Leitsatz (amtlich)
1. Schulausbildung iS des RVO § 1267 S 2 ist die Teilnahme als Lernender an einer Unterrichtsveranstaltung nur dann, wenn diese im wesentlichen auch die übliche Organisationsform einer Schule hat; es genügt nicht, daß sie das Erziehungs- und Ausbildungsziel und den Lehrstoff einer Schule hat.
2. Zur Frage, ob hiernach die Teilnahme an einem Fernlehrgang eines Fernlehrinstituts zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung Schulausbildung iS des RVO § 1267 S 2 ist.
Normenkette
RVO § 1267 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Juli 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Teilnahme des Klägers an einem Fernlehrgang zur Vorbereitung auf die Reifeprüfung Schulausbildung war und dem Kläger deshalb die Waisenrente über das vollendete 18. Lebensjahr hinaus zusteht (§ 1267 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Der am 18. Februar 1942 geborene Kläger bezog vom 1. April 1952 bis zum Abschluß seiner Lehrlingsausbildung als Industriekaufmann am 30. April 1963 Waisenrente aus der Invalidenversicherung seines für tot erklärten Vaters. Die Beklagte lehnte es aber ab, dem Kläger, der bereits seit dem 1. Juni 1961 an einem Fernlehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur bei dem H Fern-Lehrinstitut W S KG teilgenommen hatte, über den 30. April 1963 hinaus für die Zeit der weiteren Teilnahme an diesem Fernlehrgang Waisenrente zu gewähren, weil der Unterricht des Abitur-Fernlehrgangs nicht nach einem staatlich genehmigten Lehrplan und nicht von staatlich zugelassenen Lehrkräften erteilt werde; es handle sich nicht um eine Schulausbildung im Sinne des Gesetzes (Bescheid vom 19. April 1963).
Während das Sozialgericht (SG) dem Kläger die begehrte Waisenrente zuerkannt hat, weil die Teilnahme an dem Fernlehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur Schulausbildung im Sinne des Gesetzes sei (Urteil vom 12. August 1964), hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Juli 1965). Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt.
Die Revision rügt Verletzung des § 1267 Satz 2 RVO. Sie meint, die Teilnahme an einem Fernlehrgang, der den staatlichen Lehrplänen folge und täglich fünf bis sechs Stunden Arbeit erfordere, sei Schulausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO. Eine enge Auslegung würde der sozialpolitischen Zielsetzung des § 1267 Satz 2 RVO und den Bestrebungen, möglichst viele Bildungswege zu eröffnen, nicht entsprechen. Gerade Waisen würden häufig, weil der Vater fehle, bei der Berufswahl nicht straff genug gelenkt. Daher würden Waisen oft erst im Laufe einer bereits begonnenen Ausbildung ihre Begabung erkennen. Für sie sei gerade die Teilnahme an einem Fernlehrgang der geeignete Weg der Ausbildung. Den Begriff der Schulausbildung auf eine solche durch eine "Schule als Anstalt" zu beschränken, wie dies das LSG wolle, sei gesetzlich nicht zwingend geboten. Der Hinweis des LSG, die Beschränkung auf eine so verstandene Schulausbildung sei "ganz bewußt erfolgt", sei durch nichts belegt und diene nur dazu, eine enge Wortinterpretation zu stützen. Das aber widerspreche dem Sinn und Zweck des Gesetzes. Als Maßstab für die Abgrenzung des Begriffes Schulausbildung könne nur die Tatsache dienen, ob die gewählte Ausbildung den vom Staat aufgestellten Erfordernissen entspreche oder nicht. Nur diesen Erfordernissen nicht genügende Ausbildungswege könnten dazu führen, Waisenrente nach § 1267 Satz 2 RVO nicht zu gewähren. Im Falle des Klägers zeige ein Blick in das Ausbildungsverzeichnis in dem Prospekt des Fern-Lehrinstituts, daß sich der Lehrkörper in nichts von dem einer höheren Schule unterscheide. Ihm gehörten Oberstudiendirektoren, Oberstudienräte, Studienräte und Assessoren an, so daß eine fachgerechte Unterweisung gewährleistet sei. Der gesamte Lehrgang verlöre seinen Sinn, wenn man ihn nicht einer Schulausbildung gleichstellte. Es komme nicht darauf an, ob es dem Kläger durch die Gestaltung des Fernunterrichts "nicht unmöglich" sei, außerhalb der für die Ausbildung erforderlichen Zeit einem Lohnerwerb nachzugehen. Diese Möglichkeit habe auch ein Oberschüler; wenn dieser darüber seine Ausbildung vernachlässige, könne er einem Lohnerwerb nachgehen. Entscheidend sei, ob der Kläger seine Zeit zweckmäßig eingeteilt habe, wenn er sich ganz der Ausbildung im Fernunterricht gewidmet habe, ohne daneben einen Beruf auszuüben. Selbst nach dem von ihr, der Revision, nicht gebilligten Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 1. Juli 1964 - 11/1 RA 170/59 - (BSG 21, 185 = SozR RVO § 1267 Nr. 13) sei es dem Kläger nicht zuzumuten, sich neben der Schulausbildung von täglich sechs Stunden noch den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, dafür acht Stunden und für die Wege zur und von der Arbeit weitere Zeit aufzuwenden, so daß er täglich fünfzehn bis sechzehn Stunden in Anspruch genommen werde.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. Juli 1965 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 12. August 1964 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
II.
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Das Berufungsgericht hat dem Kläger mit Recht die Waisenrente über das 18. Lebensjahr hinaus gemäß § 1267 Satz 2 RVO für die Zeit der Teilnahme an dem vorliegenden Fernlehrgang versagt, indem es diese Art der Ausbildung - Berufsausbildung stellt sie ohnehin nicht dar - nicht der Schulausbildung im Sinne dieser Vorschrift zugerechnet hat. Es hat dabei im Ergebnis und im wesentlichen auch in der Begründung die Vorschrift des § 1267 Satz 2 RVO richtig angewendet, wonach die Waisenrente längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres u.a. für ein unverheiratetes Kind gewährt wird, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet.
Wenngleich von "Schulausbildung" im Recht der Rentenversicherung und auch sonst in der RVO in verschiedener Verknüpfung die Rede ist (vgl. z.B. § 1259 Abs. 1 Nr. 4 b RVO i.d.F. des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - Ausfallzeiten -; § 1262 Abs. 3 Satz 2 - Kinderzuschuß -), erläutert das Gesetz weder in § 1267 Satz 2 noch an sonstiger Stelle der RVO den Begriff der Schulausbildung. Aus den Materialien zu den Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetzen und insbesondere aus denjenigen zu dem jetzigen § 1267 RVO (Protokolle des Ausschusses für Sozialpolitik - 28. Ausschuß -, 2. Wahlperiode, Nr. 1, 99, 118, 120, 132, 144, 150; Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode 1953, Stenographische Berichte Band 34, 185. Sitzung, 17. Januar 1957, S. 10 338, 10 339, 10 348; 203. Sitzung, 10. April 1957, S. 11 573) ist nichts dafür zu entnehmen, was unter Schulausbildung zu verstehen ist. Um den Begriff der Schulausbildung zu bestimmen, ist das LSG deshalb zutreffend vom allgemeinen Sprachgebrauch ausgegangen. Dieser aber versteht unter Schulausbildung die Teilnahme als Lernender an einer Unterrichtsveranstaltung nur dann, wenn diese im wesentlichen auch die übliche Organisationsform einer Schule hat; es genügt nicht, daß sie das Erziehungs- und Ausbildungsziel sowie den darauf abgestellten Lehrstoff einer Schule hat. Zur üblichen Organisationsform einer Schule aber gehört insbesondere folgendes: In einer Schule wird der Unterricht regelmäßig mündlich erteilt, und zwar in räumlichem Beisammensein von Lehrern und einer Mehrzahl von Schülern während des Unterrichts; die Schüler sind entsprechend ihrem Alter und ihrem Ausbildungsgang und -stand in Klassen zusammengefaßt; es werden in regelmäßigen Zeitabständen Zeugnisse erteilt und es finden Versetzungen statt; die Schüler unterliegen einer Schulordnung; sie müssen den Lehrstoff in bestimmten Zeiträumen bearbeiten und werden insoweit in ständiger unmittelbarer Berührung mit ihren Lehrern von diesen täglich oder doch kurzfristig überwacht; auch ihre mündlichen Leistungen werden ständig entwickelt und nachgeprüft. All dies fehlte bei einem reinen Fernunterricht, wie ihn der Kläger gewählt hat. Insbesondere war es die Eigenart des Fernunterrichts, an dem der Kläger teilgenommen hat, daß das Arbeitstempo weitgehend in die Hand des Schülers gelegt war. Fernschüler kennen doch nicht den Antrieb und den ständigen Vergleich durch das Miteinander der Schüler in einer Schulklasse.
Ob ein anders gestalteter Fernunterricht, etwa in der Art, wie ihn der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 30. Oktober 1967 - II 286/66 - (Zeitschrift für Beamtenrecht 1968, 16) zu beurteilen hatte - dieses Gericht hat entschieden, daß die zur Vorbereitung auf die staatliche Reifeprüfung dienende Ausbildung bei der Abiturabteilung der Akademikergesellschaft in S Schulausbildung im Sinne von § 18 des baden-württembergischen Landesbesoldungsgesetzes und § 180 des baden-württembergischen Landesbeamtengesetzes ist - und der von vornherein darauf angelegt ist, daß er durch einen nach Bearbeitung von bestimmten Pensen beginnenden mündlichen Unterricht (Nahunterricht) ergänzt wird, etwa Anlaß zu einer anderen Beurteilung geben müßte, brauchte hier nicht entschieden zu werden.
Da schon aus diesen Gründen die Teilnahme des Klägers an dem Fernlehrgang zur Vorbereitung auf das Abitur keine Schulausbildung im Sinne des § 1267 Satz 2 RVO war und der Waisenrentenanspruch deshalb zu verneinen ist, erübrigt es sich, dazu Stellung zu nehmen, ob - wie es das LSG hilfsweise angenommen hat - von Schulausbildung im Sinne der Vorschrift auch deshalb nicht gesprochen werden kann, weil die Teilnahme an dem Fernlehrgang Zeit und Arbeitskraft des Klägers weder ganz noch überwiegend in Anspruch genommen hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2374903 |
MDR 1969, 87 |