom 24.8.1956 in SozR. BVG § 85 Ca 2 Nr. 3). Der Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an.
Für die erste Feststellung der Versorgungsbezüge nach dem BVG sind die tatsächlichen Verhältnisse, die bei dieser Feststellung vorliegen, maßgebend. Nur insoweit früher anerkannte Gesundheitsstörungen noch fortbestehen, ist die frühere Entscheidung im Sinn des § 85 Satz 1 BVG rechtsverbindlich.
Das LSG. hat festgestellt, dass eine hysterische Reaktion nach der Schläfenverletzung - längst - abgeklungen ist, dass die Kopfschmerzen wahrscheinlich mit der Turmschädelbildung des Klägers zusammenhängen, und dass sonstige nervöse Erscheinungen Ausdruck einer konstitutionellen Eigenart des Klägers sind. Die Revision hat diese Feststellungen nicht angegriffen. Sie sind daher nach § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend. Somit steht fest, dass eine hysterische Nervenschwäche nach Verletzung der Schläfe nicht mehr vorhanden ist. Sie konnte deshalb nicht als gesundheitliche Folge einer Schädigung im Sinn des § 1 Abs. 1 BVG in den BVG-Bescheid übernommen werden.
Die Erwägungen der Revision, die die Übernahme der hysterischen Nervenschwäche als Schädigungsfolge nach dem BVG begründen sollen, greifen nicht durch. Der Kläger stützt sich auf das versorgungsgerichtliche Urteil von 1927 und auf den KBLG-Bescheid von 1949. Soweit der Kläger sich auf das Urteil von 1927 beruft, will er damit offenbar dartun, dass das Urteil 1927 vielleicht den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprochen habe und möglicherweise unrichtig gewesen sei, dass aber infolge seiner Rechtskraftwirkung eine andere Entscheidung jetzt nicht mehr möglich sei, weil die tatsächlichen Verhältnisse sich nicht geändert hätten. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Annahme der Revision wirklich zutrifft und, wenn dies der Fall ist, aus welchen Gründen das VersorgG. 1927 trotzdem zu Gunsten des Klägers entschieden hat. Es ist auch zutreffend, dass unrichtige Urteile die gleiche Rechtskraftwirkung erzeugen wie richtige Urteile. Die nach früherem Versorgungsrecht ergangenen Urteile haben aber ihre allgemeine Rechtskraftwirkung mit dem Fortfall der Gesetze, auf denen sie beruhten, verloren (BSG. 3 S. 251 [255 ff]). Der in verschiedenen versorgungsrechtlichen Bestimmungen ausgesprochene allgemeine Grundsatz, dass eine Änderung rechtskräftiger Entscheidungen nur bei Änderung der zugrundeliegenden Verhältnisse möglich ist (§ 57 RVG, § 62 BVG, ähnlich für die Sozialversicherung § 608 RVO), greift daher bei der ersten Feststellung des Versorgungsanspruchs nach dem BVG grundsätzlich nicht Platz. Soweit § 85 Satz 1 BVG einer früheren rechtskräftigen Entscheidung eine Wirkung für die Entscheidung nach dem BVG verleiht, bedeutet dies nur, dass die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinn des § 1 BVG nicht neu geprüft werden darf. Diese Wirkung des § 85 Satz 1 kommt auch früheren etwa unrichtigen Urteilen zu. Die Anwendung des § 85 Satz 1 BVG setzt aber stets voraus, dass das gleiche Leiden, das früher anerkannt worden ist, bei der Umanerkennung noch besteht. § 85 Satz 1 BVG besagt nicht, dass ein nicht mehr vorhandenes Leiden nach dem BVG weiter anerkannt werden müsse. Für diese Vorschrift ist nur wesentlich, ob das Leiden noch vorliegt, ob es etwa früher zu Recht oder zu Unrecht anerkannt wurde, ist hierbei unwesentlich. Eine Prüfung des Sachstandes von 1927, wie der Kläger meint, könnte von Bedeutung sein, wenn frühere anerkennende Bescheide durch Berichtigungsbescheid (Zuungunstenbescheid) beseitigt werden sollen (§ 41 VerwVG), um mit ihrer, auf den Zeitpunkt ihres Erlasses zurückwirkenden Aufhebung auch ihre rechtsverbindliche Wirkung nach § 85 Satz 1 BVG zu beseitigen. Dieser Fall liegt hier nicht vor. Die früheren Entscheidungen bleiben in ihrer Wirkung für die Vergangenheit unberührt. Hier handelt es sich nur um die weitere, zukünftige Anerkennung von Schädigungsfolgen nach dem BVG. Dafür ist allein entscheidend, ob das anerkannte Leiden im Zeitpunkt der Umanerkennung noch besteht.
Auch die besondere Bezugnahme des Klägers auf den zuletzt ergangenen, rechtskräftigen KBLG-Bescheid von 1949 vermag an dieser Rechtslage nichts zu ändern. Es kann auch hier dahingestellt bleiben, ob bei Bescheidserteilung 1949 die Gesundheitsstörung noch bestand oder nicht; denn auch dieser Bescheid ist nur rechtsverbindlich im Sinn des § 85 BVG, wenn die darin anerkannte Gesundheitsstörung bei Erlass des Umanerkennungsbescheides nach dem BVG noch vorliegt. Da dies nicht der Fall war, hat die Beklagte zu Recht hysterische Nervenschwäche als Schädigungsfolge nach dem BVG nicht übernommen.
Das Urteil des LSG. entspricht dem Gesetz. Die Revision ist daher unbegründet. Sie war nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen