Leitsatz (redaktionell)
Der Begriff der Internierung des BVG § 1 Abs 2 Buchstabe c ist erfüllt, wenn der Festgehaltene sich an dem Ort der Festhaltung zwar frei bewegen kann, aber diesen Ort nicht ohne Erlaubnis und nach eigenem Gutdünken verlassen darf.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. c Fassung: 1950-12-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 26. Juli 1956 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin und ihr Ehemann, W D. geboren 1883, wohnten bis 1945 in L in Ostpreußen. Während die Klägerin im Januar 1945 vor dem Einmarsch der Russen nach Westen flüchtete, geriet ihr Ehemann als Angehöriger des Volkssturms in russische Kriegsgefangenschaft; in der Folgezeit kam er in verschiedene Lager. Am 26. September 1946 schrieb er der Klägerin, er befinde sich in K und versehe sein Handwerk. Nachdem er der Klägerin am 5. April 1947 nochmals geschrieben hatte, blieb er verschollen. Das Amtsgericht Kiel erklärte W D. durch Beschluß vom 11. Dezember 1952 für tot und setzte den Zeitpunkt des Todes auf den 31. Dezember 1947 fest.
Im September 1950 beantragte die Klägerin die Gewährung von Witwenrente. Sie trug vor, ein Bekannter aus L, R S. und ihr Bruder, W G. hätten ihren Ehemann noch im Jahre 1946 in der Kriegsgefangenschaft getroffen, ihr Ehemann habe damals an Hungertyphus gelitten und sich bei dem Sturz von einer Pritsche den Rücken verletzt; im März oder April 1946 sei er nach K abtransportiert worden; wahrscheinlich sei er an den Folgen der damaligen Zustände gestorben. Das Versorgungsamt K lehnte den Antrag durch Bescheid vom 27. August 1952 ab. Den Einspruch wies der Beschwerdeausschuß am 20. Mai 1953 zurück. Die Klägerin legte Berufung bei dem Oberversicherungsamt S ein; die Berufung ging am 1. Januar 1954 als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Schleswig über. Die Klägerin führte noch aus, ihr Ehemann habe in K in einem Lager als Tischler gearbeitet und K nicht verlassen dürfen; dies ergebe sich aus einer Mitteilung des H S. aus L; S. habe ihren Ehemann in K auf dem Schwarzen Markt getroffen. Durch Urteil vom 12. November 1954 wies das SG. die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG.) Schleswig wies die Berufung durch Urteil vom 26. Juli 1956 zurück: Nach den Angaben des G. und des S. sei davon auszugehen, daß W D. zwar als Volkssturmmann in russische Kriegsgefangenschaft geraten, aber im Sommer 1946 bereits wieder aus dieser entlassen gewesen sei; er sei somit wahrscheinlich nicht als Kriegsgefangener verschollen; er sei aber auch nicht im Sinne von § 1 Abs. 2 Buchst. c des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) interniert gewesen; eine Internierung erfordere begrifflich eine scharfe Freiheitsbeschränkung; W D. habe zwar in einem Lager gelebt, habe sich jedoch im gesamten Stadtgebiet K, vielleicht sogar in ganz Ostpreußen, frei bewegen und sogar den Schwarzen Markt aufsuchen können. Er sei auch nicht einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG ausgesetzt gewesen; dieser Begriff sei eng auszulegen; zwar liege nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG.) das unterscheidende Merkmal zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Gefahr im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht in der Person des Gefährdeten, sondern in der Gefahrenquelle; die besondere Gefahr, die hiernach im Jahre 1945 für die Bewohner K durch die Vernichtung der Lebensmittelvorräte und durch die Drosselung der Lebensmittelzufuhr eingetreten sei, habe aber im zweiten Halbjahr 1947 nicht mehr bestanden; sie sei schon früher beendet gewesen, jedenfalls sei eine solche besondere Gefahr für den Tod des W D. nicht ursächlich gewesen, zumal er damals bereits über 65 Jahre alt gewesen sei. Die Revision ließ das LSG. zu.
Das Urteil wurde der Klägerin am 31. Dezember 1956 zugestellt. Am 18. Januar 1957 legte sie Revision ein und beantragte,
das Urteil des LSG. Schleswig vom 26. Juli 1956, das Urteil des SG. Schleswig vom 12. November 1954, die Entscheidung des Beschwerdeausschusses vom 20. Mai 1953 und den Bescheid des Versorgungsamts K vom 27. August 1952 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ab 1. Oktober 1950 Witwenrente an die Klägerin zu zahlen.
Am 14. März 1957 - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 28. März 1957 - begründete sie die Revision: Das LSG. habe die §§ 103, 106, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 5 Abs. 1 Buchst. d und Buchst. e BVG verletzt; es treffe nicht zu, daß ihr Ehemann sich "im ganzen Stadtgebiet K, vielleicht sogar Ostpreußens, frei bewegen konnte"; das LSG. habe hierzu H Sch. als Zeugen vernehmen müssen; es stehe keineswegs fest, daß ihr Ehemann aus der Kriegsgefangenschaft entlassen gewesen sei; dagegen spreche, daß er in einem Lager habe leben müssen, und es spreche nicht dafür, daß er den Schwarzen Markt habe aufsuchen können; er habe auch nicht, wie das LSG. meine, "Arbeitslohn" erhalten; jedenfalls habe er Königsberg nicht in Richtung Westen verlassen dürfen; er habe sich den dortigen schlechten Lebensbedingungen nicht entziehen können; er sei damit bis zu seinem Tode der besonderen Gefahr der Hungersnot und deshalb auch einer Folge der militärischen Besetzung K ausgesetzt gewesen; das LSG. habe zwar angenommen, daß diese Gefahr im zweiten Halbjahr 1947 nicht mehr bestanden habe, es habe aber nicht gesagt, wann die Gefahr beendet gewesen sei. Das LSG. habe insoweit den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt; es sei nach den Umständen gehalten gewesen, H Sch. über die damaligen Verhältnisse in K als Zeugen zu vernehmen; eine eindeutige Feststellung der Todesursache sei zwar nicht mehr möglich, es sei aber wahrscheinlich, daß ihr Ehemann infolge der kriegsbedingten Verhältnisse und nicht infolge seines Alters gestorben sei.
Der Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft; die Klägerin hat sie frist- und formgerecht eingelegt und begründet, die Revision ist daher zulässig. Sie ist auch begründet.
Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält auf Antrag Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat; einer Schädigung in diesem Sinne stehen Schädigungen gleich, die durch eine Kriegsgefangenschaft (§ 1 Abs. 2 BVG Buchst. b) oder durch eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit (§ 1 Abs. 2 BVG Buchst. c) herbeigeführt worden sind. Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten die Hinterbliebenen nach § 38 BVG Hinterbliebenenversorgung.
Das LSG. hat festgestellt, W D. sei Anfang 1945 als Volkssturmmann in russische Kriegsgefangenschaft geraten, er sei im Zeitpunkt seines Todes jedoch wieder aus der Kriegsgefangenschaft entlassen gewesen. In bezug auf diese Feststellung rügt die Klägerin jedoch mit Recht wesentliche Mängel des Verfahrens, diese Feststellung ist deshalb für das BSG. nicht bindend (§ 163 SGG). Das LSG. hat die Feststellung, W D. sei aus der Kriegsgefangenschaft entlassen gewesen, auf die Briefe, die R S. am 22. Juni 1950 und W G. am 25. Juni 1953 an die Klägerin gerichtet haben, gestützt sowie darauf, daß W D. an die Klägerin geschrieben habe, er versehe in K sein Handwerk; es hat ferner darauf abgehoben, daß H S. an die Tochter der Klägerin am 4. August 1948 geschrieben habe, er habe W D. im Sommer 1947 in K auf dem Schwarzen Markt getroffen und von ihm erfahren, daß er in einem Lager lebe und dort als Tischler in der Lagertischlerei arbeite. Hieraus hat das LSG. aber nicht folgern dürfen, daß W D. aus der Kriegsgefangenschaft entlassen gewesen ist. Ein Handwerk hat W D. auch in der Kriegsgefangenschaft ausüben können, zumal er, was unstreitig ist, in einer Lagertischlerei gearbeitet hat. Auch daß W D. den Schwarzen Markt aufgesucht hat, spricht nicht notwendig dafür, daß die Kriegsgefangenschaft beendet gewesen ist, zumal nicht bekannt ist, ob er dies erlaubt oder unerlaubt getan hat. Aus den Äußerungen des G. und des S. ist jedenfalls ersichtlich, daß W D. noch als Kriegsgefangener und zeitweise krank von Lager zu Lager transportiert worden ist; auch dies besagt nicht, daß er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist. Für das LSG. hat es naheliegen müssen, anzunehmen, daß G. S. und Sch. denen die damaligen Verhältnisse aus eigenem Erleben bekannt sind, auch weitere Angaben darüber machen können, ob und wann Wilhelm D. aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden ist; es hat deshalb diese Personen als Zeugen hören müssen; bisher hat sich nur S. einmal gegenüber dem Gemeinderat K in einer Erklärung ohne Datum geäußert; weitere Erklärungen gegenüber amtlichen Stellen liegen nicht vor, Vorhalte und Fragen solcher Stellen sind deshalb bisher auch nicht möglich gewesen. Daß schriftliche Auskünfte bei der Urteilsfindung nicht ohne weiteres anstelle einer mündlichen Zeugenaussage verwertet werden dürfen, hat das BSG. schon ausdrücklich ausgesprochen (BSG., Urteil vom 25.10.1956, SozR. Nr. 9 zu § 128 SGG). Die Beweisaufnahme des LSG. ist deshalb unvollständig gewesen; das LSG. hat die Grenzen seines Rechts, die Beweise frei zu würdigen (§ 128 SGG), überschritten und seine Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 103 SGG), verletzt.
Auch wenn W D. wie das LSG. angenommen hat, während seines Aufenthalts in Königsberg bereits aus der Kriegsgefangenschaft entlassen gewesen ist, so ist weiter zu prüfen gewesen, ob er nach der Entlassung noch interniert gewesen ist (§ 1 Abs. 2 BVG Buchst. c); auch zur Beurteilung dieser Frage reichen die Feststellungen des LSG. nicht aus. Internierung ist Freiheitsverlust durch Auferlegung von Gewahrsam einer fremden Macht; Freiheit in diesem Sinne ist der Inbegriff aller jener Rechte, kraft deren ihr Träger seinen Aufenthalt, seine Lebensweise, seine Bewegungen und alle seine sonstigen Lebensgewohnheiten und -äußerungen ausschließlich nach seinem eigenen Willen bestimmen kann; jede nur einigermaßen einschneidende Beschränkung dieser persönlichen Freiheit bedeutet schlechthin Verneinung und Aufhebung der Freiheit und ist mit ihr unvereinbar (Urteil des BVerwG. vom 27.10.1955, NJW. 1956 S. 642). Der Begriff der Internierung ist hiernach auch erfüllt, wenn der Festgehaltene sich an dem Ort der Festhaltung frei bewegen kann, aber diesen Ort nicht ohne Erlaubnis nach eigenem Gutdünken verlassen darf (Urteil des BSG. vom 15.12.1959, 11 RV 296/58). Um eine Internierung kann es sich also auch dann handeln, wenn W D. wie das LSG. festgestellt hat, das Lager verlassen und den Schwarzen Markt hat aufsuchen können; dies kann auch dann der Fall sein, wenn er für die Tischlerarbeiten, die er unstreitig ausgeführt hat, eine Entlohnung erhalten hat und deshalb seinen Lebensunterhalt besser hat bestreiten können als andere Internierte. Entscheidend ist allein, ob und in welchem Ausmaß der Ehemann der Klägerin in seiner Freiheit beschränkt gewesen ist. Die Feststellung des LSG., der Ehemann der Klägerin habe sich "im gesamten Stadtgebiet Königsbergs, vielleicht sogar Ostpreußens, frei bewegen" können, entbehrt der Grundlage. Es ist nicht ersichtlich, wie das LSG. zu dieser Feststellung gekommen ist, die schriftliche Äußerung des H Sch. hat dazu jedenfalls nicht ausgereicht. Auch insoweit rügt die Klägerin zu Recht, das LSG. habe die §§ 103 und 128 SGG verletzt, weil es G. S. und Sch. nicht als Zeugen über die Verhältnisse, die in K bestanden haben, gehört hat.
Das LSG. hat schließlich, auch wenn sich W D. weder in der Kriegsgefangenschaft noch in Internierung befunden hat, prüfen müssen, ob er nicht einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne von § 5 Abs. 1 Buchst. d oder Buchst. e BVG ausgesetzt gewesen ist. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebietes oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind. Nach § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG gelten als unmittelbare Kriegseinwirkungen nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben. Mit der Frage, wie weit die Bevölkerung in K im Jahre 1945 den mit der militärischen Besetzung zusammenhängenden "besonderen" Gefahren (§ 5 Abs. 1 Buchst. d BVG) und den nachträglichen Auswirkungen kriegerischer Vorgänge und somit "einem kriegseigentümlichen Gefahrenbereich" (§ 5 Abs. 1 Buchst. e BVG) ausgesetzt gewesen ist, hat sich das BSG. in dem Urteil BSG. 2 S. 99 ff. (102 - 106) eingehend befaßt; hier ist auch dargelegt, welche Möglichkeiten allgemein - außer der Vernehmung von Zeugen - bestehen, um den Sachverhalt insoweit aufzuklären; der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Was dort gesagt ist, gilt nicht nur für das Jahr 1945, sondern möglicherweise auch noch für die Zeit, in der W D. noch in Königsberg gelebt hat; es kann nicht allgemein gesagt werden - wie das LSG. dies getan hat -, daß "die zeitliche Grenze der Wirksamkeit" unmittelbarer Kriegseinwirkungen jedenfalls "früher" liege als in der zweiten Hälfte des Jahres 1947; für diese Feststellung hat das LSG. keine ausreichenden Unterlagen gehabt; auch insoweit bedarf es weiterer Aufklärung. Die Feststellungen des LSG. sind auch insoweit nicht in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise zustande gekommen; das Urteil des LSG., das sich darauf stützt, beruht deshalb möglicherweise auf unrichtiger Anwendung der §§ 1 und 5 BVG; es ist möglich, daß das LSG., wenn ein versorgungsrechtlich geschützter Tatbestand festzustellen ist, zu dem Ergebnis kommt, der Tod des Ehemannes der Klägerin stehe hiermit im ursächlichen Zusammenhang und sei nicht - wie das LSG. bisher anzunehmen geneigt gewesen ist - im wesentlichen auf sein Alter zurückzuführen. Das Urteil des LSG. ist daher aufzuheben, die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen