Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. Unterbrechung. Heimweg

 

Orientierungssatz

Nicht jedes Einschieben einer dem Zurücklegen des Heimweges nicht unmittelbar dienenden Tätigkeit ist rechtlich als eine Unterbrechung des Heimweges zu werten. Eine solche Unterbrechungswirkung hat vielmehr nur eine Verrichtung, die nach Art und Umfang auch rechtlich als so wesentlich zu werten ist, daß während ihrer Dauer die Verknüpfungen mit dem Zurücklegen des Heimweges als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten (vgl BSG 1964-02-28 2 RU 185/61 = BSGE 20, 219). Das Gericht hätte feststellen müssen, wie lange die Unterbrechung gedauert hätte.

 

Normenkette

RVO § 543

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 22.10.1963)

SG Osnabrück (Entscheidung vom 17.05.1962)

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Oktober 1963 und des Sozialgerichts Osnabrück vom 17. Mai 1962 sowie der Bescheid der Beklagten vom 6. Oktober 1960 werden aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 3. Mai 1960 Entschädigung nach den Vorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger G beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Verkehrsunfalles vom 3. Mai 1960.

Über den Hergang des Unfalls ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen:

Der 1921 geborene Kläger zu 1), der seit 1958 bei der Metallwarenfabrik Erwin M, L./E., B Straße …, beschäftigt ist, wohnt in L., A.-straße … . Am 3. Mai 1960 trat er nach Beendigung seiner Arbeitsschicht um 16.00 Uhr seinen Heimweg mit dem Moped an, der üblicherweise über die B Straße, Langschmidtsweg , Weidestraße, Meppener Straße, Mühlentorstraße, Große Straße in Richtung über den Markt in die M.-straße, B-R-Straße, B.-straße, H Straße, A.-straße führte. An diesem Tage war Kirmes in Lingen und deshalb die über die Mitte des Marktes zur Marienstraße führende Fahrbahn für den motorisierten Fahrzeugverkehr gesperrt. Der Kläger benutzte daher für seinen Heimweg die an der - in seiner Fahrtrichtung - linken Marktseite führende Fahrbahn und bog dann rechts in die Burgstraße ein. Vor Einmündung der Burgstraße in die Marienstraße stieg er an dem Haltezeichen ab und schob das Moped neben sich her. Nachdem er es bis nahe an die bei der Kreissparkasse befindliche Sperrkette geschoben hatte und wieder links einbiegen wollte, geriet er um 16.10 Uhr etwa in der Mitte der Fahrbahn gegen die vordere linke Kante eines aus der Burgstraße kommenden Lkw's und kam zu Fall. Hierbei zog er sich nach den Feststellungen des Durchgangsarztes Dr. B, L./E., einen Trümmerbruch des ersten Mittelfußknochens und Rißwunden über der linken Ferse sowie am linken Mittelfuß zu. Wegen der Unfallfolgen wurde er vom 3. Mai bis 1. Juni und vom 22. Juni bis 25. Juni 1960 stationär behandelt.

Die Unfallstelle befindet sich mitten auf der Kreuzung B.-straße/verlängerter Markt/M.-straße, 5,90 m von dem an der Kreissparkasse entlangführenden Gehweg entfernt und vor der gedachten Verlängerung des südöstlich gelegenen Bordsteines der B.-straße. Der Kläger hatte sich mit seiner Ehefrau an dem Verkehrszeichen vor der Kreissparkasse verabredet, damit sie ihm dort den Wohnungsschlüssel übergeben könnte. Als er diese Stelle erreicht und sich vergeblich nach seiner Ehefrau umgesehen hatte, faßte er den Entschluß, sein Moped wieder in die B.-straße zu schieben, es hinter dem Ende der Kettenabsperrung an der Alten Apotheke abzustellen und dort auf seine Frau zu warten.

Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 6. Oktober 1960 mit der Begründung ab, der Kläger sei während einer Unterbrechung des versicherten Heimweges einer selbst verschuldeten Gefahr im Rahmen einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit erlegen. Das Suchen der Ehefrau mit den Kindern auf dem Markt und in den angrenzenden Straßen habe keinerlei Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit gehabt.

Eine Ausfertigung dieses Bescheides sandte die Beklagte der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis Lingen (AOK) zu.

Gegen diesen Bescheid haben sowohl der Kläger als auch die AOK Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben.

Das SG hat durch Urteil vom 17. Mai 1962 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG u. a. ausgeführt, der Unfall habe sich während einer Unterbrechung des Heimweges ereignet, die auch nicht als geringfügig angesehen werden könne. Der Kläger habe sich in entgegengesetzter Richtung bewegt und wäre ohne das beabsichtigte Vorgehen überhaupt nicht an die Unfallstelle gelangt, sondern hätte den Heimweg auf der rechten Straßenseite der Marienstraße fortgesetzt.

Gegen dieses Urteil haben sowohl der Kläger als auch die AOK Berufung beim LSG Niedersachsen eingelegt. Das LSG hat Termin zur mündlichen Verhandlung in Lingen angesetzt und in Anwesenheit des Klägers die Unfallstelle besichtigt. Durch Urteil vom 22. Oktober 1963 hat es die Berufung gegen das Urteil des SG zurückgewiesen und die Revision zugelassen.

Zur Begründung hat das LSG u. a. ausgeführt:

Der Kläger habe sich bis zur B.-straße eindeutig auf dem geschützten Heimweg befunden. Der weitere Weg bis zur Kreissparkasse habe einem doppelten Zweck gedient, nämlich dem Umschauen nach seiner Ehefrau, um von dieser den Schlüssel zu bekommen, und der Fortsetzung seines Heimweges. Obwohl ersteres eine private Angelegenheit gewesen sei, bleibe der Versicherungsschutz erhalten, weil der Weg immer noch auf dem Heimweg gelegen und dem Erreichen der Wohnung noch wesentlich gedient habe. Als der Kläger den Entschluß gefaßt habe, auf seine Ehefrau an der Burgstraße zu warten, und diesen Entschluß in die Tat umsetzte, habe er sich einer privaten Tätigkeit zugewendet. Dabei handele es sich nicht um einen geringfügigen Abweg, der noch unter Versicherungsschutz gestanden hätte. Denn der Kläger wollte den Bereich der Straße und des Bürgersteiges verlassen und wieder zurück in die Burgstraße gehen, also seinen Heimweg vorerst nicht fortsetzen, sondern auf unbestimmte Zeit unterbrechen. Diese Absicht werde durch Art und Länge der Kettenabsperrung an der Alten Apotheke verdeutlicht. Der Kläger sei auf der Straßenmitte von dem Lkw erfaßt worden, auf die er auf seinem Heimweg wahrscheinlich nicht gekommen wäre. Er habe somit im Augenblick des Unfalls nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden. Die Revision sei zugelassen worden, weil bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden sei, ob die Unterbrechung des Heimweges durch einen Abweg, der im Augenblick des Unfalls noch geringfügig gewesen sei, auch dann als geringfügig und daher rechtlich außer Betracht bleiben könne, wenn der Versicherte nach eigenen Angaben und dem Sachverhalt nach eine Unterbrechung von unbestimmter Zeit und Art beabsichtigt und begonnen habe.

Das Urteil des LSG ist dem Kläger und der AOK am 29. November 1963 zugestellt worden. Der Kläger hat gegen das Urteil am 14. Dezember 1963 Revision eingelegt mit dem Antrage,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des Urteils des SG Osnabrück sowie des Bescheides vom 6. Oktober 1960 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entschädigung wegen des Unfalls vom 3. Mai 1960 zu gewähren.

Am 19. Dezember 1963 haben die Prozeßbevollmächtigten des Klägers die Revision begründet.

Die AOK hat sich den Ausführungen der Prozeßbevollmächtigten des Klägers angeschlossen und auf eine eigene Stellungnahme verzichtet.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ohne mündliche Verhandlung durch Urteil zu entscheiden (§ 124 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

II

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, befand sich der Kläger - nach den nicht mit Rügen angegriffenen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) - bis zum Absteigen vom Moped am Ende der B.-straße auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Wohnung, dessen Zurücklegen mit der versicherten Tätigkeit im Unternehmen der Metallwarenfabrik E. M in rechtlich wesentlichem Zusammenhang und deshalb nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF unter Versicherungsschutz stand. Dieser den Versicherungsschutz begründende ursächliche Zusammenhang wurde auch nicht dadurch rechtlich unwesentlich, daß der Kläger, als er sich, das Moped schiebend, in einem Bogen zur Kreissparkassen-Ecke fortbewegte, damit nicht nur den Zweck verfolgte, dem Endziel des Heimweges näher zu kommen, sondern zugleich auch die Stelle erreichen wollte, an der er sich mit seiner Ehefrau verabredet hatte. Der erkennende Senat stimmt mit dem LSG darüber überein, daß der Kläger auf jeden Fall bis zum Erreichen der Kettenabsperrung vor der Kreissparkassen Ecke unter Versicherungsschutz stand.

Im Zeitpunkt des Unfalls bewegte sich der Kläger aber nicht mehr in Richtung auf das Endziel des Heimweges fort.

Er hätte zu diesem Zweck die M.-straße entlangfahren müssen. Der Kläger wollte vielmehr - nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG - die Straße überqueren, um wieder in die B.-straße zu gelangen, dort sein Moped hinter dem Ende der Kettenabsperrung abstellen und auf seine Ehefrau warten. Der erkennende Senat stimmt mit dem LSG darüber überein, daß der Beweggrund hierfür, nämlich daß der Kläger von seiner Ehefrau den Wohnungsschlüssel erhalten sollte, dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen ist. Daß der Kläger - vermutlich - ohne diesen Schlüssel seine Wohnung nicht hätte betreten können, würde nicht ausreichen, um zum Besorgen des Schlüssels notwendige Maßnahmen unmittelbar dem Zurücklegen des versicherten Heimweges zurechnen zu können und deshalb auch für die zu diesem Zweck erforderlichen Wege einen rechtlich wesentlichen Ursachenzusammenhang mit der versicherten Arbeitstätigkeit zu bejahen.

Der Kläger hatte demnach im Zeitpunkt des Unfalles in das Zurücklegen des Heimweges eine Verrichtung eingeschoben, die nicht unmittelbar das Erreichen der Wohnung bezweckte, sondern vom Zurücklegen des Heimweges sowohl örtlich, d. h. hinsichtlich der Zielrichtung, als auch hinsichtlich des Zweckes abgrenzbar ist. Wie das LSG nicht verkannt hat, ist jedoch nicht jedes Einschieben einer dem Zurücklegen des Heimweges nicht unmittelbar dienenden Tätigkeit rechtlich als eine Unterbrechung des Heimweges zu werten, die zur Folge hat, daß während ihrer Dauer auch der Versicherungsschutz unterbrochen ist. Eine solche Unterbrechungswirkung hat vielmehr nur eine Verrichtung, die nach Art und Umfang auch rechtlich als so wesentlich zu werten ist, daß während ihrer Dauer die Verknüpfungen mit dem Zurücklegen des Heimweges als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund treten. Im einzelnen wird hierzu auf das Urteil des erkennenden Senats vom 28. Februar 1964 (BSG 20, 219 = SozR RVO § 543 aF Nr. 49) Bezug genommen.

Hinsichtlich dieser rechtlichen Wertung der Unterbrechung stimmt der erkennende Senat im vorliegenden Fall mit dem LSG nicht überein. Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, wann die Ehefrau des Klägers an der Unfallstelle eingetroffen ist, so daß schon aus diesem Grunde keine Schlußfolgerungen möglich sind, wie lange die Unterbrechung ohne den Unfall vermutlich gedauert haben würde. Auch fehlt es an genaueren Feststellungen über die Entfernung des in Aussicht genommenen Abstellplatzes für das Moped von der Straßenkreuzung. Doch kann dahingestellt bleiben, ob das LSG, das sich einen unmittelbaren Eindruck von den örtlichen Verhältnissen verschafft hatte, mit Recht aus den Absichten des Klägers und aus "Art und Länge der Kettensperrung an der Alten Apotheke" den rechtlichen Schluß gezogen hat, die beabsichtigte Unterbrechung würde nicht "geringfügig" gewesen sein. Nach der Auffassung des Senats ist vielmehr - neben der Möglichkeit, daß der Kläger seinen Heimweg ohne den Unfall schon nach kurzer Wartezeit wieder fortgesetzt haben würde - der Umstand entscheidend, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls den Bereich der Straßenkreuzung noch nicht verlassen hatte, die er ohnehin auf seinem Heimweg passieren mußte. Im Gegensatz zum LSG ist der erkennende Senat der Auffassung, daß der Versicherungsschutz für das Zurücklegen des Heimweges von der Arbeitsstätte zur Wohnung auch im Unfallzeitpunkt noch nicht unterbrochen war.

Da der Kläger somit für die Folgen des Unfalles vom 3. Mai 1960 Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat, ist seine Revision begründet. Nach den Feststellungen des LSG kann auch unbedenklich davon ausgegangen werden, daß dieser Unfall Folgen gehabt hat, die einen Anspruch auf Entschädigung begründen. Der Senat konnte deshalb in der Sache selbst entscheiden und die Beklagte dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung verurteilen (§§ 170 Abs. 2, 130 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens ergeht aufgrund von § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379734

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