Leitsatz (amtlich)

Verzieht ein Versicherter, nachdem er eine Leistung aus der Rentenversicherung beantragt hat, in den Bezirk eines anderen Rentenversicherungsträgers, so bleibt der angegangene Versicherungsträger örtlich zuständig, bis über den Anspruch endgültig entschieden ist. Dies gilt auch dann, wenn ein nach dem Wohnortwechsel ergangener ablehnender und mit der Anfechtungs- und Leistungsklage angefochtener Verwaltungsakt zur Zeit seines Erlasses rechtmäßig war und der Anspruch erst infolge nachträglich eingetretener Tatsachen anders zu beurteilen ist.

 

Normenkette

RVO § 1572 Fassung: 1953-03-09, § 1630 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 1962 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, welche Versicherungsanstalt für den geltend gemachten Rentenanspruch zuständig und leistungsverpflichtet ist. Der Kläger und die beigeladene Landesversicherungsanstalt (LVA) Freie und Hansestadt H halten die beklagte LVA H für die richtige Anspruchsgegnerin, während diese die Verwaltungszuständigkeit der Beigeladenen annimmt.

Der Kläger wohnte zu der Zeit, in der er den Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit stellte, im örtlichen Bezirk der Beklagten. Vier Tage später verzog er nach Hamburg und damit in ein Gebiet, das in den Verwaltungsbereich der beigeladenen Versicherungsanstalt fällt. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 5. August 1959 die Bewilligung der Rente ab, weil der Versicherungsfall noch nicht eingetreten sei. Die dagegen erhobene Klage hatte im ersten Rechtszuge keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Hamburg vom 14. Februar 1961).

Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Urteil vom 20. Dezember 1962 in Abänderung des Ablehnungsbescheides und der erstinstanzlichen Entscheidung die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Dezember 1960 an - zu dieser Zeit hat es den Tatbestand der Berufsunfähigkeit als erfüllt angesehen - zu gewähren; im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Frage der Zuständigkeit hat das LSG ausgeführt: Der Kläger halte sich mit Recht nach wie vor an die Beklagte. Diese sei seine Schuldnerin, weil sie für die Feststellung und Zahlung zuständig geblieben sei. Hierfür komme es lediglich darauf an, daß der Kläger bei Einreichung seines Antrages seinen Wohnsitz im Bezirk der Beklagten gehabt habe. Die einmal begründete Zuständigkeit dauere während des Verwaltungsverfahrens und auch nach Klageerhebung fort, und zwar ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt, zu welchem der anspruchsbegründende Tatbestand verwirklicht werde.

Die Beklagte hat das Berufungsurteil mit der zugelassenen Revision angefochten. Sie bekämpft ihre Verurteilung zur Leistung mit folgenden Ausführungen: Das LSG habe sich keine rechte Vorstellung von dem Gegenstand der Klage gemacht. Diese sei einmal auf Aufhebung des ablehnenden Verwaltungsakts gerichtet und befasse sich zweitens mit dem Rentenanspruch als solchem. Zwar sei die Beigeladene, die einen Verwaltungsakt in dieser Sache niemals erlassen habe, nicht Gegnerin der Anfechtungsklage, wohl aber Anspruchsgegnerin. Auf diesen Rentenanspruch beziehe sich das Leistungs- (Grund-) Urteil des LSG. In bezug auf die nach dem Berufungsurteil zu erbringende Leistung könne nicht mehr auf den Rentenantrag vom Januar 1958 abgehoben werden. Dieser Antrag habe mit der Erteilung des ablehnenden Bescheids jede Wirkung verloren. Die Verurteilung zur Leistung basiere vielmehr auf einem Sachverhalt, der von der Beurteilungsgrundlage des Verwaltungsakts nicht gedeckt werde. Der Bescheid der Beklagten behandele eine konkrete Sachlage, die bei Bescheiderlaß bereits der Vergangenheit angehört habe; für die Zukunft habe eine Regelung nicht getroffen werden sollen. Eine solche Regelung setze nach § 1545 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) einen neuen Leistungsantrag voraus; dieser sei zugleich in der Klagebitte zu erblicken. Nach diesem neuen Antrag und den damit zeitlich zusammenfallenden Wohnsitzverhältnissen des Klägers richte sich die Zuständigkeit des Verwaltungsträgers für die Gewährung der Leistung.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und an ihrer Stelle die LVA Freie und Hansestadt H zur Rentenzahlung zu verurteilen.

Der Kläger und die Beigeladene beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Klage ist zutreffend gegen die beklagte LVA gerichtet. Die Beklagte hat den Verwaltungsakt, durch den der Anspruch des Klägers verneint worden ist, nicht nur erlassen, sondern auch für die Dauer des gegenwärtigen Rechtsstreits zu vertreten. Das gilt für den ganzen Umfang der Klage, für das Leistungsbegehren ebenso wie für das Verlangen, den angefochtenen Verwaltungsakt aufzuheben.

Die Beklagte ist als örtlich zuständiger Versicherungsträger Leistungsschuldnerin und damit Anspruchsgegnerin. Hierfür ist bestimmend, daß der Versicherte zur Zeit der Antragstellung seinen Wohnsitz im Bezirk der Beklagten hatte (§§ 1630 Abs. 2, 1614, 1572 Abs. 2 RVO). Diese blieb mit der Sache befaßt, obgleich der Kläger alsbald nach Anmeldung seines Anspruchs in das Verwaltungsgebiet einer anderen Versicherungsanstalt verzog. Für einen Zuständigkeitswechsel fehlt jeder Anhalt im Gesetz.

An der einmal begründeten Zuständigkeit ist nach Entscheidungen des Reichsversicherungsamts - RVA - (Nr. 1634 AN 1912, 914; Nr. 1725 AN 1913, 554) nicht allein während anhängiger Rentenfeststellungsverfahren, sondern sogar dann noch festzuhalten, wenn die Rente bewilligt worden ist. Soll später die Rente entzogen werden, so ist zu dieser Maßnahme ausschließlich diejenige Versicherungsanstalt berufen, welche den Anspruch ursprünglich anerkannt hatte, auch wenn ihr die Durchführung eines neuen Feststellungsverfahrens nicht mehr obläge. Das RVA hat diese - zu § 1633 RVO vertretene - Auffassung weniger unmittelbar aus dem Wortlaut des Gesetzes, als vielmehr aus seiner Entstehungsgeschichte hergeleitet und praktische Erfordernisse dafür maßgeblich sein lassen. Für das Verwaltungsverfahren der Rentenversicherungsträger wird sonach in besonders auffallender Weise eine einmal begründete Zuständigkeit als fortbestehend angenommen. Es ist also nicht einmal für Rechtsbeziehungen von langer Dauer - wie beispielsweise nach § 4 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - eine Sach- und Aktenabgabe vorgesehen. Deshalb kann um so weniger von einem Übergang des Verwaltungsverfahrens auf einen anderen Versicherungsträger ausgegangen werden, wenn - wie im vorliegenden Falle - die Vorgänge noch nicht abgeschlossen sind. Während eines solchen Schwebezustandes besteht ein erhöhtes Bedürfnis nach Rechtsklarheit und damit nach einer Rechtsregel, welche die Zuständigkeit genau und für die ganze Dauer eines Verfahrens, einschließlich eines sich daran anschließenden Rechtsstreits, festlegt. Für das Vorhandensein der Umstände, an welche die Zuständigkeitsfolge geknüpft wird, muß deshalb ein bestimmter Termin unumstößlich maßgebend sein. Das ist nach § 1630 Abs. 2 RVO die Zeit der Antragstellung.

Mit der Erteilung des angefochtenen Bescheides war das durch den Antrag eingeleitete Rentenfeststellungsverfahren noch nicht abgeschlossen. Infolge der gegen den Bescheid erhobenen Aufhebungs- und Leistungsklage blieb die Sache bis zum Eintritt der formellen Rechtskraft anhängig. Dem steht nicht entgegen, daß der Bescheid - wie hernach bestätigt wurde - zur Zeit seines Erlasses mit den tatsächlichen und rechtlichen Gegebenheiten übereinstimmte und sich lediglich auf einen mit seiner Gegenwart abgeschlossenen Sachverhalt, nicht aber auf einen künftigen Verlauf der Dinge bezog. Obgleich das sozialgerichtliche Verfahren an den angegriffenen Verwaltungsakt anknüpft und wiewohl diesem Verwaltungsakt nur vollendete oder in ihrer Entwicklung unmittelbar erkennbare Tatsachen zugrunde gelegt werden konnten, ist seine Rechtmäßigkeit - im Falle einer zusammengefaßten Aufhebungs- und Leistungsklage - nicht bloß am Maßstab des Gewesenen und Zurückliegenden zu messen. Für die Beurteilung der Rechtsgültigkeit eines den Rentenanspruch versagenden Bescheides kommt es in einem solchen Falle auf den Sachstand im Augenblick der letzten gerichtlichen Tatsachenverhandlung an (BSG 6, 136, 141; SozR SGG § 162 Bl. Da 12 Nr. 52; BSG 12, 58, 127). Die Ablehnung wirkt demgemäß - was den Beginn der Jahresfrist für einen Wiederholungsantrag angeht - auch nicht auf den Augenblick der Bescheiderteilung, sondern auf den Tag, mit dem die Ablehnung endgültig, d. h. unanfechtbar, wird (vgl. § 1635 Abs. 1 RVO). Deshalb kann auch ein Versicherungsträger solange nicht aus seiner Verantwortung für die Ablehnung eines Rentenantrags entlassen werden, solange die Ablehnung nicht endgültig ist. Die von der Beklagten vorgeschlagene Konstruktion eines zweiten, in die Klage eingeschlossenen Antrags auf Rentenleistung ist rechtlich nicht haltbar.

Da der Kläger nach den mit der Revision nicht angegriffenen Feststellungen berufsunfähig wurde, bevor noch die Ablehnung seines Rentenantrags "endgültig" geworden war, ist die Beklagte zuständig und somit leistungspflichtig.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts ist also richtig; die Revision ist zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 87

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