Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang der Sachaufklärungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren

 

Orientierungssatz

Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren:

Hält ein Arzt den ursächlichen Zusammenhang zwischen innerer Gesundheitsstörung und nach schädigendem Ereignis für gegeben, so verletzt das Gericht seine Sachaufklärungspflicht, wenn es keinen Facharzt für innere Krankheiten mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, sondern sich mit der in einem psychiatrischen Gutachten getroffenen Feststellung begnügt, überschlägige Untersuchung hätte keinen krankhaften Befund innerer Organe ergeben.

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 02.10.1957)

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2. Oktober 1957 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der am 16. Oktober 1926 geborene Kläger war vom 4. August 1943 bis 12. Juni 1944 beim Reichsarbeitsdienst und anschließend Soldat im zweiten Weltkrieg. Er nahm an den Invasionskämpfen teil und befand sich dann bis 6. Januar 1946 in französischer Kriegsgefangenschaft. Am 30. März 1955 beantragte er Rente wegen Hungertyphus, Herzleiden und Schizophrenie. Vom 28. November 1955 bis 8. Juni 1957 war für den Kläger eine Pflegschaft durch das Amtsgericht in Dieburg angeordnet. Das Versorgungsamt (VersorgA.) zog das Krankenblatt der Landesheil- und Pflegeanstalt H bei. Es holte ferner ein nervenfachärztliches Gutachten des Dr. H vom 29. Oktober 1955 und der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der Universität H vom 29. Mai 1956 ein. Mit Bescheid vom 9. Juli 1956 lehnte das VersorgA. unter Bezug auf §§ 56, 57 Bundesversorgungsgesetz (BVG) den Antrag ab. Dem Widerspruch des Klägers wurde nicht abgeholfen.

Das Sozialgericht (SG.) hat die Klage gegen den Widerspruchsbescheid abgewiesen.

Im Berufungsverfahren legte der Kläger eine Bescheinigung des Kreisgesundheitsamtes D vor, wonach bei einer Untersuchung am 6. November 1952 vegetative Dystonie, Neigung zu starken Schweißen und erniedrigter Blutdruck festgestellt wurde, ferner zwei Bescheinigungen des Dr. W dem er seit April 1957 bekannt war und der eine Leber- und Gallenfunktionsstörung mit Magendyspepsie, Nierenausscheidungsstörungen, vegetative Beschwerden (Schwitzen) festgestellt hatte und der einen Zusammenhang zwischen den 1946 vorhandenen Hungerödemen, der Erkrankung 1954/55 als Folge dieser Leberstörung und dem jetzigen Zustand als gegeben ansah, sowie eine Bescheinigung des Dr. S nach der der Kläger bei Kriegsende eine Lungenaffektion mitgemacht habe. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des Klägers beantragt, das "Nervenleiden" als Schädigungsfolge anzuerkennen und entsprechende Versorgung zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG.) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVG, nach denen der Anspruch auf Rente noch nach Ablauf der Frist des § 56 Abs. 1 BVG geltend gemacht werden könne, seien nicht erfüllt. Nach dem Entlassungsschein könne davon ausgegangen werden, daß der Kläger bei Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft Herzbeschwerden gehabt habe, die auf die Strapazen in der Kriegsgefangenschaft zurückzuführen waren. Sie müßten bald abgeklungen sein, weil der Kläger seine Beschäftigung bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK.) wieder aufgenommen habe. Es könnten auch später keine besonderen Beschwerden bestanden haben, weil er keinen Antrag auf Versorgung gestellt habe, obwohl dies von ihm als Angestellten der AOK. hätte erwartet werden müssen, wenn die Voraussetzungen hierfür vorgelegen hätten. Daraus, daß er dies nicht getan habe, sei zu ersehen, daß nach seiner eigenen Ansicht damals kein Versorgungsleiden vorlag; die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Nr. 2 BVG seien somit nicht gegeben. Auch § 57 Abs. 1 Nr. 1 BVG sei nicht erfüllt. Die 1954 aufgetretene Schizophrenie sei anlagebedingt, sie sei auch nicht durch Einflüsse der Gefangenschaft verschlimmert worden. Abgesehen davon, daß die Strapazen der Gefangenschaft nicht über das übliche Maß hinausgegangen seien, hätte das Leiden sonst in einem zeitlichen Zusammenhang mit der Gefangenschaft auftreten müssen. Da bei Untersuchung in der H Psychiatrischen Universitätsklinik ein krankhafter Befund der inneren Organe nicht erhoben worden sei, könne die Auffassung des Dr. W daß die Schizophrenie möglicherweise noch in ursächlichem Zusammenhang mit den Hungerödemen stehe, zumal im April 1957 eine Leber- und Gallenfunktionsstörung festgestellt worden sei, nicht richtig sein. Während einer Zeit von mehr als 10 Jahren nach der Gefangenschaft seien entsprechende Erkrankungen nicht aufgetreten. Da sonach ein ursächlicher Zusammenhang der Schizophrenie mit schädigenden Einflüssen des Wehrdienstes oder der Gefangenschaft weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung wahrscheinlich sei, bestehe keine Folge einer Schädigung im Sinne des § 1 Abs. 1 BVG. Revision ist nicht zugelassen.

Das Urteil ist dem Kläger am 30. November 1957 zugestellt worden. Am 11. Dezember 1957 hat er um die Bewilligung des Armenrechts nachgesucht. Der Senat hat ihn mit Schreiben vom 11. Dezember 1957 aufgefordert, umgehend ein Armutszeugnis vorzulegen und bis 10. Januar 1958 die Tatsachen und Beweismittel zu bezeichnen, die einen gerügten Verfahrensmangel ergeben, sowie darzulegen, worin bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs eine Gesetzesverletzung erblickt werde.

Am 8. Januar 1958 hat der Kläger durch einen Rechtsanwalt ein Armutszeugnis vorgelegt, Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Am 27. Januar 1958 hat sein Prozeßbevollmächtigter gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Kläger habe ihn am 2. Januar 1958 mit seiner Vertretung beauftragt. Der Kläger habe das Schreiben des Senats vom 11. Dezember 1957 so verstanden, daß die Revision mit Begründung bis zum 10. Januar 1958 eingereicht werden müsse. Mit Beschluß vom 7. August 1958 ist dem Kläger das Armenrecht bewilligt worden.

Der Kläger hat beantragt,

1. das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 2.....1957, sowie den Bescheid vom 9.7.1956 aufzuheben und die Beklagte nach Klageantrag zu verurteilen,

2. Vorsorglich:

die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Revision rügt Verletzung des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG), der §§ 103, 128 SGG, des § 56 Abs. 1 und 2 BVG. Das LSG. habe gegen seine Sachaufklärungspflicht verstoßen, weil es kein ärztliches Gutachten zur Frage des ursächlichen Zusammenhangs der Leber- und Gallenfunktionsstörung mit Magendyspepsie und des Herzleidens mit Kriegseinflüssen eingeholt habe. Die Feststellung im Gutachten der Psychiatrischen Universitätsklinik H, an den inneren Organen sei kein krankhafter Befund, sei unzureichend. Die Feststellung, die Entbehrungen in der Gefangenschaft seien nicht über das übliche Maß hinausgegangen, sei unbegründet und widerlegt durch die Hungerödeme und die Wassersucht bei Rückkehr aus der Gefangenschaft.

Auch wenn man, wie im angefochtenen Urteil, zu der Feststellung käme, daß das Nervenleiden nicht als Folge der Kriegseinwirkung oder der Gefangenschaft anzusehen sei, so müßte Rente nach dem BVG jedenfalls wegen der Folgen des Hungertyphus und des Herzleidens gewährt werden, die sich unabhängig von dem Nervenleiden so verschlimmert hätten, daß der Kläger arbeitsunfähig sei. Der Kläger habe seinen Rentenanspruch auch auf den Hungertyphus mit seinen Folgen und das Herzleiden gestützt.

Der Beklagte hat zunächst Verwerfung, später Zurückweisung der Revision beantragt.

Da die Revision erst nach Ablauf der am 30. Dezember 1957 beendeten Revisionsfrist eingelegt wurde, war zunächst über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden. Nach § 67 SGG ist Wiedereinsetzung zu gewähren, wenn der Antragsteller ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Kläger war zuerst durch seine Armut verhindert, einen Prozeßbevollmächtigten zur Revisionseinlegung zu bestellen. Dies ergibt sich aus seinem Antrag auf Bewilligung des Armenrechts vom 11. Dezember 1957. Er hat dann jedoch ohne die Entscheidung des Gerichts über die Bewilligung des Armenrechts abzuwarten, durch einen Rechtsanwalt Revision eingelegt. Dies ist nach Ablauf der Revisionsfrist, also verspätet geschehen. Für diese Verspätung war nicht mehr die Armut des Klägers ursächlich, denn er hat trotz der Armut einen Rechtsanwalt beauftragt. Ursächlich für die Einlegung der Revision nach dem 30. Dezember 1957 war vielmehr die Auslegung, die der Kläger dem Schreiben des Senats vom 11. Dezember 1957 gegeben hat, indem er daraus entnahm, der 10. Januar 1958 sei Endtermin für die Revisionseinlegung und -begründung. Diese Auslegung entsprach zwar nicht dem Gesetz und ergab sich auch nicht zwingend aus dem Schreiben des Senats. Doch kann dem Kläger geglaubt werden, daß er sich diese Auffassung nach dem Schreiben des Senats gebildet hat. Daß sie rechtlich nicht zutreffend war, kann dem nicht rechtskundigen Kläger nicht als Verschulden angerechnet werden. Auch der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat die Revision nicht schuldhaft verspätet eingelegt, denn der Kläger hatte, ausgehend von seiner Auslegung des Schreibens des Senats, den Rechtsanwalt erst am 2. Januar 1958, also nach Ablauf der Revisionsfrist beauftragt. Da die Versäumung der Revisionsfrist somit unverschuldet ist, und die versäumte Rechtshandlung gemäß § 67 Abs. 2 SGG fristgerecht nachgeholt wurde, war gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat, ist diese nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, BSG. 1 S. 150), oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinn des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG, BSG. 1 S. 254).

Unstreitig ist die Frist des § 56 BVG für die Anmeldung der Versorgungsansprüche des Klägers versäumt. Das LSG. hat die Voraussetzungen der Ausnahmevorschriften für die Anmeldung nach Ablauf der Frist gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVG verneint. Soweit es sich dabei um die internen Leiden des Klägers handelt, liegen die von der Revision gerügten wesentlichen Verfahrensmängel vor. Die Revision ist daher zulässig.

Das LSG. hat die geltend gemachten internen Leiden nicht ausreichend geprüft, und damit § 103 SGG verletzt. Es hat im Tatbestand angeführt, Dr. W D, habe bescheinigt, daß der Kläger an einer Leber- und Gallenfunktionsstörung mit Magendyspepsie leide und mit starken Ödemen an beiden Beinen im Januar 1946 aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt sei und seitdem immer kränklich und leicht erregbar gewesen sein solle. Nach seiner Auffassung erscheine ein Zusammenhang zwischen den Hungerödemen (Leberstörungen ?) 1946, der Erkrankung 1954/55 als Folge dieser Leberstörung und dem heutigen Zustand gegeben. Bei dieser Sachlage hätte das LSG. sich für die Prüfung des ursächlichen Zusammenhangs der internen Leiden mit dem Kriegsdienst und der Gefangenschaft nicht mit dem Gutachten der Psychiatrischen Klinik der Universität H begnügen dürfen. In diesem Gutachten heißt es: "An den inneren Organen nach überschlägiger Untersuchung kein krankhafter Befund". Dieses Gutachten ist also nicht von Fachinternisten und auch nur nach überschlägiger, d. h. einfacher Untersuchung und ohne die internistischen besonderen Untersuchungsmethoden erstellt. Daher konnte dieses Gutachten, auf das das LSG. seine Feststellung ausschließlich gestützt hat, keine ausreichende Grundlage für seine Überzeugungsbildung sein. Vielmehr hätten das Gutachten des Dr. W und die sonstigen vom Kläger beigebrachten Unterlagen hinsichtlich der behaupteten internen Leiden Veranlassung geben müssen, ein innerfachärztliches Gutachten einzuholen. Dann hätte sich möglicherweise ein Zusammenhang zwischen dem schon im Rentenantrag erwähnten Hungertyphus und Herzleiden und dem heute festgestellten internen Leiden ergeben. Das LSG. hat somit den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt und den vorliegenden Streitstoff nicht ausreichend gewürdigt. Auf diesem wesentlichen Verfahrensmangel beruht das Urteil (§ 162 Abs. 2 SGG), denn es ist möglich, daß das LSG. bei ordnungsmäßiger Prüfung zu einer anderen Beurteilung der Sach- und Rechtslage gekommen wäre. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Der Senat konnte nicht selbst entscheiden, weil noch Ermittlungen und Feststellungen tatsächlicher Art erforderlich sind, die das Revisionsgericht nicht selbst vornehmen kann (§§ 163, 170 Abs. 2 SGG). Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Soweit die Schizophrenie in Frage kommt, konnte fraglich sein, ob überhaupt eine entsprechende Rüge in der Revisionsbegründung enthalten ist. Auf ausdrückliches Befragen in der mündlichen Verhandlung hat der Prozeßbevollmächtigte des Klägers erklärt, daß die Rüge der Verletzung der §§ 103, 128 Abs. 2 SGG sich auch auf die Schizophrenie beziehen solle. Der Senat konnte jedoch die Voraussetzungen des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG hierfür nicht als erfüllt ansehen. Denn die Revisionsbegründung führt nicht die Tatsachen und Beweismittel auf, die den Verfahrensmangel ergeben, d. h. sie gibt weder an, inwieweit das Urteil gegen Erfahrungssätze der herrschenden medizinischen Lehrmeinung verstoßen soll, noch was das LSG. an Beweisen hätte erheben sollen (vgl. SozR. SGG § 164 Da 7 Nr. 24). Das LSG. folgt hinsichtlich der Schizophrenie der in der medizinischen Wissenschaft herrschenden und von der sozialgerichtlichen Rechtsprechung übernommenen Lehrmeinung, wonach die Schizophrenie in der Regel als anlagebedingtes Leiden anzusehen ist. Gegen diese Feststellung ist ein wirksamer Revisionsangriff nicht erhoben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324779

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