Leitsatz (amtlich)
Die Anrechnung eines infolge Auflösung der Ehe erworbenen neuen Unterhaltsanspruchs auf die wiederaufgelebte Witwenrente entfällt nicht, wenn die Witwe den Unterhaltsanspruch nachträglich nach EheG § 66 verwirkt.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 Fassung: 1957-02-23; EheG § 66 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Februar 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Neufeststellung der wiederaufgelebten Witwenrente; umstritten ist, ob ein bei Scheidung der neuen Ehe erworbener Unterhaltsanspruch der Witwe dann nicht mehr auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen ist, wenn er wegen schwerer Verfehlung der Witwe gegen den unterhaltsverpflichteten ehemaligen Ehegatten verwirkt wurde (§ 68 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbsatz des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -; § 66 Ehegesetz - EheG -).
Die Klägerin erhielt seit 1945 Witwenrente nach dem im Jahre 1944 verstorbenen Versicherten. 1948 heiratete sie den Förster W K (K.). Diese Ehe wurde im November 1961 aus Verschulden des K. geschieden. Die Klägerin hatte nach zivilgerichtlichem Urteil einen Unterhaltsanspruch gegen K. Die Beklagte rechnete in dem Bescheid vom 15. Juli 1963, mit dem sie die wiederaufgelebte Witwenrente bewilligte, den Unterhaltsanspruch von monatlich 80,- DM auf die Witwenrente an. Mit Urteil des Amtsgerichts Maulbronn vom 17. September 1965 wurde die Zahlungsverpflichtung des K. gegenüber der Klägerin aufgehoben, der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen K. wurde nach § 66 EheG wegen einer schweren Verfehlung der Klägerin gegenüber K. als verwirkt angesehen.
Im Dezember 1965 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, ihre Witwenrente ohne Anrechnung des Unterhaltsanspruchs neu festzustellen. Die Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 18. April 1966 ab: Die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs gemäß § 66 EheG könne die Anrechenbarkeit dieses Anspruchs bei § 68 Abs. 2 AVG nicht in Frage stellen, da andernfalls der Versicherungsträger die von der Klägerin verursachte finanzielle Einbuße übernehmen müsse.
Das Sozialgericht (SG) Heilbronn hat entschieden, daß die Beklagte den verwirkten Anspruch nicht mehr bei der Witwenrente absetzen dürfe.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 10. Februar 1970).
Das LSG hat im wesentlichen ausgeführt, die Folge der Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs sei in den Gesetzen über die Rentenversicherung zwar nicht geregelt. Daß eine Erhöhung des Rentenzahlbetrages im Falle der Verwirkung des Unterhaltsanspruchs ausgeschlossen sei, ergebe sich aber aus dem Grundgedanken, der dem Wiederaufleben der Witwenrente zugrunde liege. Aus familienpolitischen Erwägungen solle bei Wiederheirat einer Witwe die Witwenrente nicht endgültig wegfallen und der Rentenanspruch solle wieder aufleben, wenn durch Auflösung der zweiten Ehe der Unterhaltsausfall, der durch den Tod des ersten Ehegatten entstanden sei, wieder hervortrete. Dem Wiederaufleben seien aber Grenzen gesetzt. Nur wenn der Unterhaltsbedarf ohne oder wenigstens ohne überwiegendes Verschulden der Witwe wieder eingetreten sei, solle er durch die wiederauflebende Witwenrente gedeckt werden. Dies entspreche dem Grundsatz, daß die Witwenrente zwar grundsätzlich Unterhaltsersatzfunktion habe, aber nur wegen der durch den Tod des Versicherten entstandenen Unterhaltslücken, nicht auch wegen solcher, die durch das schuldhafte Verhalten der Witwe verursacht seien. Solche Unterhaltslücken habe die Witwe selbst zu tragen. Bei Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nach § 66 EheG beruhe die entsprechende Unterhaltslücke nicht auf dem Tod des Versicherten, sondern wesentlich auf dem schuldhaften Verhalten der Witwe. Diese Lücke zu schließen, sei nicht Aufgabe der Hinterbliebenenrente des § 42 AVG (Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - zum Verzicht auf den neuen Unterhaltsanspruch BSG 19, 153, 156; 21, 279).
Die Klägerin hat Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten zurückzuweisen. Sie rügt eine Verletzung des § 68 Abs. 2 AVG. Sie meint, wenn der Unterhaltsanspruch gemäß § 66 EheG erlösche, sei ein durch die Auflösung der Ehe erworbener Unterhaltsanspruch nicht mehr gegeben. Das habe zur Folge, daß die Höhe des Betrages des Anspruchsverlustes auf die Witwenrente nicht anzurechnen sei. Diese würde sonst ihrer Unterhaltsersatzfunktion nicht mehr gerecht.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die Entscheidung des LSG für zutreffend.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Entscheidung des LSG ist zuzustimmen.
Es kann offen bleiben, ob die Klägerin von der Beklagten überhaupt eine Neufeststellung der mit dem Bescheid vom 15. Juli 1963 festgestellten Rente verlangen kann, obwohl dieser die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs enthaltende Bescheid bindend geworden ist (§ 77 SGG). Sie hat jedenfalls materiell-rechtlich schon deswegen keinen Anspruch auf Neufeststellung der wiederaufgelebten Witwenrente, weil sie ihren Unterhaltsanspruch gegen K. durch eigenes, von ihr zu vertretendes Verhalten verwirkt hat.
§ 68 Abs. 2 AVG zeigt, daß das Gesetz für ein Wiederaufleben der Witwenrente entscheidend auf das Verhalten der Witwe abstellt. So lebt die Witwenrente überhaupt nur wieder auf, wenn die neue Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe gelöst wird (siehe auch SozR Nr. 17 zu § 1291 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Auch die Rechtsprechung hat dem Verhalten der Witwe wesentliche Bedeutung beigemessen. So kann die Witwe durch einen Verzicht auf den Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann oder durch eine Unterhaltsvereinbarung, in der die Höhe des Unterhaltsanspruchs von der Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente abhängig gemacht wird, nicht erreichen, daß ihr die wiederaufgelebte Witwenrente ohne Anrechnung eines neuen, ohne den Verzicht oder die Vereinbarung an sich gegebenen Unterhaltsanspruchs gewährt wird (SozR Nr. 7, 9, 16 zu § 1291 RVO). Dagegen spricht nicht, daß ein nicht zu verwirklichender neuer Unterhaltsanspruch nicht angerechnet wird (SozR Nr. 10, 12, 22 zu § 1291 RVO); denn die Witwe kann den Umstand, daß ein bestehender Unterhaltsanspruch nicht zu verwirklichen ist, nicht durch eigenes Zutun beeinflussen. Die Verwirkung eines Unterhaltsanspruchs hingegen folgt einem Handeln der Witwe. Eine dadurch bedingte Verschlechterung ihrer Unterhaltslage hat sie selbst zu tragen.
Das Gesetz geht von der Subsidiarität der wiederaufgelebten Witwenrente gegenüber dem durch Auflösung der zweiten Ehe erlangten Unterhaltsanspruch aus (SozR Nr. 7, 29 zu § 1291 RVO). Dies besagt, daß die auf den Versicherten bezogene Unterhaltsersatzfunktion der Witwenrente gegenüber der Unterhaltslage zurücktritt, die sich für die Witwe durch die Auflösung der zweiten Ehe ergeben hat. Die vom Gesetz gewollte und festgelegte Rangfolge der Ansprüche kann nur dann ihren Sinn und Zweck erfüllen, wenn sie nicht durch Handlungen der Witwe beseitigt oder geändert werden kann. Deshalb kann im Hinblick auf die Subsidiarität des wiederaufgelebten Witwenrentenanspruchs die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs nicht zur Erhöhung des Zahlbetrages der wiederaufgelebten Witwenrente führen. Die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs ist bei der Anwendung des § 68 Abs. 2 AVG wie der Verzicht auf einen solchen Anspruch zu behandeln. Das Verhalten des unterhaltsberechtigten geschiedenen Ehegatten gegenüber dem verpflichteten ehemaligen Ehegatten muß, um als "schwere Verfehlung" die Verwirkung des Unterhaltsanspruchs herbeizuführen, "verschuldet", also von ihm vertretbar sein (Palandt, BGB, 25. Aufl. Anm. 2 zu § 66 und Anm. 3 a zu § 57, beide §§ des EheG). Dadurch wird ausgeschlossen, daß der Anspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente beeinträchtigt wird, ohne daß die Witwe dies ihrem eigenen Verhalten zuzuschreiben hätte. Das Begehren der Klägerin ist also nicht begründet. Das LSG hat zu Recht den angefochtenen Bescheid als rechtmäßig angesehen.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen