Leitsatz (redaktionell)
1. AVG § 65 Abs 2 (= RVO § 1288) läßt nach dem Tode des Versicherten nur die Fortsetzung eines von ihm bereits eingeleiteten Rentenverfahrens zu.
2. Erst mit der Antragstellung (RVO § 1545 Abs 1 Nr 2), die im freien Belieben der Versicherten steht, ist der Anspruch erhoben und beginnt die Vererblichkeit der aus ihm erwachsenden und bis zum Todestag fällig werdenden Leistungen. Der Erbe und ein Sonderrechtsnachfolger können nicht das Rentenverfahren für einen Verstorbenen erstmals in Gang setzen; etwas anderes gilt auch nicht für den Fall, daß es sich um ein Altersruhegeld nach AVG § 25 Abs 1 (RKG § 48 Abs 1 Nr 1) handelt.
Normenkette
AVG § 65 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1288 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1545 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1924-12-15; AVG § 25 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RKG § 48 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Juni 1962 wird aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 1. März 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin erhält von der Beklagten vom 1. Januar 1960 an die Witwenrente aus der Rentenversicherung ihres verstorbenen Ehemannes. Mit der Klage beansprucht sie als dessen Rechtsnachfolgerin das Altersruhegeld, das dem Versicherten in der Zeit von der Vollendung des 65. Lebensjahres (am 10.2.1958) bis zu seinem Tode (am 5.1.1960) hätte gewährt werden müssen, wenn er es beantragt hätte. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, weil der Versicherte den Anspruch zu seinen Lebzeiten nicht erhoben habe und die Voraussetzungen des § 65 Abs. 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) deshalb nicht gegeben seien (Bescheid vom 24.2.1961). Das Sozialgericht Hannover wies (unter Zulassung der Berufung) die Klage ab (Urteil vom 1.3.1962). Dagegen gab das Landessozialgericht Niedersachsen auf die Berufung der Klägerin der Klage statt; es hob das Urteil des Sozialgerichts und den vorausgegangenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin das Altersruhegeld für den Versicherten vom 1. Februar 1958 bis zum 31. Dezember 1959 zu zahlen: Für den Versicherten seien seit der Vollendung des 65. Lebensjahres die Voraussetzungen nach § 25 Abs. 1 und 4 AVG erfüllt gewesen; das Altersruhegeld hätte daher auf entsprechenden Antrag hin vom 1. Februar 1958 an beginnen müssen (§ 67 Abs. 1 AVG). Der Anspruch sei für den Versicherten jederzeit realisierbar gewesen; deshalb sei er auch Bestandteil seines Vermögens geworden und bei seinem Tode auf die Rechtsnachfolger übergegangen. Durch § 65 Abs. 2 AVG werde nur eine von der Erbfolgeordnung des bürgerlichen Rechts abweichende Sonderrechtsnachfolge geschaffen. Es bestehe aber kein zwingender Grund, Altersruhegeldansprüche, die zu Lebzeiten des Versicherten nicht geltend gemacht worden seien, vom Übergang auf die Bezugsberechtigten oder Erben auszuschließen. "Bei anderer Auffassung würde - so sagt das Landessozialgericht - dem ursprünglichen Berechtigten im Ergebnis die Rechtsmacht verliehen, wertvolle und oft die einzigsten Bestandteile seines Vermögens den nächsten Angehörigen dadurch zu entfremden, daß er die Stellung eines Rentenantrages unterläßt". Für eine so weitgehende Dispositionsbefugnis ergebe sich weder aus dem Wortlaut noch aus dem Sinn des Gesetzes ein Anhalt. § 1545 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (§ 204 AVG) besage nur, daß der Rentenversicherungsträger Leistungen grundsätzlich nicht von Amts wegen zu gewähren brauche. Daraus folge aber nicht, daß der Rentenanspruch erst mit seiner Anmeldung oder Erhebung zur Entstehung gelange. Der Anspruch auf das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG entstehe vielmehr mit der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen und unterliege als Bestandteil des Vermögens auch dann der Vererbung, wenn er vorher nicht geltend gemacht worden sei. Diese Auslegung entspreche auch den Regelungen auf anderen Rechtsgebieten (im Recht der Krankenversicherung, der Arbeitslosenversicherung, der Unfallversicherung u. a.). - Das Landessozialgericht ließ die Revision zu (Urteil vom 15.6.1962).
Die Beklagte legte gegen das Urteil des Landessozialgerichts Revision ein mit dem Antrag,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen.
Sie rügt u. a. die Verletzung des § 65 Abs. 2 AVG. Danach müsse der Versicherte den Anspruch erhoben haben. Auch nach neuem Recht seien die Leistungen der Rentenversicherung nur auf Antrag festzustellen. Solange es an einer solchen Mitwirkung des Versicherten fehle, brauche und könne der Versicherungsträger keinen Leistungsbescheid erlassen. Zur Antragstellung sei allein der Versicherte befugt. Seine Hinterbliebenen könnten nur im Rahmen des § 65 Abs. 2 AVG das Verfahren fortsetzen. Die Auffassung des Landessozialgerichts stehe im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts.
Die Klägerin beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Nach ihrer Meinung hat das LSG die Vorschrift des § 65 AVG weder verletzt noch unrichtig angewandt; hilfsweise regte sie eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht an.
Die Revision der Beklagten ist zulässig und begründet.
Zu der Frage, ob beim Tode des Versicherten das Recht, von dem Versicherungsträger Leistungen zu verlangen, auch dann auf die Rechtsnachfolger übergeht, wenn der Versicherte selbst die Leistungen nicht beansprucht hat, hat der Senat bereits in einer früheren Entscheidung Stellung genommen. Er hat dabei im Anschluß an das zu § 1288 Abs. 2 RVO ergangene Urteil vom 18. Oktober 1961 (BSG 15, 157) entschieden, daß eine Rechtsnachfolge nur dann stattfindet, wenn der Berechtigte den Anspruch zu seinen Lebzeiten erhoben hat (Urteil vom 29.1.1963 - 1 RA 182/60 -). Der Senat hat dies aus § 65 Abs. 2 AVG geschlossen. Diese Vorschrift gilt für alle Leistungen (einmalige und wiederkehrende Leistungen) der Angestelltenversicherung und schließt die Vererblichkeit bei anderen als den erhobenen Ansprüchen aus. Wortlaut, Sinn und Zweck der Vorschrift gebieten diese Auslegung. Die Leistungen der Rentenversicherung werden grundsätzlich nur auf Antrag gewährt; sie sind geltend gemacht - und damit im Sinne von § 65 Abs. 2 AVG "erhoben" -, wenn der Antrag auf die Leistung bei einem deutschen Versicherungsträger oder einer deutschen Behörde eingegangen ist (§ 204 AVG, §§ 1545 Abs. 1 Nr. 2, 1613 RVO). Nach dem Tode des Berechtigten gibt es keine Einleitung des Rentenverfahrens mehr, sondern nach § 65 Abs. 2 AVG nur die Fortsetzung eines vom Berechtigten bereits eingeleiteten Verfahrens hinsichtlich der bis zum Todestag fälligen Beträge. Hat der Berechtigte nicht durch ein Gesuch kundgetan, daß er eine bestimmte Leistung vom Versicherungsträger fordere, ist der Anspruch in seiner Hand verblieben; das Recht auf die Leistung ist in diesem Falle - ohne Rücksicht darauf, worauf die Unterlassung beruht - mit seinem Tode untergegangen und ein vererbliches Vermögensrecht nicht vorhanden. Es kommt nicht darauf an, ob der den Anspruch verfolgende Kläger Sonderrechtsnachfolger nach § 65 Abs. 2 AVG oder Erbe nach §§ 1922 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ist. Der Erbe kann insoweit keine günstigere Rechtsstellung beanspruchen als ein Sonderrechtsnachfolger. Beide können nicht das Rentenverfahren für einen Verstorbenen erstmals in Gang setzen. An dieser Rechtsauffassung hält der Senat nach nochmaliger Prüfung der Rechtslage auch für den vorliegenden Rechtsstreit fest. Etwas anderes gilt auch nicht für den Fall, daß es sich - wie hier - um ein Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG handelt.
Das Landessozialgericht weist zwar zur Begründung seiner gegenteiligen Auffassung auf die Rechtsänderung hin, die das seit dem 1. Januar 1957 geltende Recht für einen Teil der Rentenansprüche, darunter auch für das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG gebracht hat. Danach ist der Antrag auf diese Leistung - anders als nach dem früheren Recht (§ 41 AVG aF, § 1286 Abs. 1 RVO aF) - heute für den Rentenbeginn nicht mehr von Bedeutung; der Anspruch als solcher entsteht vielmehr, sobald die Voraussetzungen des Gesetzes (Vollendung des 65. Lebensjahres und Erfüllung der Wartezeit nach § 25 Abs. 4 AVG) gegeben sind (Umkehrschluß aus § 67 Abs. 5 AVG). Es trifft zu, daß der Versicherte unter diesen Voraussetzungen einen - wie das Landessozialgericht sagt - "jederzeit realisierbaren Anspruch" auf die Gewährung des Altersruhegeldes hatte. Um aber den - entstandenen - Anspruch zu verwirklichen, d. h. um selbst in den Genuß der laufenden Rentenleistungen zu kommen und deren Fälligkeit zu begründen, muß der Versicherte (oder in seinem Namen der gesetzliche Vertreter oder ein Beauftragter) tätig werden, indem er die Leistungen beim Versicherungsträger anfordert und damit den Anstoß für dessen Tätigwerden gibt. Der Versicherungsträger leitet das Rentenfeststellungsverfahren nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag ein; an diesem in § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO enthaltenen Erfordernis hat die Neuordnung der Rentenversicherung durch die Rentenneuregelungsgesetze nichts geändert. Der Antrag auf Einleitung des Rentenfeststellungsverfahrens muß - wie auch ein Umkehrschluß aus der Ausnahmevorschrift in § 1537 RVO zeigt - zu Lebzeiten des Versicherten gestellt werden. Erst mit dieser Antragstellung, die im freien Belieben des Versicherten steht, ist der Anspruch erhoben und beginnt die Vererblichkeit der aus ihm erwachsenden und bis zum Todestag fällig werdenden Leistungen. Die Vererblichkeit tritt dagegen nicht ein, wenn der Antrag zu Lebzeiten des Versicherten unterblieben ist.
Diese beschränkte Vererblichkeit der Leistungsansprüche entspricht den Besonderheiten des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung, die in erster Linie dem Versicherten selbst eine angemessene Lebenshaltung gewährleisten will; sie kann daher nicht mit dem Hinweis auf die Regelungen anderer Rechtsgebiete widerlegt werden. Auch besteht kein Anlaß zu der Annahme, der Gesetzgeber habe mit dem Wegfall des Antrags als Voraussetzung für den Rentenbeginn die Vererblichkeit einzelner Rentenanspruche (Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG, Hinterbliebenenrente) abweichend von derjenigen anderer - hinsichtlich ihres Beginns nach wie vor von der Antragstellung abhängiger - Rentenansprüche (Altersruhegeld nach § 25 Abs. 2 und 3 AVG, Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit) regeln wollen. Dagegen spricht die allgemeine Fassung des § 65 Abs. 2 AVG. Diese Vorschrift stimmt - bis auf wenige hier nicht in Betracht kommende Einzelheiten - inhaltlich überein mit dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht (§ 41 AVG aF, § 1292 RVO aF), unter dessen Geltung der Antrag auf die Leistung allgemein den Beginn der Renten bestimmte (§ 41 AVG aF, § 1286 RVO aF). Hätte der Gesetzgeber hinsichtlich der Vererblichkeit bei einzelnen Rentenansprüchen vom 1. Januar 1957 an eine vom bisherigen Recht abweichende Regelung treffen wollen, so hätte dies in § 65 Abs. 2 AVG zum Ausdruck kommen müssen. Dies ist aber nicht geschehen. Der Senat kann auch nicht die im Gesamtkommentar zur RVO Anm. 6 zu § 1288 RVO vertretene Auffassung teilen, wonach der Anspruch auf das Altersruhegeld nach § 25 Abs. 1 AVG bereits dann als "wirksam erhoben" anzusehen ist, wenn der Versicherte bei erfüllter Wartezeit von 180 Kalendermonaten das 65. Lebensjahr vollendet hat. Für eine derartige Fiktion bietet das Gesetz keinen Anhalt. Ein Untätigbleiben des Versicherten kann - wie der vorliegende Streitfall zeigt - nicht einem positiven Tun gleichgestellt werden. Erst wenn der Versicherte durch sein Gesuch nach § 1545 Abs. 1 Nr. 2 RVO zu erkennen gibt, daß er die Leistung vom Versicherungsträger beanspruche, ist sein Rentenanspruch zu einem Vermögensrecht geworden, das im Rahmen des § 65 Abs. 2 AVG oder, falls Bezugsberechtigte im Sinne dieser Vorschrift nicht vorhanden sind, nach den Vorschriften der §§ 1922 ff BGB vererblich ist.
Der Senat vermag in dieser Regelung des Gesetzes auch keinen Widerspruch mit dem Grundgesetz, insbesondere keinen Verstoß gegen Art. 14 des Grundgesetzes zu erkennen. Nach dieser Vorschrift werden das Eigentum und das Erbrecht gewährleistet. Es braucht für die Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit nicht geprüft zu werden, ob ein durch den Eintritt des Versicherungsfalls entstandener Rentenanspruch aus der Angestelltenversicherung überhaupt zu den öffentlich-rechtlichen Ansprüchen gehört, die mit den konstituierenden Merkmalen des Eigentumsbegriffs verknüpft sind und die deshalb dem Schutz des Art. 14 des Grundgesetzes unterliegen (BVerfGE 1, 264, 278; 11, 221, 226 und Urteil vom 11.10.1962 - 1 BvL 22/57 - sowie BSG 5, 40 und 9, 127; vgl. auch Zimmer in DOV 1963, 81). Denn jedenfalls hat ein Versicherter, der den Rentenanspruch zu seinen Lebzeiten nicht durch Stellung eines Rentenantrags geltend gemacht und den Anspruch nicht realisiert hat, kein volles Recht erworben und nicht die Rechtsstellung erlangt, die derjenigen des Eigentümers entspricht und die ihn auch des Schutzes hinsichtlich der Vererblichkeit des Anspruchs teilhaftig werden läßt. Der Senat sieht aus diesem Grunde keinen Anlaß, der Anregung der Klägerin entsprechend das Verfahren nach Art. 100 des Grundgesetzes zur Einholung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszusetzen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen