Leitsatz (redaktionell)
Das Versorgen eines Kraftfahrzeuges mit Betriebsstoff ist in der Regel auch dann dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen, wenn das Fahrzeug für das zurücklegen der Wege nach und von der Arbeitsstätte benutzt wird.
Wird die Fahrt von oder zu der Arbeitsstätte durch Tanken unterbrochen, so besteht Versicherungsschutz von dem Augenblick an, in dem der Straßenbereich erreicht wird, der zum normalen Wege von oder zur Arbeitsstätte gehört. Der Aufenthalt auf dem Betonstreifen der linken Fahrbahn ist diesem Straßenbereich zuzurechnen.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Dezember 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Verkehrsunfalls vom 12. Oktober 1960.
Hinsichtlich des Sachverhalts ergeben sich aus dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende Feststellungen: Der Kläger war in L in einem der beklagten Berufsgenossenschaft als Mitglied angehörenden Unternehmen beschäftigt, seine Familienwohnung befand sich in W. . Den Weg zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte, für den er die Bundesstraße 75 benutzte, legte er in der Regel mit einem Moped zurück. Am Unfalltage fuhr er auf der Heimfahrt zur Wohnung in W in eine in seiner Fahrtrichtung auf der linken Straßenseite gelegene Tankstelle ein und tankte dort sein Moped auf. Als er mit dem Moped bereits wieder am Rand der Bundesstraße stand - mit dem Vorderrad auf dem Betonbegrenzungsstreifen der Straße - und darauf wartete, seine Fahrt auf der Bundesstraße fortsetzen zu können, wurde er von einem Motorradfahrer erfaßt, der gegen das Vorderrad des Mopeds fuhr. Hierbei erlitt er einen Schulterblattbruch und einen komplizierten Unterschenkelbruch links.
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche des Klägers durch Bescheid vom 7. April 1961 mit der Begründung ab, der Kläger sei von dem Weg zur Wohnung abgewichen, um sein Moped aufzutanken, dies sei eine private Angelegenheit gewesen. Der Unfall habe sich ereignet, bevor der Kläger auf dem üblichen Weg die Heimfahrt fortgesetzt habe.
Mit der Klage hiergegen hat der Kläger u.a. vorgetragen, das Tanken sei notwendig gewesen, weil ihm der Kraftstoff ausgegangen sei und er sonst seine noch 3 km entfernte Wohnung nicht hätte erreichen können. Außerdem sei die Abweichung vom Wege so geringfügig gewesen, daß sie rechtlich nicht ins Gewicht falle.
Das Sozialgericht (SG) Aurich hat durch Urteil vom 15. September 1961 den ablehnenden Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Folgen des Unfalls Entschädigung zu gewähren. Zur Begründung hat das SG u.a. ausgeführt: Der Versicherungsschutz sei schon deshalb zu bejahen, weil der Kläger sich bereits wieder auf dem Betonseitenstreifen der Fahrbahn befunden habe, der nicht mehr zum Bereich der Tankstelle gehöre. Wenn auch die Behauptung des Klägers, ihm sei unterwegs der Kraftstoff ausgegangen, nicht bewiesen sei, so sei doch nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, daß ein Kraftfahrer erst dann eine Tankstelle aufzusuchen pflege, wenn sein Brennstoff zur Neige gehe. Hierfür habe um so mehr Anlaß bestanden, als der Kläger am anderen Morgen wieder zur Arbeitsstätte hätte fahren müssen, es habe im Interesse des Betriebes gelegen, daß der Kläger am anderen Morgen pünktlich am Arbeitsplatz hätte erscheinen können. Es würde lebensfremde Verkehrsbehinderungen zur Folge haben, wenn man den Versicherten nötigen wolle, sein Kraftfahrzeug so lange zu benutzen, bis der Brennstoff endgültig zur Neige gegangen sei. Die Berufung hiergegen hat das LSG Niedersachsen durch Urteil vom 18. Dezember 1963 zurückgewiesen und die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG u.a. ausgeführt: Der Weg von der Straße zur Tankstelle sei noch als Teil des Heimwegs in seiner Gesamtstrecke anzusehen; denn die Strecke von der Straße zur Tankstelle betrage nur wenige Meter und das Auftanken dauere nur kurze Zeit. Der Aufenthalt an der Tankstelle sei daher zeitlich im Verhältnis zum Gesamtweg von etwa 11 km eine rechtlich nicht ins Gewicht fallende Unterbrechung. Der Versicherungsschutz erstrecke sich auf die gesamte Straße einschließlich beider Bürgersteige. Aber selbst wenn man den geringfügigen Abweg als eine rechtlich erhebliche Unterbrechung ansehe, habe der Kläger den Heimweg wieder erreicht gehabt, da er sich bereits wieder auf der zu seiner Wohnung führenden Straße befunden habe; der Betonstreifen, der zwar durch einen weißen Markierungsstreifen von der Fahrbahn getrennt sei und offensichtlich nicht befahren werden solle, sei noch als Teil der Straße zu betrachten. Der Kläger sei auch einer Gefahr erlegen, die von der von ihm zu befahrenden Straße herrühre. Die Revision sei zugelassen worden, um eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob das nur kurzfristige Auftanken an einer an der Straße gelegenen Tankstelle eine rechtlich nicht ins Gewicht fallende Unterbrechung bedeute und ob innerhalb der für den Heimweg benutzten Straße ein "Versicherungsbann" anzuerkennen sei, der sich auf die gesamte Ausdehnung der Straße einschließlich beider Fahrbahnen und der angrenzenden Betonstreifen erstrecke.
Die Beklagte, der das Urteil des LSG am 9. März 1964 zugegangen ist, hat dagegen am 1. April 1964 Revision eingelegt und sie am 10. April 1964 begründet.
Sie beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
II
Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Wie auch von der Revision nicht bezweifelt wird, stand das Zurücklegen des Weges von der Arbeitsstätte des Klägers in Leer nach seiner Wohnung in W. am Unfalltage nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF (jetzt § 550 RVO) unter Versicherungsschutz. Die Revision ist jedoch der Auffassung, dieser Versicherungsschutz sei im Unfallzeitpunkt noch unterbrochen gewesen, weil der Kläger die für den Heimweg benutzte Bundesstraße 75 verlassen, an der neben der Straße gelegenen Tankstelle sein Moped aufgetankt und den Bereich der Fahrstraße, auf der er seine Fahrt fortsetzen wollte; noch nicht wieder erreicht gehabt habe. Hierbei geht die Revision zutreffend davon aus, daß - wie auch das LSG keineswegs verkannt hat - das Versorgen eines Kraftfahrzeuges mit Betriebsstoff in der Regel auch dann dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen ist, wenn das Fahrzeug für das Zurücklegen der Wege nach und von der Arbeitsstätte benutzt wird (vgl. z.B. BSG 16, 77; auch SozR Nr. 72 zu § 542 RVO aF). Das Aufsuchen der Tankstelle und der Aufenthalt dort können deshalb nicht schon aus diesem Grunde dem versicherten Zurücklegen des Heimweges zugerechnet werden. Der Kläger hat allerdings vorgetragen, er habe tanken müssen, weil er mit dem noch vorhandenen Treibstoff seine Wohnung nicht mehr erreicht haben würde (vgl. hierzu z.B. BSG 16, 245); dieses Vorbringen kann jedoch im Revisionsverfahren nicht der Entscheidung als erwiesen zugrunde gelegt werden, weil das LSG davon abgesehen hat, hierzu Feststellungen zu treffen.
Das LSG hat unterstellt, daß das Tanken dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sei, und ist von diesem Standpunkt aus zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, der Kläger habe in das unter Versicherungsschutz stehende Zurücklegen des Heimwegs eine Verrichtung eingeschoben, die nicht unmittelbar das Erreichen der Wohnung bezweckte, sondern vom Zurücklegen des Heimwegs sowohl hinsichtlich der Zielrichtung als auch hinsichtlich des Zwecks abgrenzbar ist. Es ist jedoch der Auffassung, diese Einschiebung in den Heimweg sei so geringfügig gewesen, daß sie rechtlich nicht wesentlich sei und deshalb keine Unterbrechung des Versicherungsschutzes zur Folge gehabt habe (vgl. hierzu SozR Nr. 28 zu § 543 RVO aF; BSG 20, 219).
Die Revision wendet hiergegen ein, das LSG habe bei seiner rechtlichen Wertung nicht ausreichend berücksichtigt, daß der Kläger nicht nur die Bundesstraße 75 über die in seiner Fahrtrichtung linke Fahrbahn überquert, sondern die Straße vollständig verlassen habe. Sie ist der Auffassung, daß der Versicherungsschutz mindestens bis zum Wiedererreichen der Fahrbahn - und demnach noch im Zeitpunkt des Unfalls - unterbrochen gewesen sei (vgl. hierzu z.B. BSG 22, 7). Es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Fall ausschlaggebende Bedeutung hat oder ob vielmehr eine andere Beurteilung geboten ist, weil die Tankstelle unmittelbar an der Straße liegt und mit ihr durch die dem allgemeinen Kraftfahrzeugverkehr offenstehenden Zufahrten verbunden ist, so daß das Tanken gewissermaßen im Vorbeifahren erledigt werden kann. Das LSG hat, wenn auch nur hilfsweise, zutreffend ausgeführt, daß der Kläger im Augenblick des Unfalls den Bereich der Bundesstraße 75 bereits wieder erreicht hatte. Der erkennende Senat stimmt mit dem SG und dem LSG darin überein, daß der die Straße begrenzende Betonstreifen, auf dem das Moped des Klägers mit dem Vorderrad stand, bereits unmittelbar dem Straßenbereich zuzurechnen ist. Der Kläger verrichtete im Unfallzeitpunkt bereits wieder eine der Fortsetzung des Heimwegs auf der Bundesstraße dienende Tätigkeit; denn er war im Begriff, sich wieder in den Fahrverkehr auf dieser Straße einzuordnen.
Da das LSG das zum Erreichen der Tankstelle und zum Wiedererreichen der in Fahrtrichtung des Klägers rechten Fahrbahn notwendige Überqueren der Bundesstraße ohne Rechtsirrtum als rechtlich unwesentliche Einschiebung in das Zurücklegen des Heimwegs gewertet hat, war der Versicherungsschutz für das Zurücklegen des Heimwegs allenfalls während des Aufenthalts im Gelände der Tankstelle unterbrochen, so daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls auf jeden Fall wieder unter Versicherungsschutz stand.
Da das LSG hiernach die Berufung gegen das Urteil des SG ohne Rechtsirrtum zurückgewiesen hat, ist die Revision unbegründet und war zurückzuweisen (§ 170 SGG).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen