Entscheidungsstichwort (Thema)
Hilflosigkeit
Leitsatz (redaktionell)
Zum Begriff der Hilflosigkeit:
Keine Hilflosigkeit liegt bei einem Beschädigten vor, der den linken Oberarm und das linke Auge verloren hat, dessen linkes Schulterblatt zertrümmert ist und der ferner Stecksplitter im Schädel und zwei unbedeutende Narben auf der linken Brustkorbvorderseite hat.
Bei ihm kann es sich nur um eine Hilfe für einzelne Verrichtungen handeln.
Normenkette
BVG § 35 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 30. März 1962 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht wegen Verlustes des linken Oberarms und Zertrümmerung des (linken) Schulterblattes, Verlusts des linken Auges und Stecksplitter im Schädel, sowie zwei unbedeutender Narben auf der linken Brustkorbvorderseite Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vom Hundert (v. H.). Am 7./8. Dezember 1956 beantragte er Pflegezulage. Nach versorgungsärztlicher Stellungnahme lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) den Antrag mit Bescheid vom 30. Januar 1958 ab, weil die Voraussetzungen einer Pflegezulage nach § 31 des Reichsversorgungsgesetzes (RVG) nicht erfüllt seien. Das Sozialgericht (SG), auf das die Berufung alten Rechts als Klage übergegangen war, holte von Prof. Dr. G ein orthopädisch-fachärztliches Gutachten darüber ein, ob eine Pflegezulage, insbesondere unter Berücksichtigung der geltend gemachten Geschwürsbildung in der rechten Achselhöhle und des Neuroms am linken Oberarmstumpf gerechtfertigt sei; außerdem hörte es Dr. G. Der Kläger überreichte eine Bescheinigung des Augenarztes Dr. K. Mit Urteil vom 11. März 1960 änderte das SG den Bescheid vom 30. Januar 1958 dahin ab, daß dem Kläger ab 1. Dezember 1956 die Pflegezulage Stufe I zu gewähren ist. Der Kläger könne sich nicht allein anziehen, kein Fleisch schneiden und die rechte Achselhöhle nicht waschen. Er sei schlechter gestellt als ein Oberarmamputierter. Das Schulterblatt sei zertrümmert und er habe das linke Auge verloren. In der rechten Achselhöhle verliefen mehrere abgeheilte, aber stark gerötete Furunkelnarben, die durch den Haltegurt der linken Armprothese von Zeit zu Zeit hervorgerufen würden. Die 7,5 cm große Stumpfnarbe am linken Arm sei äußerst empfindlich geworden. Außerdem habe das Tragen der Prothese zur schmerzhaften Knotenbildung der rechten Achselhöhle im Sinne von Köcherrandknoten geführt. Der Kläger sei auch nachtblind. Bei Prüfung aller Umstände sei nach der Überzeugung des Gerichts dem Kläger entsprechend dem Vorschlag des Dr. G die Pflegezulage zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 30. März 1962 die Klage ab und ließ die Revision zu. Die Berufung sei zulässig, denn es habe sich um die erstmalige Feststellung über die Bewilligung der Pflegezulage gehandelt. Da der angefochtene Bescheid vor dem Inkrafttreten des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) im Saarland am 1. Juni 1960 erlassen wurde, sei nach dem RVG zu entscheiden gewesen. Ein am linken Oberarm Amputierter sei nicht ohne weiteres hilflos. Wohl könne er sich die rechte Achselhöhle nicht waschen, auch könne er kein Fleisch schneiden. Er sei aber nicht so hilflos, daß er für die gewöhnlichen Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe bedürfe. Dies sei auch bei dem Kläger nicht der Fall. Insbesondere bedeute nach Auffassung des Senats die Zertrümmerung des linken Schulterblattes und die von Prof. Dr. G angenommene, nicht sehr erhebliche Bewegungsbehinderung im linken Schultergelenk kein erschwerendes Moment im Sinne des § 31 RVG. Auch die in den Gründen des SG angeführten Furunkelnarben, die Empfindlichkeit der Stumpfnarben und die Köcherrandknoten könnten nicht als die Hilflosigkeit auslösende Momente angesehen werden. Nach der Bescheinigung des Augenarztes Dr. K sei zwar die Anpassungsfähigkeit des rechten Auges an die Dunkelheit um 2/3 des Normalwertes herabgesetzt, so daß der Kläger in der Dunkelheit erheblich beeinträchtigt sei. Die Schädigungsfolgen bedingten jedoch auch zusammen mit der nichtschädigungsbedingten Nachtblindheit keine Hilflosigkeit im Sinne des § 31 RVG, sondern lediglich Hilflosigkeit bei einzelnen Verrichtungen. Der Kläger sei einem Doppelamputierten nicht gleichzustellen.
Die Revision des Klägers rügt Verletzung des § 31 RVG. Das LSG habe die wichtigsten Tätigkeiten nicht aufgezeigt, die ein Beschädigter, der links am Oberarm amputiert sei, nicht verrichten könne. Die zweite Hand sei auch beim Anziehen (Knoten von Schnürriemen und Krawatte), Rasieren, der Pflege der Hände (Abtrocknen zwischen den Fingern, Säubern und Schneiden der Nägel), dem Brotschneiden, Obst- oder Kartoffelschälen und dergleichen erforderlich. Bei dem Kläger kämen der kriegsbedingte Verlust des linken Auges, die Zertrümmerung des Schulterblattes, die Narben auf der linken Brustkorbseite und die Stecksplitter im Kopf hinzu. Er sei darum nicht besser daran als ein Doppelamputierter. Der wehrdienstbedingte Verlust der Sehfähigkeit links und der nicht wehrdienstbedingte Verlust rechts seien gleich wesentliche Mitursachen der Hilflosigkeit. Prof. Dr. G und Dr. G seien unter Würdigung des Gesamtleidenszustandes - einschließlich der schädigungsbedingten ständigen Kopfschmerzen, der durch die Prothesenbefestigung hervorgerufenen Geschwüre in der Achselhöhle und des damit verbundenen Reizzustandes - zu der Beurteilung gelangt, es sei menschlich und ärztlich zu begrüßen, wenn dem Kläger die Pflegezulage gewährt würde. Über diese einheitliche Beurteilung der medizinischen Frage hätte das Gericht nicht hinweggehen dürfen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG für das Saarland vom 30. März 1962 das Urteil des SG vom 11. März 1960 wieder herzustellen und dem Kläger die Pflegezulage ab 1. Februar 1956 zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und daher zulässig. Sachlich ist sie nicht begründet.
Das LSG hat zutreffend die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil des SG vom 11. März 1960 nach den Vorschriften des SGG beurteilt. Dieses Gesetz ist nach § 7 des Gesetzes Nr. 629 zur Einführung der Sozialgerichtsbarkeit im Saarland vom 18. Juni 1958 (ABl. des Saarlandes S. 1224) am 1. Januar 1959 im Saarland in Kraft getreten. Das LSG hat die Zulässigkeit der Berufung auch mit Recht bejaht, weil ein Ausschließungsgrund nicht gegeben ist. Das Urteil des SG betraf die erstmalige Entscheidung über die Bewilligung der Pflegezulage. Die Berufung war daher nicht nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen (BSG 8, 97; BSG in SozR SGG § 148 Nr. 17).
Bei seiner Sachentscheidung hat das LSG § 31 RVG angewandt. Diese Vorschrift ist, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden hat, eine revisible Rechtsnorm im Sinne des § 162 Abs. 2 SGG (Urteil des 10. Senats vom 19. Februar 1964, 10 RV 1223/61, auszugsweise veröffentlicht in BSG 20, 205).
Das LSG hätte, da der Kläger nicht nur Aufhebungsklage erhoben hatte und somit das zZ der letzten mündlichen Verhandlung geltende Recht zu berücksichtigen war (BSG 8, 108, 111), für die Zeit ab 1. Juni 1960 § 35 BVG nF anwenden müssen (vgl. Art. I § 1 des Gesetzes zur Einführung des BVG im Saarland vom 16. August 1961 - BGBl I, 1292 -). Dadurch, daß es den Anspruch auf die Pflegezulage nur nach § 31 RVG geprüft hat, ist die Entscheidung jedoch im Ergebnis nicht beeinflußt worden. Nach § 31 RVG wird eine Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Dienstbeschädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Diese Vorschrift entspricht fast wörtlich dem § 35 BVG in der bis zum Inkrafttreten des 1. Neuordnungsgesetzes (NOG) geltenden Fassung (aF). Nach § 35 BVG in der auch im Saargebiet ab 1. Juni 1960 geltenden neuen Fassung muß der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos sein, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Die Vorschrift unterscheidet sich somit im Wortlaut vom § 35 BVG aF und dem gleichlautenden § 31 RVG. Die neue Fassung hat jedoch zu keiner Änderung der Voraussetzungen für die Bewilligung der Pflegezulage geführt (vgl. BSG 29. Mai 1962 - 10 RV 1235/58 - Breith. 1962, 1088; BSG vom 24. April 1963 - 11 RV 800/62 - BVBl 1963, 95/96). In diesem Sinne ist der Begriff der Hilflosigkeit vielmehr schon während der Geltung des § 35 BVG aF, und zwar im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts zu § 31 RVG (RVG 2, 188; 6, 43; 7, 218) ausgelegt worden (BSG 8, 99; 12, 22). Hiernach muß die fremde Hilfe für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfange dauernd erforderlich sein. Das LSG hat § 31 RVG - und demgemäß auch § 35 BVG nF - nicht verletzt, wenn es vorliegend diese Voraussetzung für die Hilflosigkeit nicht als erfüllt angesehen hat. Der Kläger erhält wegen der schweren Verletzungsfolgen Rente nach einer MdE um 100 v. H. und gilt somit als erwerbsunfähig. Die Pflegezulage ist jedoch nicht von dem Grad der MdE abhängig (BSG 8, 99), es kommt allein darauf an, ob der Beschädigte hilflos im Sinne des Gesetzes ist. Das LSG hat nicht verkannt, daß der Kläger außerordentlich schwere Verwundungen erlitten hat und bei einer Reihe von Verrichtungen, besonders wegen des Verlustes des linken Oberarms in der Mitte, auf fremde Hilfe angewiesen ist. Es hat insoweit das Gutachten des Prof. Dr. G berücksichtigt. Wenn es, um darzutun, daß ein Oberarmamputierter nicht ohne weiteres hilflos ist, darauf hingewiesen hat, daß er bei Verlust des linken Armes sich nicht die rechte Achselhöhle waschen und auch kein Fleisch schneiden kann, so hat es zwar die Verrichtungen, zu denen fremde Hilfe erforderlich ist, nicht erschöpfend aufgeführt, es hat aber damit nur Beispiele dafür geben wollen, daß der Kläger zwar bei einer Anzahl von Verrichtungen fremde Hilfe nicht entbehren kann, daß der Umfang dieser Hilfe aber nicht so erheblich ist, daß die Hilfsbedürftigkeit den für die Hilflosigkeit erforderlichen Grad erreicht. In diesem Zusammenhang ist das LSG ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß auch die Zertrümmerung des linken Schulterblattes und die nach dem Gutachten des Prof. Dr. G nicht sehr erhebliche Bewegungsbehinderung im linken Schultergelenk kein erschwerendes Moment im Sinne des § 31 RVG darstellt. Auch den durch die Furunkelnarben, die Empfindlichkeit der Stumpfnarben und die Köcherrandknoten hervorgerufenen vorübergehenden, teilweise auch wohl dauernden Behinderungen hat das LSG mit Recht keine für die Begründung der Hilflosigkeit ausreichende Bedeutung beigemessen. Prof. Dr, G hatte hierzu 1959 festgestellt, daß am Stumpf angeblich Neurombildung, jedenfalls eine starke Empfindlichkeit bestehe, außerdem hatte er in der rechten Achselhöhle einige Narben und zwei gerötete Stellen von sogenannten Köcherrandknoten gefunden, die durch das ständige Tragen der Prothese entstanden seien; durch die Scheuerstellen in der rechten Achselhöhle sei der Kläger mehr behindert (als ein Oberarmamputierter); der Verlust des linken Auges stelle eine weitere starke Behinderung dar, auch brauche er bei Dunkelheit fremde Hilfe. Daß die Anpassungsfähigkeit des verbliebenen Auges an die Dunkelheit gut um 2/3 des Normalwertes herabgesetzt ist, so daß der Kläger in der Dunkelheit erheblich behindert ist, hat Dr. K bescheinigt; das LSG hat dies berücksichtigt. Im Endergebnis ist Prof. Dr. G jedoch dazu gelangt, daß dem Kläger eine Pflegezulage nicht zustehe, weil er nicht dauernd den ganzen Tag über für die einfachen Verrichtungen des täglichen Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sei. Trotzdem würde er es ärztlich und menschlich begrüßen, wenn man dem Kläger die Pflegezulage gewähren würde. Damit hat der Sachverständige unter Berücksichtigung aller bei dem Kläger erforderlichen Beistandsleistungen die gesetzliche Voraussetzung der Hilflosigkeit, soweit sie von der medizinischen Beurteilung abhängig ist, eindeutig verneint. Er hat berücksichtigt, daß der Kläger durch den Verlust des linken Armes und des linken Auges, durch die Scheuerstellen in der rechten Achselhöhle und durch seine Nachtblindheit in gewissem Umfange auf fremde Hilfe angewiesen sei, daß es sich hierbei insgesamt aber nur um die Hilfe für einzelne Verrichtungen handele, die die Feststellung, daß er in erheblichem Umfange dauernd fremder Hilfe bedürfe, nicht rechtfertigen könne. Das LSG ist somit, soweit das Gutachten des Prof. Dr. G in Betracht kommt, nicht über die medizinischen Feststellungen des Sachverständigen hinweggegangen, wie die Revision meint; es ist ihnen im Gegenteil gefolgt. Im übrigen hat das LSG auch nicht verkannt, daß die Tatfrage, ob Hilflosigkeit im Sinne des § 31 RVG (§ 35 BVG) besteht, nicht allein auf Grund ärztlicher Schlußfolgerungen beantwortet werden kann, sondern daß diese Frage auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des einzelnen Falles zu entscheiden ist (BSG in SozR BVG § 35 Nr. 7). Es ist somit nicht ersichtlich, daß das LSG von einer unrichtigen Auffassung über den Rechtsbegriff der Hilflosigkeit ausgegangen wäre oder bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm das Gesetz verletzt hätte. Zu einer anderen Feststellung mußte das LSG um so weniger gelangen, als auch das versorgungsärztliche Gutachten 1957 die Voraussetzungen der Hilflosigkeit verneint hatte. Dr. G war zwar bei seinem Vorschlag, die Pflegezulage zu gewähren, auch noch verblieben, nachdem Dr. G sein Gutachten erstattet hatte. Er hat aber keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht, die eine Hilflosigkeit ausreichend begründen könnten. Insbesondere ist sein Hinweis, daß die Geschwüre in der rechten Achselhöhle einen häufigen Verbandswechsel nötig machen und daß auch die versorgungsärztliche Untersuchung eine gewisse Verschlimmerung ergeben habe, nicht geeignet, in Verbindung mit den anderen notwendigen Hilfeleistungen die Hilflosigkeit zu begründen. Im übrigen ist auch nicht ersichtlich, daß - bei einseitigem völligen Augenverlust - die Nachtblindheit für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen von erheblicher Bedeutung sei.
Nach alledem erweist sich die Revision im Ergebnis als unbegründet. Sie war daher nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen