Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung des Halbierungserlasses
Leitsatz (amtlich)
1. Ist bei einem Versicherten zur Behandlung seiner Geisteskrankheit Krankenhauspflege erforderlich, so wird die Leistungspflicht des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte aus sicherheitspolizeilichen Gründen in das Krankenhaus eingewiesen wurde (Fortführung von BSG 1961-12-20 3 RK 51/57 = BSGE 16, 84).
2. Hat eine Körperschaft des öffentlichen Rechts den Klageanspruch schriftsätzlich teilweise anerkannt und der Kläger dieses Anerkenntnis - wenn auch nicht zu gerichtlichem Protokoll -angenommen, so fehlt der Klage insoweit das Rechtsschutzinteresse.
Leitsatz (redaktionell)
Zur Anwendung des Halbierungserlasses:
1. Die KK kann sich nicht auf die Kostenteilung nach dem Halbierungserlaß berufen, wenn sie durch ungerechtfertigte Leistungsverweigerung das Eintreten des Sozialhilfeträgers herbeigeführt hat; in derartigen Fällen besteht gegenüber dem Sozialhilfeträger die Verpflichtung, die Kosten der Anstaltsunterbringung in nachgewiesener Höhe zu erstatten.
2. Eine KK würde die Gewährung stationärer Behandlung eines Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt zu Unrecht verweigern, wenn die stationäre Maßnahme aus medizinischen Gründen erforderlich ist; daß auch Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung die Anstaltsunterbringung notwendig machen und die Einweisung von einer anderen Stelle als der KK vorgenommen worden ist, beeinträchtigt deren Leistungsverpflichtung nicht.
Normenkette
RVO § 184 Fassung: 1911-07-19; SGG § 53 Fassung: 1953-09-03; RAM/RMdIErl 1942-09-05
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. April 1969 und des Sozialgerichts München vom 4. März 1968 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.105,99 DM zu zahlen.
Im übrigen wird die Klage als unzulässig abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der wegen Geisteskrankheit entmündigte Hilfsarbeiter E M (M.) war bis zum 31. März 1964 bei der Firma S B in E beschäftigt und Mitglied der beklagten Krankenkasse. Am 10. April 1964 wurde er durch die Landespolizeiinspektion W aufgrund des Art. 5 des Bayerischen Verwahrungsgesetzes vom 30.April 1952 in das Nervenkrankenhaus des Bezirks O in H eingeliefert, weil er im geistesgestörten Zustand einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Das Amtsgericht München ordnete mit Beschluß vom 14. April 1964 die Verwahrung an. M. befand sich bis zum 2. November 1964 wegen Schizophrenie im Nervenkrankenhaus. Die Kosten der Unterbringung in der hier streitigen Zeit vom 10. April bis zum 20. Oktober 1964, dem Zeitpunkt des Ablaufs der Krankenhilfe nach Abschnitt I Nr. 5 des Erlasses des Reichsarbeitsministers vom 2. November 1943 (AN 1943, 485) bei dem von der Beklagten hier angenommenen Fall eines Anspruchs nach § 214 Abs.1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), betrugen 2.910,- DM zuzüglich 63,24 DM Transportkosten.
Das Nervenkrankenhaus und der Kläger (der Sozialhilfeträger) baten die Beklagte wiederholt, die Kosten des Anstaltsaufenthalts zu übernehmen. Das Nervenkrankenhaus erklärte im Antrag auf Kostenübernahme vom 10. April 1964, daß bei M. ein regelwidriger geistiger Zustand vorliege, der den Aufenthalt erforderlich mache und die Krankenhaus- bzw. Anstaltsaufnahme zur "Heilbehandlung mit Verwahrung" erforderlich sei. Auf Rückfrage der Beklagten bestätigte Obermedizinalrätin Dr. B L am 23. September 1964, daß M. sich wegen Schizophrenie zur Behandlung im Nervenkrankenhaus befinde und daß ein Behandlungsfall, kein Pflegefall vorliege. Mit Schreiben vom 30. Oktober 1964 erklärte sich die Beklagte bereit, im Falle einer Kostenübernahme durch den Kläger diesem Ersatz im Rahmen der §§ 1531 ff RVO in Verbindung mit dem Gemeinsamen Erlaß des Reichsarbeitsministers und Reichsinnenministers vom 5. September 1942 betreffend Beziehungen der Fürsorgeverbände zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bei Unterbringung von Geisteskranken (AN 1942, 490) - sogenannter Halbierungserlaß - zu leisten, lehnte jedoch die Übernahme der vollen Kosten ab. Hierauf übernahm der Kläger die Krankenhaus- und Transportkosten. Die Beklagte überwies dem Kläger am 15. Februar 1965 1.486,62 DM und anerkannte im Klageverfahren in einem Schriftsatz einen weiteren Betrag von 380,63 DM; dieses Anerkenntnis hat der Kläger ebenfalls in einem Schriftsatz angenommen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage auf Zahlung weiterer 1.105,99 DM abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Nach dem Gemeinsamen Erlaß vom 5. September 1942 (AN 1942, 490) hätten der Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der Fürsorgeverband die durch die Unterbringung eines Geisteskranken entstandenen Kosten je zur Hälfte zu tragen, ungeachtet der Gründe, auf denen die Unterbringung beruhe. Dieser Erlaß habe das Ziel, die Verwaltung zu vereinfachen und Ersatzstreitigkeiten zwischen Fürsorgeträgern und Versicherungsträgern auszuschließen; er umfasse alle Fälle, in denen ein Fürsorgeverband die Kosten für die Unterbringung des Geisteskranken getragen habe. Eine Auferlegung der gesamten Kosten auf die Krankenkasse gemäß BSG 16, 84 sei nicht gerechtfertigt, weil die Einweisung des M. nicht wegen notwendiger stationärer Behandlung, sondern wegen Selbst- und Gemeingefährlichkeit nach Art. 5 des Bayerischen Verwahrungsgesetzes erfolgt sei. Dies werde auch durch den Beschluß des Amtsgerichts bestätigt, mit dem die Verwahrung angeordnet worden sei. Auch das Nervenkrankenhaus Haar habe in seinem Antrag auf Kostenübernahme am 10. April 1964 angegeben, die Anstaltsaufnahme sei erforderlich gewesen zur Heilbehandlung mit Verwahrung. Damit sei der Aufenthalt in der Anstalt kein "klarer Behandlungsfall" gewesen. Unter diesen Umständen könne sich die Beklagte auf den Halbierungserlaß berufen, weil zweifelhaft sei, aus welchem Grund die Einweisung in die Nervenheilanstalt in erster Linie erfolgt sei. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen das Urteil Revision eingelegt. Er trägt vor: Sowohl er als auch das Krankenhaus H habe die Beklagte wiederholt gebeten, die Kosten zu übernehmen; es sei dabei eine ärztliche Stellungnahme vorgelegt worden, daß der Krankenhausaufenthalt der ärztlichen Behandlung diene. Trotzdem sei die Beklagte nicht in die Prüfung eingetreten, ob ein Behandlungsfall vorgelegen habe, sondern habe sich nur bereit erklärt, die Kosten gemäß dem Halbierungserlaß zu übernehmen. Ihre Berufung auf den Halbierungserlaß sei daher rechtswidrig.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Bayerischen LSG vom 30. April 1969 und des SG München vom 4. März 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.486,62 DM zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist begründet (soweit es sich um 1.105,99 DM handelt).
Der Senat hat in BSG 9, 112 ausgesprochen, daß der genannte Halbierungserlaß vom 5. September 1942 geltendes Recht sei, soweit nicht die Beteiligten seine Anwendung vertraglich einschränken oder ausschließen. Der Halbierungserlaß gelte in allen Fällen, in denen ein Fürsorgeverband die Kosten der Unterbringung eines gegen Krankheit versicherten Geisteskranken in eine Heil- und Pflegeanstalt getragen habe. Er regele in Verbindung mit den §§ 1531 ff RVO Voraussetzungen und Umfang der Erstattung dieser Kosten im Verhältnis zwischen Fürsorgeverband und Versicherungsträger. Weiter hat der Senat in BSG 16, 84 entschieden, eine Krankenkasse handele rechtswidrig, wenn sie im Hinblick auf den Erlaß die stationäre Behandlung eines geisteskranken Versicherten trotz offensichtlicher Behandlungsbedürftigkeit ablehne; eine Krankenkasse dürfe die Übernahme der Kosten in einem Fall medizinisch notwendiger Krankenhausbehandlung nicht mit der Begründung verweigern, es handele sich um einen Geisteskranken, dessen Betreuung allein Sache des Fürsorgeverbandes sei.
Das LSG hat nun gemeint, mit Rücksicht auf die letztgenannte Entscheidung sei der Anspruch des Klägers nicht begründet. Dem kann nicht zugestimmt werden. Der Senat hat schon in BSG 9, 112, 122 und 16, 84, 88 hervorgehoben, daß der Halbierungserlaß nur im Verhältnis zwischen Fürsorge-(Sozialhilfe-)trägern und Krankenkasse gelte, aber auf die Rechte des Versicherten gegenüber seiner Krankenkasse grundsätzlich keinen Einfluß habe. Diese muß vielmehr in jedem Fall prüfen, ob sie bei einer Einweisung in ein Krankenhaus Krankenhauspflege zu gewähren hat, und zwar ohne Rücksicht darauf, von wem die Einweisung erfolgt ist. Stellt sich bei dieser Prüfung heraus, daß die Krankenhauspflege notwendig war, so darf sie die Übernahme dieser Kosten dem Versicherten gegenüber nicht ablehnen (vgl. BSG 9, 232). Es ist nicht zulässig, bei notwendiger Krankenhauspflege die Übernahme der Kosten abzulehnen, um so den Sozialhilfeträger zum Einschreiten zu zwingen und sich dann an dessen Kosten nur im Rahmen des Halbierungserlasses zu beteiligen. Eine solche Manipulation, die durch eine nach den Vorschriften der RVO sachlich ungerechtfertigte Ablehnung der Krankenhauspflege erst die Voraussetzung für die Anwendung des Halbierungserlasses - nämlich das Eintreten des Fürsorgeträgers - schaffen und damit seine endgültige Beteiligung an der Krankenhauspflege des geisteskranken Versicherten herbeiführen will, stünde im Widerspruch zur Zielsetzung des Halbierungserlasses, der nur bei "eingewiesenen" Geisteskranken, bei denen der Fürsorgeverband als Kostenträger aufgetreten ist, die nachträgliche, häufig schwierige Ermittlung verhütet wissen will, ob die Unterbringung überwiegend im Interesse des Versicherten oder im öffentlichen Interesse lag. Im vorliegenden Fall war die Krankenhauspflege entgegen der Ansicht des LSG notwendig. Wenn auch die Einweisung des M. durch die Polizei und der Beschluß des Amtsgerichts erkennen ließen, daß auch sicherheitspolizeiliche Gründe für die Einweisung in das Krankenhaus bestimmend waren, so enthob das die beklagte Krankenkasse ebensowenig wie im Fall der zwangsweisen Unterbringung eines suchtkranken Versicherten (vgl. Urteil vom 17. Oktober 1969 - 3 RK 82/66 - in SozR § 184 RVO Nr. 23) der Prüfung, ob dem Versicherten Krankenhauspflege zu gewähren ist. Diese Prüfung mußte zur Anerkennung der Leistungspflicht führen. In dem Schreiben des Krankenhauses vom 10. April 1964 heißt es, es liege ein regelwidriger geistiger Zustand vor, der den Krankenhausaufenthalt erforderlich mache, dieser Aufenthalt sei erforderlich zur "Heilbehandlung mit Verwahrung". Noch deutlicher ergibt sich schließlich die Behandlungsbedürftigkeit des M. aus der Antwort des Nervenkrankenhauses Haar vom 29. September 1964 an die Beklagte: M. befinde sich wegen Schizophrenie in Behandlung im Nervenkrankenhaus; es liege ein Behandlungsfall, kein Pflegefall vor. Spätestens in diesem Augenblick hätte die Beklagte die streitigen Kosten übernehmen müssen; ihre Ablehnung war unberechtigt, so daß das angefochtene Urteil aufzuheben war.
Die Klage ist aber nur in Höhe von 1.105,99 DM begründet; in Höhe der weiter geforderten 380,63 DM ist sie unzulässig, weil insoweit das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Die Beklagte hat in ihrem Schriftsatz vom 27. September 1966 diesen Betrag anerkannt. Der Kläger hat daraufhin in seinem Schriftsatz vom 31. August 1967 aufgrund dieses Anerkenntnisses seinen Klageantrag auf 1.105,99 DM beschränkt; er hat also dieses Anerkenntnis angenommen, im Revisionsverfahren jedoch den Klageantrag auf 1.486,62 DM erweitert, weil der von der Beklagten anerkannte Betrag noch nicht gezahlt sei.
Es kann dahinstehen, ob damit der Rechtsstreit nach § 101 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der Hauptsache erledigt ist. Bedenken könnten insofern entstehen, als das Anerkenntnis nicht in ein gerichtliches Protokoll aufgenommen ist, sondern sich Anerkenntnis und Annahme nur aus den Schriftsätzen ergeben, so daß es zweifelhaft erscheint, ob aus ihm gegebenenfalls vollstreckt werden könnte (vgl. § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Die Abgabe und Annahme eines Anerkenntnisses in einem gerichtlichen Protokoll bedarf zwar in ihrer Wirksamkeit nicht der Verlesung und Genehmigung (vgl. BSG vom 16. Juli 1968, SozR SGG § 122 Nr. 8). Des weiteren hat der 9. Senat in einem Urteil vom 21. November 1961 (SozR SGG § 101 Nr. 3) ein in einem Schriftsatz der Versorgungsverwaltung abgegebenes Anerkenntnis - nach ebenfalls schriftsätzlicher Annahme des Klägers - in einem Fall für wirksam angesehen, in dem die Versorgungsverwaltung eine Erhöhung der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 auf 40 v.H. anerkannt hatte. Hier schied die Frage einer Vollstreckung aus diesem Anerkenntnis schon deshalb aus, weil aus ihm keine Vollstreckung in Frage kam. Vielmehr mußte die Versorgungsverwaltung erst aufgrund ihres Anerkenntnisses einen Bescheid erlassen, aus dem sich die nach dem Anerkenntnis neu festzusetzende Rente ergab. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber um einen Zahlungsanspruch, für den die Schriftsätze mit dem Anerkenntnis und der Annahme wohl kaum als Vollstreckungstitel nach § 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG dienen können. Die Frage kann aber für den vorliegenden Rechtsstreit offen bleiben. Auf alle Fälle fehlt es dem Kläger an einem Rechtsschutzinteresse für ein Leistungsurteil über die anerkannten 380,63 DM gegen die Beklagte. Diese ist eine öffentlich-rechtliche Körperschaft. Es kann angenommen werden, daß sie den anerkannten Betrag auch ohne Verurteilung zahlen wird. Eine ausdrückliche Verurteilung erübrigt sich daher, selbst wenn das "Anerkenntnis" in der vorliegenden Form keinen Vollstreckungstitel nach § 199 SGG darstellen könnte. Wie bei Ansprüchen gegen eine Körperschaft des öffentlichen Rechts statt einer an sich notwendigen Leistungsklage eine Feststellungsklage zulässig ist, weil anzunehmen ist, daß eine solche Körperschaft auch ohne Leistungsurteil den Anspruch des Klägers befriedigen wird (vgl. BSG 10, 21 im Anschluß an RGZ 92, 378 und 129, 34), so kann auch hier angenommen werden, daß die Beklagte als Versicherungsträger dem Anerkenntnis nachkommen wird, auch wenn es kein solches im Sinne von § 101 Abs. 2 SGG ist und keinen Vollstreckungstitel nach § 199 SGG darstellt. Anhaltspunkte dafür, daß sie sich dieser Verpflichtung entziehen wird, liegen nicht vor. Die Klage war daher in der Höhe von 380,63 DM mangels Rechtsschutzinteresses als unzulässig abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen