Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluß des Anspruchs auf stationäre Tbc-Heilbehandlung bei Auslandsaufenthalt des Versicherten
Leitsatz (redaktionell)
Die Anwendbarkeit des RVO § 1244a Abs 9, wonach die Rentenversicherungsträger Ansprüche auf Leistungen der Tuberkulosehilfe nur insoweit zu erfüllen haben, als sie diese im Geltungsbereich der RVO erbringen können, wird durch Vorschriften des überstaatlichen Rechts nicht ausgeschlossen; mithin hat die KK für ein rentenversichertes Mitglied, das sich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO aufhält, die Kosten einer stationären Behandlung wegen Tuberkulose selbst dann zu übernehmen, wenn das Mitglied von den Regelungen der EWGV 4 erfaßt wird.
Normenkette
RVO § 216 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1970-12-21, § 1244a Abs. 3 Fassung: 1974-08-07, Abs. 9 Fassung: 1959-07-23; EWGV 3 Art. 19 Abs. 2 Fassung: 1958-09-25; EWGV 4 Art. 73 Fassung: 1958-12-03
Verfahrensgang
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Januar 1976 und des Sozialgerichts Koblenz vom 7. November 1974 werden aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1917 geborene italienische Staatsangehörige Nicola B war im Bezirk der Beklagten als Arbeitnehmer beschäftigt und bei der Klägerin für den Fall der Krankheit versichert. Er hatte in der deutschen Rentenversicherung eine Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten zurückgelegt.
Mitte August 1968 wurde B wegen aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose krank und arbeitsunfähig. Er trug der Klägerin den Wunsch vor, sich in Italien behandeln zu lassen; die Klägerin stimmte der beabsichtigten "Wohnortverlegung" zu. Darauf reiste B am 30. August 1968 nach C (K). Im dortigen Krankenhaus wurde er vom 9. September 1968 bis zum 10. Januar 1969 behandelt. Die Kosten in Höhe von 3.948,72 DM trug zunächst die Klägerin. Sie hat diese Kosten erfolglos bei der Beklagten angefordert.
Auf die Klage der Klägerin hat das Sozialgericht in Koblenz die Beklagte zur Kostenerstattung verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Die Kostenerstattungspflicht der Beklagten beruhe auf der EWG-Verordnung Nr. 3, nach deren Art. 19 der Arbeitnehmer seinen Leistungsanspruch behalte, wenn er seinen Wohnort in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedsstaates verlege. Der entgegengesetzten Ansicht des Bundessozialgerichts (BSG 32, 122 = SozR Nr. 18 zu § 1244 a RVO) könne nicht gefolgt werden, zumal der Europäische Gerichtshof entschieden habe, daß es sich bei der Tuberkulosehilfe um eine "Leistung bei Krankheit" im Sinne des EWG-Rechts handele.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte die unrichtige Anwendung des § 1244 a Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht. Sie hält die Tuberkulosehilfe für einen Bestandteil der innerstaatlichen Seuchenbekämpfung, der auf das Inland beschränkt sei. Sie beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat nicht, wie die Vorinstanzen meinen, einen Anspruch gegen die Beklagte auf Erstattung der Kosten für die Behandlung B.
Der von der Klägerin geltend gemachte öffentlich-rechtliche Ersatzanspruch (für dessen Zulässigkeit vgl. BSGE 39, 137, 138 m. w. N.) setzt voraus, daß die Klägerin eine Sozialleistung (hier: die Zahlung der Krankenhauskosten) erbracht hat, die die Beklagte hätte erbringen müssen. Die Beklagte war aber nicht zur Zahlung verpflichtet.
Als Grundlage für eine Verpflichtung der Beklagten kommt nur § 1244 a Abs. 1 und 3 RVO idF des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe vom 23. Juli 1959 (BGBl I 513) in Betracht. Nach dieser Vorschrift muß der Rentenversicherungsträger für Rentenversicherte, die an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose erkrankt sind, bei Vorliegen bestimmter versicherungsrechtlicher Voraussetzungen stationäre Heilbehandlung zur Verfügung stellen. Die Pflicht besteht nach Abs. 9 dieser Vorschrift aber nur dann, wenn der Betreute im Geltungsbereich der RVO behandelt werden kann; trotz der nicht ganz eindeutigen Fassung kommt es nicht darauf an, ob der Kranke im Inland behandelt werden kann , sondern, ob er im Inland auch tatsächlich behandelt wird . Da die Kostenerstattung für eine Maßnahme verlangt wird, die im Ausland erbracht wurde, besteht nach innerdeutschem Recht (§ 1244 a RVO) keine Leistungs- und damit auch keine Erstattungspflicht der Beklagten.
Auch EWG-Recht hat hier eine solche Pflicht nicht begründet. Zwar bestimmte Art. 19 Abs. 2 im Kapitel "Krankheit; Mutterschaft" der Verordnung Nr. 3 der EWG über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) vom 25. September 1958 (BGBl 1959 II 473), in Kraft seit 1. Januar 1959, abgelöst mit Wirkung vom 1. Oktober 1972 durch die EWG-VO Nr. 1408/71:
Ist ein Arbeitnehmer oder ihm Gleichgestellter zu Lasten eines Trägers eines Mitgliedstaats leistungsberechtigt und wohnt er in dessen Hoheitsgebiet, so behält er diesen Anspruch, wenn er seinen Wohnort in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt; der Arbeitnehmer oder ihm Gleichgestellte muß vor dem Wohnortwechsel die Zustimmung des zuständigen Trägers einholen; dieser hat die Gründe für den Wechsel gebührend zu berücksichtigen.
Dies gilt entsprechend für Arbeitnehmer, die sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats behandeln lassen, ohne ihren Wohnort dorthin zu verlegen, sowie für Saisonarbeiter, die in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem sie wohnen, zurückkehren, um sich dort behandeln zu lassen.
Der jetzt geltende Art. 22 Abs. 1 Buchst. b (im Kapitel "Krankheit und Mutterschaft") der EWG-VO Nr. 1408/71 lautet:
Arbeitnehmer, welche die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen ... erfüllen und die vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten haben, in das Gebiet des Mitgliedstaats, in dem sie wohnen, zurückzukehren ..., haben Anspruch auf Sachleistungen ....
Dazu schreibt Abs. 2 Satz 1 vor:
Die nach Absatz 1 Buchstabe b) erforderliche Genehmigung darf nur verweigert werden, wenn ein Wohnortwechsel des Arbeitnehmers dessen Gesundheitszustand gefährden oder die Durchführung der ärztlichen Behandlung in Frage stellen würde.
Aber die nach altem Recht erforderliche "Zustimmung" der Beklagten ist nicht erteilt worden. Er war allein die Klägerin, die der Wohnortverlegung zugestimmt hat, möglicherweise in Anwendung des § 216 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 RVO. Ihre Zustimmung wirkte nicht für und gegen die Beklagte.
Das Berufungsgericht nimmt an, die Klägerin habe die Zustimmung (zu ergänzen ist wohl: mit Wirkung gegen die Beklagte) erteilen dürfen, weil die deutschen Krankenkassen wegen des Streits über den zuständigen deutschen Träger bei der Erstattung an den italienischen Träger in Vorlage getreten seien; es nimmt dafür auf das Zusatzprotokoll über die Verhandlungen vom 29. November bis 2. Dezember 1966 in Rom zwischen dem deutschen und dem italienischen Arbeitsministerium betreffend stationäre Tbc-Behandlung in Italien, bekanntgegeben mit Rundschreiben Nr. 3/1967 der deutschen Verbindungsstelle - KV - vom 13. Januar 1967 (Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Teil XVIII EWG, Verlag der Ortskrankenkasse Bonn-Bad Godesberg, S. 146/57) Bezug, jedoch zu Unrecht. Das Protokoll hat in seinem hier interessierenden Teil folgenden Wortlaut:
Die deutsche Delegation bestätigt, daß die italienischen Arbeitnehmer, die Leistungsansprüche bei Tbc haben, diese Leistungen im Rahmen der Verordnungen Nr. 3 und Nr. 4 der EWG auch in Italien erhalten können. Diese Leistungen sind von deutscher Seite gemäß Artikel 73 EWG-Verordnung Nr. 4 zu erstatten.
Da auf deutscher Seite noch Rechtsstreite anhängig sind über die Frage, welcher deutsche Träger zur Erstattung verpflichtet ist, wird von der deutschen Delegation eine vorläufige Lösung vorgeschlagen.
Diese soll darin bestehen, daß zunächst die deutschen Krankenkassen in Vorlage treten. Die Vertreter der Krankenkassen erklärten, daß sie sich für diese Lösung entscheiden werden, die aber zur Voraussetzung hat, daß der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger namens seiner Mitglieder erklärt, daß
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1. |
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diese vorläufige Übernahme der Kosten von seiten der deutschen Krankenkassen keinerlei Präjudiz für die endgültige Zahlungsverpflichtung oder die anhängigen Rechtsstreite darstellt; |
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die anhängigen Rechtsstreite als Musterfälle betrachtet werden, deren Entscheidung auch für alle anderen gleichgelagerten Fälle gilt, ohne daß die Einrede der Verjährung erhoben werden kann. |
Die deutsche Delegation verpflichtet sich, schnellstmöglich mitzuteilen, ob die vorläufige Lösung zustande kommt. Sollte diese vorläufige Regelung nicht zustande kommen, behält sich die italienische Delegation die ihr geeignet erscheinenden Schritte vor, um die Frage bald zu regeln.
Die völkerrechtliche Bedeutung des Protokolls und seine unmittelbare Wirkung für die Rechtsverhältnisse zwischen den Krankenversicherungsträgern und den Rentenversicherungsträgern im allgemeinen mögen hier dahinstehen. Denn jedenfalls enthält es keine genügend deutsche Vollmacht für die Krankenversicherungsträger, die Zustimmung nach Art. 19 Abs. 2 der EWG-VO Nr. 3 mit Wirkung für und gegen einen Rentenversicherungsträger zu erteilen. Mit der - zudem bedingt zustande gekommenen - Bestimmung, daß die deutschen Krankenkassen "in Vorlage treten" sollen, ist eine abrechnungstechnische Regelung getroffen worden, die die Zuständigkeit der einzelnen Versicherungsträger zum Erlaß von Verwaltungsakten oder ähnlichen Erklärungen nicht berührt.
Die Zustimmung kann auch nicht als zu Unrecht verweigert angesehen werden, weshalb etwa die Beklagte so behandelt werden müßte, als hätte sie sie erteilt. Nach der EWG-VO Nr. 1408/71 hat der zuständige Träger zwar "die Gründe für den Wechsel gebührend zu berücksichtigen"; das kann er aber nur, wenn er Gelegenheit erhält, diese Gründe kennen zu lernen und abzuwägen. Hier wußte die Beklagte nichts von der Ausreise, die B beabsichtigte. Zudem war nach dem damals geltenden, hier noch anzuwendenden Recht - im Gegensatz zu Art. 22 der EWG-VO Nr. 1408/71 - der Versicherungsträger in der Erteilung oder Verweigerung der Zustimmung verhältnismäßig frei; er konnte aus jedem vernünftigen Grund davon absehen, die erbetene Zustimmung zu erteilen.
Wenn aber ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte schon deshalb fehlt, weil die erforderliche Zustimmung nicht erteilt worden ist, dann können die Frage des Rangverhältnisses zwischen europäischem und innerdeutschem Recht, insbesondere die Frage, ob EWG-Recht die Vorschrift des § 1244 a Abs. 9 RVO abgeändert hat, und schließlich die Frage, ob mit "diesem Anspruch" (Art. 19 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 der EWG-VO Nr. 3) der konkrete Anspruch oder nur überhaupt ein Anspruch des Arbeitnehmers gemeint ist, unerörtert bleiben.
Auf die Revision der Beklagten waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben; die Klage war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen