Leitsatz (amtlich)
Bei der Beurteilung der Frage, ob der Versicherte Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte, kommt es nicht darauf an, ob der Grund, aus dem der Versicherte nicht unterhaltsfähig war, nationalsozialistisches Unrecht (hier: Konzentrationslagerhaft) war.
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; EheG § 66 Abs. 1 Fassung: 1938-07-06, § 67 Fassung: 1938-07-06
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1965 und des Sozialgerichts Aachen vom 11. November 1963 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 1959 abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Rentenversicherung ihres früheren Ehemannes gemäß § 1265 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.
Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten, dem Arbeiter H. E aus Aachen, aus der ein Kind hervorgegangen ist, wurde durch Urteil des Landgerichts Aachen vom 14. September 1939, rechtskräftig geworden am 1. November 1939, aus Verschulden des Versicherten geschieden. Er war als Arbeiter bei der Firma P in A beschäftigt. 1940 wurde er in ein Konzentrationslager verbracht und ist am 11. Oktober 1942 im Konzentrationslager S verstorben.
Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin auf deren Antrag vom 1. Oktober 1957 Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO aus der Versicherung des verstorbenen geschiedenen Ehemannes zu gewähren (Bescheid vom 6. Oktober 1959). Sie begründete dies damit, zwischen den Eheleuten sei kein Unterhaltsprozeß anhängig gewesen. Daraus müsse geschlossen werden, daß der Versicherte nicht unterhaltspflichtig gewesen sei. Die wöchentlichen kleineren Beträge, die der Versicherte der Klägerin habe zukommen lassen - im Verwaltungsverfahren gehörte Zeugen hatten davon berichtet -, könnten lediglich Unterhaltsleistungen für das damals noch minderjährige Kind gewesen sein.
Auf Klage gegen diesen Bescheid erkannte das Sozialgericht (SG) der Klägerin die begehrte Hinterbliebenenrente zu, weil ihr der Versicherte nach der Scheidung zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen sei. Maßgeblicher letzter wirtschaftlicher Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten sei die Zeit vor der Verbringung in das Konzentrationslager gewesen (Urteil vom 11. November 1963). Die Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen (Urteil vom 10. Februar 1965).
Die Beklagte hat Revision eingelegt.
Die Beklagte rügt Verletzung des § 1265 RVO. Sie meint, der geschiedene Ehemann sei infolge seiner 1940 erfolgten Inhaftierung außerstande gewesen, der Klägerin Unterhalt zu leisten. Die Gründe der Unterhaltsunfähigkeit habe der Versicherte selbst zu vertreten gehabt. Die Entscheidung des LSG, daß der Versicherte durch eine rechtswidrige Freiheitsentziehung unfähig gewesen sei, seinen Unterhaltsleistungen nachzukommen, stehe im Widerspruch zu dem Bescheid des Regierungspräsidenten in Aachen vom 4. Oktober 1961 - 14-BEG/ZK 44 389-Jö/hu -, wonach der Antrag der Klägerin auf Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) abgelehnt worden sei. Auch ließen die Vorschriften des § 1265 RVO einen derartigen Ausschließungsgrund, der die Entscheidung des Vordergerichts wesentlich beeinflußt habe, nicht zu. Der Versicherte, der 1940 inhaftiert worden und während der Haft am 11. Oktober 1942 verstorben sei, sei damit mehr als zwei Jahre unterhaltsunfähig gewesen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. Februar 1965 und des Sozialgerichts Aachen vom 11. November 1963 aufzuheben und die Klage gegen ihren Bescheid vom 6. Oktober 1959 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
II.
Auf die Revision der Beklagten mußten die Urteile des LSG vom 10. Februar 1965 und des SG Aachen vom 11. November 1963 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 1959 abgewiesen werden.
Mit Recht hat das LSG der Prüfung des Anspruchs der Klägerin auf Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen geschiedenen Ehemannes den § 1265 Satz 1 RVO zugrundegelegt. Die Vorschrift des § 1265 RVO ist deswegen anzuwenden, weil der Versicherte vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherung-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) (1.1.1957), aber nach dem 30. April 1942, nämlich am 11. Oktober 1942, gestorben ist (Art. 2 § 19 ArVNG). Gemäß § 1265 RVO hat eine frühere Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Anspruch auf Hinterbliebenenrente, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) zu leisten hatte (1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO) oder wenn der Versicherte ihr zur Zeit seines Todes aus sonstigen Gründen Unterhalt zu leisten hatte (2. Alternative aaO) oder wenn der Versicherte ihr im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat (3. Alternative aaO). Die ergänzende, hierzu vom 1. Juli 1965 ab in Kraft getretene Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO gilt nur für Versicherungsfälle (Tod des Versicherten), die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind (Art. 1 § 1 Nr. 27, Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e, Art. 5 § 3 und § 4 Abs. 2 Buchst. a des Rentenversicherungsänderungsgesetzes), und ist deshalb auf diesen Fall nicht anzuwenden, da der Versicherungsfall hier bereits am 11. Oktober 1942 eingetreten ist. Der Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin ist zudem weder auf die 2. noch die 3. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO zu stützen. Ein "sonstiger Grund", der den Versicherten verpflichtet hätte, der Klägerin Unterhalt zu leisten - dieser hätte etwa in einem nach der Scheidung ergangenen Unterhaltsurteil liegen können (vgl. BSG 20, 1) -, ist vom LSG nicht festgestellt worden (2. Alternative aaO). Da der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode (11. Oktober 1942) der Klägerin keinen Unterhalt geleistet hat und deshalb auch die 3. Alternative als Anspruchsgrundlage für den Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin auszuscheiden hatte, bleibt hierfür nur der vom LSG zutreffend allein behandelte Anspruch aus der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO.
Dieser ist aber entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts nicht begründet.
Ob der Versicherte der Klägerin "zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes" zu leisten hatte, bestimmt sich, wie auch das LSG richtig angenommen hat, nach den Vorschriften des auf diesen Fall anwendbaren EheG vom 6. Juli 1938 - RGBl. I S. 807 - (BSG 5, 277). Nach § 66 Abs. 1 EheG 1938 hat der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse einer Erwerbstätigkeit, die von ihr den Umständen nach erwartet werden kann, nicht ausreichen, soweit die Frau also unterhaltsbedürftig ist.
Zweifelhaft muß es schon sein, ob die Klägerin zur Zeit des Todes des Versicherten überhaupt unterhaltsbedürftig war. Mochte sie auch, wie das LSG festgestellt hat, über keine Einkünfte aus eigenem Vermögen verfügen, so erwecken doch die Ausführungen des LSG, ihr sei den Umständen nach eine Erwerbstätigkeit nicht zuzumuten gewesen, weil sie während der über sieben Jahre dauernden Ehe nicht berufstätig und zur Zeit der Scheidung bereits 33 Jahre alt gewesen sei und nach ihren glaubhaften Erklärungen ihr geschiedener Mann auch nach der Scheidung ihre Erwerbstätigkeit nicht gewünscht habe, Bedenken. Abgesehen davon, daß für die Beurteilung der Frage, ob von ihr eine Erwerbstätigkeit den Umständen nach erwartet werden konnte, der Zeitpunkt des Todes des Versicherten und nicht der Zeitpunkt der Scheidung maßgebend war, hätte während des 2. Weltkrieges von einer damals rund 36 Jahre alten geschiedenen Ehefrau aus Arbeiterkreisen mit einem bereits im Arbeitsleben stehenden Sohn von 18 Jahren die Übernahme einer Erwerbstätigkeit regelmäßig erwartet werden müssen. All dies kann indes hier auf sich beruhen. Denn der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO erweist sich schon aus anderen Gründen als unbegründet.
Der Versicherte war nämlich entgegen der Auffassung des LSG zur Zeit seines Todes nicht unterhaltsfähig und damit nicht unterhaltspflichtig (§ 67 EheG 1938). Das LSG hat unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach der in der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO enthaltene Begriff "zur Zeit seines Todes" als der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten zu verstehen ist (vgl. BSG 3, 197, 200; 14, 129, 132 f.; 14, 255, 259; SozR RVO § 1265 Nr. 8; Nr. 9; Nr. 22; Nr. 32), die Konzentrationslagerhaft von mehr als zwei Jahren, während der der Versicherte der Klägerin keinen Unterhalt geleistet hat, nicht als den maßgeblichen wirtschaftlichen Dauerzustand angesehen. Es hat vielmehr seiner Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes die Verhältnisse zugrunde gelegt, die ohne die rechtsstaatlichen Grundsätze zuwiderlaufende Zwangseinweisung in ein Konzentrationslager und die Konzentrationslagerhaft als rechtswidrige Freiheitsberaubung bei normalem Lauf der Dinge fortgedauert haben würden. Nach der Auffassung des Berufungsgerichts hätte die Klägerin dann aber aller menschlichen Voraussicht nach von ihrem geschiedenen, damals leistungsfähigen Ehemann, dem Versicherten, weiter Unterhalt beanspruchen können. Dieser Gedankengang hat das LSG zu dem Schluß geführt, der Klägerin die Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO zuzuerkennen.
Dem kann indes nicht zugestimmt werden. Entscheidendes Gewicht hat das Berufungsgericht bei seiner Feststellung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes dem Umstand beigemessen, daß die Einlieferung des Versicherten in ein Konzentrationslager und die mindestens zweijährige Konzentrationslagerhaft mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht in Einklang stand. Das ist fraglos richtig und bedarf keiner näheren Begründung. Indes kommt es nicht darauf an, aus welchen Gründen der Versicherte unterhaltsunfähig war. Wenn der Versicherte außerstande ist, Unterhalt zu leisten, ist weder der Grund hierzu noch ein etwaiges Verschulden des Versicherten an dem Grund der Unterhaltsunfähigkeit (z.B. wegen Verletzungsfolgen, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Haft) zu prüfen. Es kann daher bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 1265 RVO in Verbindung mit den Vorschriften des Ehegesetzes erfüllt sind, auch nicht darauf ankommen, ob der Versicherte infolge recht widriger Maßnahmen unterhaltsunfähig und deshalb zum Unterhalt nicht verpflichtet gewesen ist. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang, in dem es nicht um die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts gehen kann, allein darauf abzuheben, ob der Versicherte während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode seine geschiedene Ehefrau unterhalten konnte oder nicht. Letzter wirtschaftlicher Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten ist derjenige letzte Zeitraum, von dem man annehmen kann, daß sich seine Umstände fortgesetzt hätten, falls der Versicherte nicht gestorben wäre. Dieser letzte wirtschaftliche Dauerzustand beginnt dort, wo sich letztmalig vor dem Tode des Versicherten die Einkommensverhältnisse eines Familienmitgliedes auf Dauer und wesentlich verändert haben (vgl. BSG 14, 129, 132 f). Im vorliegenden Falle war die Konzentrationslagerhaft des Versicherten der letzte wirtschaftliche Dauerzustand. Er begann damit, daß der Versicherte in ein Konzentrationslager verbracht wurde. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse änderten sich hierdurch wesentlich, denn er war nunmehr gehindert, als freier Mann seinem Erwerb nachzugehen, und wegen der damaligen politischen Verhältnisse ist mit Sicherheit anzunehmen, daß die Konzentrationslagerhaft noch fortgedauert hätte, wenn der Versicherte nicht am 11. Oktober 1942 im Konzentrationslager Sachsenhausen verstorben wäre. Da der Versicherte aber nach den Feststellungen des LSG während seiner Konzentrationslagerhaft unterhaltsunfähig war, scheitert der Anspruch der Klägerin, ihr Hinterbliebenenrente nach der 1. Alternative des Satzes 1 des § 1265 RVO zu gewähren, bereits aus diesem Grunde.
Er scheitert indes auch noch aus einem zweiten Grunde. Das BSG hat den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand, als den es das gesetzliche Merkmal "zur Zeit seines Todes" - wie oben ausgeführt - versteht, seiner Dauer nach nicht unbegrenzt gelassen. Wenngleich es die Frage nach der zeitlichen Ausdehnung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes nicht immer einheitlich beantwortet hat, ist es doch über eine Dauer von zwei Jahren nicht hinausgegangen und hat Unterbrechungen in der Unterhaltsfähigkeit von allenfalls bis zu zwei Jahren keine Bedeutung beigemessen (vgl. BSG 3, 197, 200; 14, 255, 259). Selbst wenn man - dem folgend - annehmen würde, daß solche Unterbrechungen von allenfalls bis zu zwei Jahren rechtlich bedeutungslos wären, könnte die Klägerin, wie dies auch die Revision annimmt, schon deshalb keine Hinterbliebenenrente beanspruchen, weil sich der Versicherte nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG bei seinem Tode bereits mehr als zwei Jahre im Konzentrationslager befunden hat, daher mehr als zwei Jahre lang unterhaltsunfähig war und deshalb keinesfalls davon ausgegangen werden kann, er sei "zur Zeit seines Todes" unterhaltsfähig und damit nach den Vorschriften des Ehegesetzes der Klägerin gegenüber unterhaltspflichtig gewesen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen