Leitsatz (amtlich)
Zuständiger deutscher Kostenträger für die stationäre Tuberkulosebehandlung des aus der Bundesrepublik verzogenen italienischen Arbeitnehmers in Italien (bei Behandlungsfällen vor dem 1. Oktober 1972).
1. § 1244 a RVO ist den supranationalen Normen über die Soziale Sicherheit zuzuordnen; das gilt auch für den Anspruch auf Tuberkulosehilfe bei Wohnortwechsel des Berechtigten in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates gemäß Art. 19 Abs. 2 EWG-VO Nr. 3 (Ergänzung EuGH 1972-11-16 14/72 = SozR Nr. 28 zu § 1244 a RVO; BSG 1973-02-21 4 RJ 473/69 = SozR Nr. 29 zu § 1244 a RVO).
2. Die Beschränkung der Tuberkulosebekämpfung auf das Inland nach § 1244 a Abs. 9 RVO kollidiert mit Art. 19 Abs. 2 EWG-VO Nr. 3; diese Vorschrift geht als supranationales Recht dem innerstaatlichen Recht vor (entgegen BSG 1970-12-02 4 RJ 481/68 = SozR Nr. 18 zu § 1244 a RVO).
3. Die gesetzliche Rentenversicherung bleibt der zuständige Kostenträger für die Tuberkulosehilfe auch bei der Wohnortverlegung ins Ausland; sie hat dem italienischen Träger die Aufwendungen für die Sachleistungen zu erstatten, die dieser dem aus der Bundesrepublik nach Italien verzogenen italienischen Arbeitnehmer dort gewährt hat.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 1, 9; EWGV 3 Art. 19 Abs. 2-3; EWGV 3 Art. 23; EWGV 4 Art. 21 Art. 73
Verfahrensgang
SG Koblenz (Urteil vom 07.11.1974; Aktenzeichen S 6 J 36/74) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 7. November 1974 wird zurückgewiesen.
2. Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Kosten, welche die Klägerin für eine stationäre Tuberkulosebehandlung in Italien aufgewendet hat.
Der italienische Arbeitnehmer N. B. war in der Bundesrepublik rentenversicherungspflichtig beschäftigt; er hat die Wartezeit für die Berufs- und die Erwerbsunfähigkeitsrente erfüllt. Am 19. August 1968 begab er sich in häusärztliche Behandlung, in deren Verlauf eine aktive Tuberkulose festgestellt wurde. Er reiste daraufhin in sein Heimatland Italien zurück und wurde im Krankenhaus C. vom 9. September 1968 bis 10. Januar 1969 stationär behandelt. Die Behandlung kostete 3.948,72 DM; den Betrag hat die Klägerin dem italienischen Versicherungsträger erstattet.
Die Beklagte verweigert der Klägerin einen Kostenersatz.
Auf deren Klage hat das Sozialgericht Koblenz die Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Kosten zu erstatten (Urteil vom 7. November 1974): Gemäß § 1244 a Abs. 9 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestehe ein Anspruch des Versicherten auf die Tuberkulosehilfe nach Abs. 1 der Vorschrift gegenüber der Beklagten zwar nur, soweit der Betreute im Geltungsbereich der RVO behandelt oder beruflich gefördert werden oder nachgehende Maßnahmen unmittelbar erhalten könne. Diese Vorschrift kollidiere aber mit überstaatlichem Recht, das die Sozialversicherung der Wanderarbcitnehmer betreffe, weshalb sie hier nicht anzuwenden sei. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) habe mit Urteil vom 16. November 1972 entschieden, daß die Hilfe des Rentenversicherungsträgers für einen Tuberkulosekranken gemäß § 1244 a Abs. 1 RVO den in Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (EWG-VO Nr. 3) genannten Rechtsvorschriften über die Soziale Sicherheit zuzurechnen und als Leistung bei Krankheit im Sinn von Art. 2 Abs. 1 a EWG-VO Nr. 3 anzusehen sei. Damit sei die Freizügigkeit der Arbeitnehmer der Gemeinschaft auch insoweit hergestellt. Die Beklagte sei deshalb verpflichtet, die der Klägerin für den Versicherten entstandenen Heilverfahrenskosten in dem der Europäischen Gemeinschaft angehörenden Staat Italien zu übernehmen.
Mit der Berufung trägt die Beklagte unter anderem vor: § 1244 a Abs. 9 RVO bleibe durch das Europäische, Gemeinschaftsrecht unangetastet. Tuberkulosemaßnahmen der deutschen Rentenversicherung würden von der EWG-VO Nr. 3 nicht erfaßt. Aus dem Urteil des EuGH lasse sich die Nichtanwendung des § 1244 a Abs. 9 RVO nicht herleiten. Der EUGH sei vom Bundessozialgericht (BSG) nur angerufen worden zu der Frage, inwieweit nach der EWG-VO Nr. 3 ausländische Versicherungszeiten auf die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Tuberkulosemaßnahmen anzurechnen seien. Dagegen liege zur Durchführung von Rehabilitatipnsmaßnahmen im Ausland eine Rechtsprechung des EuGH nicht vor. Das BSG stehe zutreffend auf dem Standpunkt, daß der EuGH den Begriff der „Sozialen Sicherheit” ausschließlich in Anlehnung an Vorschriften des Gemeinachaftsrechts definiert habe und daß sich eine Übertragung dieser Definition auf innerstaatliches Recht nicht rechtfertigen lasse. Die Beschränkung der Leistung des Rentenversicherungsträgers nach § 1244 a Abs. 1 und 9 RVO auf das Inland entspreche zumindest der modernen de...