Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf stationäre Tuberkulose-Heilbehandlung entfällt bei Unterbringung in Anstaltspflege unter den in BSHG § 130 genannten Voraussetzungen auch dann, wenn die Anstaltspflege erst während der Heilbehandlung einsetzt (Weiterführung von BSG 1970-02-17 4 RJ 203/68 SozR Nr 14 zu § 1244a RVO).

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 1 Fassung: 1959-07-23, Abs. 2 Fassung: 1959-07-23, Abs. 3 Fassung: 1959-07-23, Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130 Fassung: 1969-09-18, § 135

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. April 1970 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger begehrt von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) Ersatz der Kosten, die ihm als Träger der Sozialhilfe durch die Unterbringung eines tuberkulosekranken Versicherten in eine geschlossene Anstalt für Geisteskranke entstanden sind.

Die Beklagte hatte dem Versicherten bis zum 6. April 1966 wegen einer aktiven Lungentuberkulose wiederholt stationäre Heilbehandlungen gewährt. Von diesem Tage an stellte sie ihre Leistungen ein. Der Versicherte war nämlich in Ausführung eines Beschlusses des zuständigen Amtsgerichts vom 5. April 1966 wegen Geistesschwäche in die geschlossene Abteilung des Westfälischen Landeskrankenhauses W eingewiesen worden. Kurze Zeit später erfolgte seine endgültige Unterbringung in Anwendung des Gesetzes über die Unterbringung geisteskranker, geistesschwacher und suchtkranker Personen im Lande Nordrhein-Westfalen vom 16. Oktober 1956 (GV NW 1956, 300). Die Unterbringung blieb nach der Entmündigung des Versicherten auf Antrag seines Vormundes bestehen. Er wurde in der Anstalt sowohl wegen der Geistesschwäche als auch wegen seiner Tuberkuloseerkrankung behandelt.

Die Beklagte, die dem Versicherten seit dem 1. August 1967 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gewährt, lehnte es ab, die Kosten der Unterbringung - auch soweit sie durch die Tuberkulosebehandlung entstanden sind - zu übernehmen. Der Kläger ist für diese Kosten vorläufig aufgekommen, er ist jedoch der Auffassung, daß sie in ihrer Gesamtheit von der Beklagten zu erstatten seien.

Die Klage ist vom Sozialgericht (SG) abgewiesen worden (Urteil vom 23. Januar 1968), dagegen hatte die Berufung des Klägers Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger die durch die Unterbringung des Versicherten im Westfälischen Landeskrankenhaus Warstein seit dem 6. April 1966 entstandenen Kosten zu erstatten (Urteil vom 8. April 1970).

In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt: Der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sei gegeben. Es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in einer Angelegenheit der Sozialversicherung (§ 51 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). - Die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung stationärer Tuberkuloseheilbehandlung ergebe sich aus § 1244 a der Reichsversicherungsordnung (RVO). Diese Verpflichtung sei auch nach der Unterbringung des Versicherten in der geschlossenen Anstalt bestehen geblieben. Er sei dort wegen der Lungentuberkulose - diese Krankheit habe sogar im Vordergrund gestanden - weiterbehandelt worden. An der Zuständigkeit der Beklagten zur Leistung habe sich nichts geändert (§ 135 des Bundessozialhilfegesetzes - BSHG -). Es sei bereits fraglich, ob man den Versicherten - wie dies in § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO und § 130 BSHG zur Begründung eines Wechsels in der Zuständigkeit gefordert werde - zwangsweise in die Anstalt verbracht habe. Schließlich hätte sein Vormund die Einweisung beantragt, das Vormundschaftsgericht sie genehmigt. Jedoch könne dies auf sich beruhen, weil die Unterbringung nicht auf öffentliche Kosten erfolgt sei. Diese Voraussetzung könne nur bei solchen Personen erfüllt sein, die hilfsbedürftig im Sinne des § 2 BSHG seien. Auf den Versicherten treffe dies schon deshalb nicht zu, weil die Beklagte - wie dargelegt - die Kosten für die Heilbehandlung habe weitertragen müssen.

Mit der Revision rügt die Beklagte, das LSG habe § 1244 a RVO unrichtig ausgelegt. Die Unterbringung des Versicherten in eine geschlossene Anstalt für Geisteskranke habe bewirkt, daß ihre Verpflichtung zur Gewährung stationärer Heilbehandlung entfallen sei. Durch die in § 1244 a Abs. 7 Nr. 3 RVO getroffene Regelung werde die Anwendung des § 135 BSHG ausgeschlossen. Die Unterbringung des Versicherten sei auf öffentliche Kosten erfolgt. Der Kläger habe zu keiner Zeit bestritten, daß der Versicherte außerstande sei, die Kosten der Anstaltspflege zu tragen.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Der Träger der Rentenversicherung ist nach § 1244 a Abs. 1 bis 3 RVO in der Regel verpflichtet, den dort genannten Personen im Falle einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose stationäre Heilbehandlung zu gewähren. Dieser Verpflichtung ist die Beklagte bis zum Tag der Unterbringung des Versicherten in einer geschlossenen Anstalt nachgekommen. Für die Folgezeit kann - entgegen der Auffassung des LSG - dem Anspruch des Versicherten auf stationäre Tbc-Heilbehandlung die Vorschrift des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO entgegenstehen. Dort heißt es, daß bei Unterbringung in Anstaltspflege im Sinne des § 23 des Gesetzes über die Tuberkulosehilfe vom 23. Juli 1959 der Anspruch auf Heilbehandlung nach Absatz 3 (des § 1244 a RVO) entfalle. Nach § 130 BSHG - diese Vorschrift ist an die Stelle des § 23 des Tuberkulosehilfegesetzes getreten - muß es sich um eine Unterbringung wegen Geistesschwäche, Geisteskrankheit, Epilepsie oder Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten handeln (vgl. hierzu BSG in SozR Nrn. 8 und 9 zu § 1244 a RVO). In einem solchen Fall ist dem Tuberkulosekranken Heilbehandlung von dem für die Unterbringung zuständigen Kostenträger zu gewähren. - Daß es bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO zu einer Freistellung des Trägers der Rentenversicherung jedenfalls dann kommt, wenn bei dem bereits wegen Geistesschwäche untergebrachten Versicherten eine Tuberkuloseerkrankung festgestellt wird, ist bereits klargestellt. Für Fälle dieser Art hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, daß selbst dann keine Verpflichtung des Trägers der Rentenversicherung bestehe, wenn der Versicherte wegen der Tuberkulosebehandlung in eine räumlich und organisatorisch von der geschlossenen Anstalt getrennte Heilstätte verbracht werde (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1244 a RVO). Die medizinische Tuberkulosehilfe - so ist dort ausgeführt - werde nach § 130 BSHG der für die Unterbringung zuständigen Stelle auferlegt. Diese Kompetenzverteilung sei zweckmäßig, da sonst - durch die mit der Unterbringung verbundenen Obhutsfunktionen - die Gestaltungsfreiheit des Versicherungsträgers hinsichtlich der Tuberkulosebehandlung in einem nicht zu rechtfertigenden Maße eingeschränkt sei. Der erklärte Wille des Gesetzgebers gehe dahin, daß der Tuberkulosekranke während der Dauer des Heilverfahrens nach Möglichkeit nur von einem Verwaltungsträger Leistungen erhalte. Der Rückgriff auf einen anderen, nach sonstigen Vorschriften in Betracht kommenden Kostenträger solle ausgeschlossen sein. - Die Entscheidung des erkennenden Senats vom 17. Februar 1970 (SozR Nr. 14 zu § 1244 a RVO) führt diese Rechtsprechung fort. Die Betreuung des von der Tuberkulose befallenen Geisteskranken werde demjenigen Verwaltungsträger auferlegt, aus dessen Mitteln die Anstaltspflege des Betroffenen finanziert werde. Aus diesem Grunde müsse der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf stationäre Tuberkulosebehandlung bei Unterbringung in Anstaltspflege wegen Geisteskrankheit auch dann entfallen, wenn Anstaltspflege und Heilbehandlung gleichzeitig begönnen.

Schon diese Erwägungen deuten darauf hin, daß ein entsprechendes Ergebnis auch dann folgerichtig ist, wenn es erst nach dem Auftreten der Tuberkuloseerkrankung zur Anstaltsunterbringung wegen Geistesschwäche kommt. Einer solchen Entscheidung steht die Vorschrift des § 135 BSHG nicht entgegen. Die dort getroffene Regelung findet zwar grundsätzlich auch im Verhältnis zu den Trägern der Rentenversicherung Anwendung; sie gehören zu den sonstigen zur Tuberkulosebekämpfung verpflichteten Stellen im Sinne des § 132 BSHG. Nach § 135 BSHG bleibt die Zuständigkeit eines in § 132 BSHG genannten Leistungsträgers bis zur Beendigung der Heilbehandlung auch dann bestehen, wenn sich nach der Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit die Umstände, welche die sachliche Zuständigkeit begründet haben, ändern. Fälle der vorliegenden Art werden nach dem Sinn, der dieser Vorschrift innewohnt, jedoch von ihr nicht erfaßt. Die einmal begründete Zuständigkeit soll im Interesse einer sinnvollen Tuberkulosebekämpfung erhalten bleiben. Ein solches Verfahren dient dem Erkrankten selbst und kommt auch seiner Umgebung zugute, die vor dieser Krankheit geschützt werden soll (vgl. § 48 Abs. 1 BSHG). Der Erfolg von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen - darum handelt es sich hier - kann bei wechselnder Zuständigkeit in Frage gestellt sein. Deshalb muß in der Regel eine einmal begonnene Behandlung kontinuierlich fortgesetzt werden. Dies ist nur dann ohne die Gefahr einer schädlichen Unterbrechung gewährleistet, wenn dieselbe Stelle die einmal begonnene Behandlung auch zu Ende führen kann. Entscheidend ist aber in diesem Zusammenhang allein die unmittelbare Bekämpfung der Tuberkulose. Sie ist nicht davon abhängig, welcher Verwaltungsträger die Kosten der Behandlung zu tragen hat. An diesen Erwägungen hat sich die Auslegung der Vorschrift des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO zu orientieren, sie bestimmen die Abgrenzung zu § 135 BSHG. Wenn durch § 135 BSHG bezweckt wird, die einmal begründete Zuständigkeit aufrechtzuerhalten, weil die eingeleitete Behandlung nicht unterbrochen werden soll, so findet die Anwendung der Vorschrift dann ihr Ende, wenn der Erkrankte ohnedies in die Obhut einer anderen - ebenfalls zur Tuberkulosebekämpfung berufenen - Stelle genommen werden muß. Eine einengende Auslegung des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO in dem Sinne, daß es für das Entfallen des Anspruchs darauf ankommen soll, in welcher zeitlichen Reihenfolge die Unterbringung und die Tuberkuloseerkrankung zueinander stehen, verbietet sich hiernach. Auch der Wortlaut des Gesetzes bietet keinen Anhalt für eine solche Einschränkung. Beim Vorliegen der übrigen Voraussetzungen soll der Anspruch auf Heilbehandlung nach Abs. 3 des § 1244 a RVO entfallen. Diese Formulierung deutet eher auf einen im konkreten Fall bereits entstandenen Anspruch hin, zumindest läßt sie die Auslegung zu, daß der Gesetzgeber einen solchen Anspruch miterfassen wollte. Für die Anwendung des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO kommt es deshalb nicht darauf an, ob die Tuberkuloseerkrankung erst während der Anstaltsunterbringung auftritt oder ob sie schon vorher bestanden hat. Die Auslegung, die der Senat dem Gesetz gibt, trägt dem Umstand Rechnung, daß § 1244 a RVO den Träger der Rentenversicherung mit Aufgaben belastet, die über das hinausgehen, was sonst im Rahmen der Rehabilitation üblich ist, und daß deshalb weitere, vom Zweck des Gesetzes her nicht erforderliche finanzielle Belastungen dieses Versicherungsträgers vermieden werden sollten (vgl. hierzu das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des Senats vom 29.2.1972 - 4 RJ 417/70). Sie steht nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des BSG vom 19. Oktober 1967 (vgl. SozR Nr. 1 zu § 558 a RVO aF und Nr. 2 zu § 27 TuberkulosehilfeG). Dem dort entschiedenen Fall lag allein eine Tuberkuloseerkrankung - nicht auch eine Geistesschwäche - zugrunde, die zur Asylierung des Erkrankten führte. Es kann offen bleiben, ob für Fälle dieser Art nicht auch die - vom bloßen Wortlaut des Gesetzes her nicht gebotene - Anwendung des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO in Betracht zu ziehen ist.

In dem zu entscheidenden Fall ist der tuberkulosekranke Versicherte wegen Geistesschwäche in Anstaltspflege überführt, also der Obhut der Beklagten entzogen worden. Jedoch sind noch keine Feststellungen darüber getroffen, ob die weitere Voraussetzung dafür, daß die Leistungspflicht der Beklagten entfällt, nämlich die Unterbringung auf öffentliche Kosten, erfüllt ist. Aus diesem Grunde vermag der Senat nicht abschließend zu entscheiden. Der Rechtsstreit muß vielmehr an das LSG zurückverwiesen werden, damit die erforderlichen Tatsachen festgestellt werden können (§ 170 Abs. 2 SGG). Für den Fall, daß der Versicherte - zeitweilig - für die Kosten der Anstaltspflege selbst aufgekommen ist, werden die vom BSG hierzu aufgestellten Grundsätze (vgl. SozR Nrn. 8 und 25 zu § 1244 a RVO) zu beachten sein. Entgegen der in der angefochtenen Entscheidung zum Ausdruck gebrachten Meinung kommt es im Rahmen des § 1244 Abs. 7 Satz 3 RVO nicht darauf an, daß sich der Versicherte gegen seinen Willen in Anstaltspflege befindet.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung durch das LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 189

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