Orientierungssatz
Rechtsverbindlichkeit eines Bescheides nach § 85 BVG - Selbstmord - Nichtanhörung einer Zeugin - Statthaftigkeit der Revision:
1. Die Bindungswirkung eines Bescheides nach § 85 BVG betrifft nur den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem schädigenden Vorgang und der Schädigung.
2. Wird behauptet und durch Angabe von Zeugen unter Beweis gestellt, daß die Belastungen des Wehrdienstes den Geschädigten zum Selbstmord veranlaßten, so liegt in der Nichtanhörung dieser Zeugin, deren Vernehmung zudem im Berufungsverfahren beantragt worden war, ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Revision statthaft macht.
Normenkette
BVG § 85; SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 03.08.1962) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. August 1962 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin (W.) verwaltete als Sanitätsunteroffizier die Lazarettapotheke einer Heeres-Sanitätsstaffel, zugleich war er Bekleidungsunteroffizier und Kantinenwart. Am 11. August 1942 verstarb er an einer Morphiumvergiftung. 1960 beantragte die Klägerin Witwenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Sie gab an, schon im September 1942 einen Antrag gestellt zu haben, der abgelehnt worden sei. Ungefähr ein Jahr vor seinem Tode habe sich das Wesen und Aussehen des W. erschreckend verändert, er habe über Arbeitslast und Hetze geklagt, trotz ihrer Mahnungen habe er mehr und mehr Tabletten zu sich genommen. Am 11. August 1942 habe er in der Apotheke eine Überdosis Morphium eingenommen, woran er verstorben sei. Der wesentlichste Inhalt seines Abschiedsbriefes habe die Kantinenabrechnung und das Motiv für den Selbstmord betroffen; als Motiv habe er angegeben, das Unrecht, das er seiner Frau angetan hatte, habe ihn veranlaßt, aus dem Leben zu gehen. Die Ablehnung der damaligen Versorgungsbehörde habe sich auf diesen "Brief - Ehestreitigkeiten" gestützt. Sie habe keine Kraft mehr gehabt, die ergangene Entscheidung anzufechten. Die Akten des ehem. Versorgungsamts Schwerin waren nicht auffindbar. Der neue Antrag wurde 1960 unter Hinweis auf die nach § 85 BVG bestehende Bindung abgelehnt. Der Widerspruch, in dem sich die Klägerin darauf berief, sie sei an der Anmeldung i. S. des § 57 Abs. 3 BVG verhindert gewesen, blieb erfolglos. Es fehle auch an den Voraussetzungen für die Erteilung eines Zugunstenbescheides. Die Klage wurde abgewiesen. Im Berufungsverfahren bat die Klägerin um Vernehmung von Zeugen über die Tätigkeit des W. sowie seine körperliche und geistige Überforderung im Wehrdienst. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung mit Urteil vom 3. August 1962 zurück. Über den ursächlichen Zusammenhang des Todes des W. sei nach dem Vortrag der Klägerin bereits nach früheren versorgungsrechtlichen Bestimmungen rechtskräftig entschieden; diese Entscheidung sei nach § 85 BVG rechtsverbindlich, weshalb dem Gericht eine erneute Prüfung versagt sei. Zutreffend seien auch die Voraussetzungen zur Erteilung eines Zugunstenbescheides nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) verneint worden. Ein Ermessensfehlgebrauch sei nicht festzustellen. Wenn 1942, als noch eine eingehende Aufklärung des Sachverhalts möglich gewesen sei, der Selbstmord auf Ehezwistigkeiten infolge der Morphiumsucht des W. zurückgeführt worden sei, so könne nach den vorhandenen Unterlagen auch jetzt nicht angenommen werden, daß die freiwillige Willensbestimmung des W. durch wehrdienstliche Schädigungen im Sinne des § 1 BVG beeinträchtigt gewesen sei. Dagegen spräche schon der Abschiedsbrief; W. habe diesem eine Kantinenabrechnung beigefügt, offenbar um einem falschen Verdacht wegen einer unredlichen Kantinenverwaltung vorzubeugen. Daraus ergebe sich besonders deutlich, daß W. bei klarem Bewußtsein aus freiem Willen und vorsätzlich seinem Leben ein Ende gemacht habe. Einer weiteren Beweiserhebung bedürfe es nicht.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Klägerin als Verfahrensmangel, das LSG hätte klären müssen, aus welchen Gründen 1942 der Hinterbliebenenantrag abgelehnt worden sei, da eine Bindung nach § 85 BVG nur hinsichtlich der Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigungstatbestand und Gesundheitsschaden bestehe. Es hätte deshalb die benannten oder weitere Zeugen hierzu vernehmen oder eine Auskunft der Deutschen Dienststelle Berlin oder des Bundesarchivs in Cornelimünster einholen müssen. Dann hätte sich ergeben, daß nur der Zusammenhang des Todes mit dem Militärdienst im damaligen Sinne abgelehnt worden sei. Es sei 1942 nur eine Entscheidung über den ursächlichen Zusammenhang zwischen Wehrdienst und schädigendem Ereignis ergangen. Das LSG hätte ferner dem Antrag auf Zeugenvernehmung, insbesondere der B A, über die Tätigkeit und die Belastungen des W. durch den Wehrdienst entsprechen müssen. Dann hätte sich ergeben, daß die gleichzeitige Beauftragung mit der Leitung der Kantine, der Verwaltung der Wäschekammer und der Verwaltung der Lazarettapotheke sowie die Vorenthaltung des Jahresurlaubs zur Einnahme der Morphiumüberdosis geführt hätten, die den Tod bewirkte. Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da die Klägerin einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Rüge der Klägerin, ihrem Antrag auf Vernehmung von Zeugen, insbesondere der Zeugin A, über die Tätigkeit sowie die körperlichen und geistigen Anforderungen, die im Wehrdienst an W. gestellt wurden, hätte vom LSG entsprochen werden müssen, greift insoweit durch, als das LSG im Rahmen der Ablehnung eines Zugunstenbescheides die Zusammenhangsfrage erneut überprüft hat.
Bei der Frage, ob das Verfahren des LSG an einem wesentlichen Mangel leidet, ist von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt auszugehen (BSG 2, 87). Das LSG hat sich wegen der von ihm angenommenen Bindungswirkung nach § 85 BVG an einer vollen Nachprüfung des Anspruchs gehindert gesehen und sich bei der Erörterung des abgelehnten Zugunstenbescheides nur zu einer Prüfung des vom Beklagten ausgeübten Verwaltungsermessens für verpflichtet gehalten. Aber auch von diesem seinem Rechtsstandpunkt aus hätte das LSG unter den besonderen Umständen des Falles eine weitere Beweiserhebung nicht für entbehrlich halten dürfen. Nach den Feststellungen des LSG sind die Versorgungsakten, die den angeblichen Ablehnungsbescheid von 1942 (oder später?) enthielten, nicht auffindbar; ebenso liegt der Ablehnungsbescheid selbst nicht vor. Das LSG hat seine Annahme, daß damals über den ursächlichen Zusammenhang des Todes mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG rechtskräftig entschieden worden sei, nur auf die Angaben der Klägerin stützen können. Infolgedessen ist weder zuverlässig bekannt, in welchem Umfang und in welcher Hinsicht 1942 eine Überprüfung der Zusammenhangsfrage stattgefunden hat, noch mit welcher Begründung der Versorgungsantrag abgelehnt worden ist. In einem solchen Fall reicht es aber nicht aus, darauf abzuheben, daß damals der "Sachverhalt noch eingehend aufgeklärt werden" konnte, wie dies das LSG getan hat; denn es ist nicht bekannt, ob er damals überhaupt "eingehend aufgeklärt" worden ist. Da die Versorgungsbehörde eine weitere Sachaufklärung, insbesondere die Anhörung der Zeugin A, unterlassen hat, hätte das LSG diese nachholen müssen, ehe es zur Feststellung gelangte, daß die Ablehnung des Zugunstenbescheides nicht ermessensfehlerhaft sei. Bereits im Verwaltungsverfahren ist ein Brief der Zeugin A vom 26. April 1960 vorgelegt worden, aus dem sich ergab, daß W. mit ihr zusammen im Reservelazarett tätig war und daß sie für "Erklärungen usw." jederzeit zur Verfügung stehe. Hiernach bestand begründete Aussicht, daß insbesondere diese Zeugin aus eigenem Wissen über die damaligen Umstände Näheres bekunden konnte. In der Nichtanhörung dieser Zeugin, deren Vernehmung zudem im Berufungsverfahren beantragt worden war, liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel, der die Revision statthaft macht.
Die Revision ist auch begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG nach Durchführung der unterlassenen Sachaufklärung zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Der Hinweis des LSG, daß W. im Abschiedsbrief seinen Selbstmord mit einem seiner Ehefrau zugefügten Unrecht wegen der Ruinierung seiner Gesundheit durch seine Morphiumsucht begründet hat, spricht nicht gegen die Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung, denn gerade eine solche kann möglicherweise - was Sache medizinischer Beurteilung ist - ein übertriebenes Schuldgefühl entstehen lassen. Diese Morphiumsucht kommt unter Umständen auch als Schädigungsfolge in Betracht. Die Übersendung der Kantinenabrechnung, die nach der Auffassung des LSG für eine klare Einsicht des W. spricht, schließt eine Willensbeeinträchtigung gleichfalls nicht aus. Diese Anlage des Briefes, der, wie wohl anzunehmen ist, nicht an die Heeres-Sanitätsstaffel als die für die Kantinenabrechnung zuständige Stelle, sondern an die Ehefrau gerichtet war, kann überdies ebenfalls unter Umständen auf einen militärdiensteigentümlichen Umstand hinweisen, wenn W., wie das LSG ausführt, dies getan haben sollte, "um einen falschen Verdacht" unredlicher Kantinenführung auszuräumen und sich W. eines solchen - ggf. unbegründeten-Vorwurfs unter den damals bestehenden wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen nicht erwehren konnte. Diese Fragen bedürften außerdem, wenn sie als entscheidungserheblich erachtet werden sollten, medizinisch-psychiatrischer Beurteilung.
Da das Urteil auf dem gerügten Verfahrensmangel beruht, war es aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da es, wie dargetan, noch weiterer Sachaufklärung bedarf. Daher war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung auch zu beachten haben, daß durch den früheren Bescheid von 1942 eine Bindung nicht hinsichtlich des ersten Gliedes der Kausalreihe (wehrdiensteigentümliche Verhältnisse - Morphiumsucht) eingetreten ist; die Bindung i. S. des § 85 BVG betrifft nur das zweite Glied, nämlich den ursächlichen Zusammenhang zwischen einem schädigenden Vorgang (Morphiumsucht), dadurch etwa bedingte Beeinträchtigung der freien Willensbestimmung und dem Tod (vgl. BSG in SozR BVG § 85 Nr. 10). Soweit der Anspruch der Klägerin hiernach nachzuprüfen ist, wird das LSG das gesamte wesentliche Vorbringen der Klägerin zu berücksichtigen haben, so z. B. hinsichtlich der behaupteten körperlichen und geistigen Überforderung des W. den Umstand, daß mit der Verwaltung der Apotheke kein Apotheker, sondern der noch für andere Funktionen eingesetzte Sanitätsunteroffizier W. betraut worden ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen