Entscheidungsstichwort (Thema)

Ursache der Unfähigkeit des früheren Ehemannes zur Unterhaltsleistung

 

Leitsatz (redaktionell)

Für die Frage, ob zur Zeit des Todes des Versicherten eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber der geschiedenen Ehefrau bestanden hat, ist es gleichgültig, auf welchen Gründen die Fähigkeit oder Unfähigkeit des früheren Ehemannes, Unterhalt zu leisten, beruht. Eine sozialversicherungsrechtliche Sonderregelung für Verfolgte ist insoweit gesetzlich nicht vorgesehen.

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 3. Mai 1961 wird zurückgewiesen.

Die Beklagten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (sog. Geschiedenen-Witwenrente) aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes.

Die Ehe der Klägerin mit dem am 1. Februar 1912 geborenen Johann D wurde am 14. November 1939 aus Alleinverschulden des Ehemannes geschieden. Der Versicherte wurde im Jahre 1941 wegen Diebstahls zu einer dreijährigen Zuchthausstrafe verurteilt und nach Verbüßung seiner Strafe in das Konzentrationslager Buchenwald verbracht. Seit Dezember 1944 sind von ihm keine Nachrichten mehr eingegangen. Er wurde durch Beschluß des Amtsgerichts Mayen vom 6. Dezember 1949 für tot erklärt; als Zeitpunkt des Todes wurde der 8. Mai 1945 festgestellt.

Mit Bescheid vom 10. April 1958 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Geschiedenen-Witwenrente mit der Begründung ab, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin keinen Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) oder aus sonstigen Gründen zu leisten gehabt habe und auch im letzten Jahre vor seinem Tode tatsächlich keinen Unterhalt geleistet habe.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 23. Oktober 1959 den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin "Witwenrente ab Antrag zu zahlen". Der Anspruch der Klägerin auf Witwenrente sei begründet, weil der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin nach den Vorschriften des EheG und auf Grund einer einstweiligen Verfügung des Amtsgerichts Düsseldorf Unterhalt zu leisten gehabt habe. Es sei rechtlich ohne Bedeutung, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes nicht mehr fähig gewesen sei, diesen Unterhalt zu zahlen.

Das Berufungsgericht hat durch Urteil vom 3. Mai 1961 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; es hat die Revision zugelassen.

Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Versicherte habe der Klägerin zur Zeit seines Todes nach den damals geltenden §§ 66 und 67 EheG vom 6. Juli 1938 (RGBl I S. 807) nicht Unterhalt zu leisten gehabt, weil er sich seit 1941 in Haft, anschließend im Zuchthaus und im Anschluß daran im Konzentrationslager Buchenwald befunden habe und somit nicht fähig gewesen sei, einen Unterhaltsbeitrag zu leisten. - Der Versicherte habe auch zur Zeit seines Todes nicht aus "sonstigen Gründen" der Klägerin Unterhalt zu leisten gehabt. Anhaltspunkte für eine vertragliche Unterhaltsverpflichtung seien weder von der Klägerin vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Es könne dahingestellt bleiben, ob eine einstweilige Verfügung des Amtsgerichts über eine Unterhaltsverpflichtung des Versicherten vorgelegen habe. Denn eine einstweilige Verfügung sei ebensowenig wie ein rechtskräftiges Unterhaltsurteil ein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO, weil hierunter nach der Entstehungsgeschichte und dem Wortlaut des § 1265 RVO nF "nur materielle Anspruchsgründe zu verstehen" seien. - Der Versicherte habe ferner im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt an die Klägerin geleistet.

Zur Begründung ihrer gegen dieses Urteil eingelegten Revision hat die Klägerin vorgetragen: Es sei richtig, daß der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt an sie geleistet habe, aber er sei zur Unterhaltsleistung verpflichtet gewesen. Diese Verpflichtung habe auch dann bestanden, wenn der Versicherte nicht unterhaltsfähig gewesen sei. Vor der Inhaftierung sei der Versicherte zudem auch unterhaltsfähig gewesen; es könne ihr nicht zur Last fallen, daß der Staat den Versicherten durch die Inhaftierung außerstande gesetzt habe, sie zu unterhalten.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 3. Mai 1961 die Berufung gegen das Urteil des SG Koblenz vom 23. Oktober 1959 zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache unter Aufhebung des Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 3. Mai 1961 zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Eine einstweilige Verfügung könne, da sie nur vorläufigen Charakter besitze, keinen "sonstigen Grund" im Sinne des § 1265 RVO darstellen, selbst wenn man, was sie aber auch verneine, ein Unterhaltsurteil als "sonstigen Grund" ansehen wolle. - Nach dem EheG habe eine Verpflichtung des Versicherten zur Unterhaltsleistung gegenüber der Klägerin nicht bestanden, da er seit seiner Inhaftierung unfähig gewesen sei, Unterhalt zu leisten.

Der zulässigen Revision mußte der Erfolg versagt bleiben.

Das Berufungsgericht hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO nicht zusteht.

Obwohl der Versicherte vor Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gestorben ist, richtet sich der Anspruch nach § 1265 RVO in der Fassung des ArVNG. Denn nach Art. 2 § 19 ArVNG ist, da der Versicherte nach dem 30. April 1942 verstorben ist, § 1265 RVO in der neuen Fassung anzuwenden.

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist für die Frage, ob ein gesetzlicher Unterhaltsanspruch der geschiedenen Ehefrau gegen ihren früheren Ehemann zur Zeit seines Todes bestand, dasjenige Ehegesetz maßgebend, das zur Zeit des Todes galt, hier also das EheG von 1938 (BSG 5, 277 ff).

Eine Unterhaltsverpflichtung besteht auch nach diesem Gesetz nur dann, wenn der geschiedene Ehemann für allein oder überwiegend schuldig erklärt ist, soweit er unterhaltsfähig und seine frühere Ehefrau unterhaltsbedürftig ist (vgl. dazu BSG 3, 197 ff). Da der Versicherte in den letzten Jahren vor seinem wahrscheinlichen Tode, von dem hier auszugehen ist, infolge Verbüßung der wegen Diebstahls verhängten Zuchthausstrafe und anschließenden Einlieferung in ein Konzentrationslager praktisch über kein Einkommen verfügte, war er unterhaltsunfähig und daher nicht unterhaltspflichtig (vgl. dazu Godin, Ehegesetz, 2. Aufl., Anm. 3 letzter Absatz zu § 59; Hoffmann-Stephan, Ehegesetz, Anm. 3 B, vorletzter Absatz zu § 58). Die Klägerin meint, es gehe nicht an, diese Zeitspanne als maßgebend anzusehen. Sie verkennt aber, daß für die Frage, ob zur Zeit des Todes des Versicherten eine Unterhaltsverpflichtung gegenüber der geschiedenen Ehefrau bestanden hat, es gleichgültig ist, auf welchen Gründen die Fähigkeit oder Unfähigkeit des früheren Ehemannes, Unterhalt zu leisten, beruht. Denn die Hinterbliebenenrente hat nur die Aufgabe, dann einzutreten, wenn durch den Tod des Versicherten Unterhaltsverpflichtungen oder Unterhaltsleistungen tatsächlich weggefallen sind. Eine sozialversicherungsrechtliche Sonderregelung für Verfolgte ist insoweit gesetzlich nicht vorgesehen. Ob die geschiedene Frau eines Verfolgten aus anderen gesetzlichen Vorschriften eine Entschädigung verlangen kann, bedarf hier keiner Erörterung, weil hierüber in dem gegenwärtigen Verfahren, in dem es lediglich um die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche geht, nicht entschieden werden kann.

Im Gegensatz zu der Auffassung des Berufungsgerichts sind zwar nach dem Beschluß des Großen Senats des BSG vom 27. Juni 1963 (GS 5/61) vollstreckbare Unterhaltstitel grundsätzlich als "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 RVO anzusehen. Wie der Große Senat aber weiter entschieden hat, gilt dies dann nicht mehr, wenn der Versicherte die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 der Zivilprozeßordnung (ZPO) hätte beseitigen können. Es mag dahingestellt bleiben, ob eine einstweilige Verfügung überhaupt einen Titel in diesem Sinne darstellt. Selbst wenn man das aber annehmen wollte, hätte der Versicherte diesen nach Eintritt der wesentlichen Änderung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse ändern lassen können (§ 936 i.V.m. § 927 ZPO). Im vorliegenden Fall kann die einstweilige Verfügung jedenfalls nicht als sonstiger Grund im Sinne des § 1265 RVO angesehen werden.

Wie das Berufungsgericht unangefochten festgestellt hat, hat der Versicherte im Jahr vor seinem Tod der Klägerin keinen Unterhalt geleistet, so daß auch die Voraussetzungen der 2. Alternative des § 1265 RVO nicht gegeben sind.

Die Revision erwies sich somit, da das angefochtene Urteil im Ergebnis zutreffend ist, als unbegründet. Sie mußte daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1984384

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