Leitsatz (amtlich)

Der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf stationäre Tuberkuloseheilbehandlung entfällt unter den Voraussetzungen des RVO § 1244a Abs 7 S 3 auch dann, wenn die Unterbringung nicht nur aus einem der dort bezeichneten Gründe, sondern auch wegen der Tuberkuloseerkrankung notwendig ist (Weiterführung BSG 1969-03-11 4 RJ 163/68 = SozR Nr 12 zu § 1244a RVO und BSG 1970-02-17 4 RJ 203/68 = SozR Nr 14 zu § 1244a RVO und BSG 1972-05-26 4 RJ 235/70 = SozR Nr 27 zu § 1244a RVO; Abgrenzung BSG 1973-05-29 4 RJ 303/72 = SozR Nr 34 zu § 1244a RVO).

 

Leitsatz (redaktionell)

Ausschluß der Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei Zwangsasylierung eines Tuberkulosekranken.

Die Anwendung des BSHG § 135, der für den Regelfall der Tuberkulosebekämpfung die Fortdauer der einmal begründeten Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers bei einem Wechsel der sachlichen Zuständigkeit anordnet, ist gemäß RVO § 1244a Abs 7 S 3 (AVG § 21a Abs 7 S 3) ausgeschlossen, wenn der Tuberkulosekranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in einer Anstalt untergebracht wird.

 

Normenkette

RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; AVG § 21a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 135 Fassung: 1969-09-18

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Juni 1972 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Versicherte L wurde in der Zeit von 1950 bis 1966 wegen einer Lungentuberkulose auf Kosten der beklagten Landesversicherungsanstalt stationär behandelt. Im Februar 1966 mußte er wegen Alkoholmißbrauchs aus der Heilstättenbehandlung entlassen werden. Auch in der Folgezeit ließ der Versicherte von dem Alkoholkonsum nicht ab. Das zuständige Amtsgericht ordnete deshalb am 9. Dezember 1966 seine Unterbringung im Niedersächsischen Landeskrankenhaus L an. Zwar wurde er zunächst - zur Weiterbehandlung im Landeskrankenhaus G - aus der Anstaltsunterbringung beurlaubt, jedoch wurde diese Beurlaubung später aufgehoben.

Die Kosten der Behandlung des Versicherten im Niedersächsischen Landeskrankenhaus in L in der Zeit vom 31. Juli bis zum 30. September 1967 trug der Kläger der Sozialhilfe. Er begehrt von der Beklagten die Erstattung dieser Kosten.

Das Sozialgericht hat die Beklagte nur zur Erstattung der am 30. September 1967 - Entlassung des Versicherten aus der Anstalt - entstandenen Kosten verurteilt, im übrigen aber die Klage abgewiesen (Urteil vom 14. Oktober 1970). Durch Urteil vom 14. Juni 1972 hat das Landessozialgericht (LSG) das angefochtene Urteil geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die gesamten Kosten der Unterbringung des Versicherten zu erstatten. Die Anschlußberufung der Beklagten ist zurückgewiesen worden. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat sich an der einmal entstandenen Verpflichtung der Beklagten, dem Versicherten stationäre Heilbehandlung zu gewähren (§ 1244 a der Reichsversicherungsordnung - RVO -) auch durch die Zwangsasylierung des Versicherten nichts geändert. In § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO sei zwar bestimmt, daß bei Anstaltsunterbringung des Versicherten aus den dort bezeichneten Gründen der Anspruch auf stationäre Tuberkulosebehandlung gegen den Träger der Rentenversicherung entfalle. Der Anwendung dieser Vorschrift stehe jedoch § 135 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entgegen; daraus ergebe sich jedenfalls die weitere Fortdauer der Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers. Auf die Gründe, die zur Zwangsasylierung des Versicherten geführt hätten, komme es deshalb nicht an.

Gegen diese Entscheidung wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie ist der Auffassung, daß im Falle der Zwangsunterbringung des Tuberkulosekranken ihre Leistungspflicht entfalle.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.

Der Kläger und die beigeladene Betriebskrankenkasse beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die übrigen Beigeladenen haben in der Revisionsinstanz keinen Antrag gestellt.

Die Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung läßt sich die Entscheidung, daß die Leistungspflicht der Beklagten auch während der Anstaltsunterbringung des Versicherten fortbestanden habe, nicht rechtfertigen.

Die Beklagte hat ihre aus § 1244 a RVO resultierende Verpflichtung, dem Versicherten wegen seiner Tuberkuloseerkrankung stationäre Heilbehandlung zu gewähren, zunächst - in der Zeit von 1950 bis 1966 - erfüllt. Entgegen der Auffassung des LSG ist nicht auszuschließen, daß sie während der Unterbringung des Versicherten von dieser Pflicht freigestellt war. Das Bundessozialgericht (BSG) hat bereits in mehreren Entscheidungen Richtlinien darüber aufgestellt, welche der zur Tuberkulosebekämpfung bestimmten Institutionen die Pflicht zur Tragung der Behandlungskosten dann trifft, wenn der Tuberkulosekranke in einer geschlossenen Anstalt behandelt werden muß. In diesem Zusammenhang ist ausgesprochen worden, daß die einmal begründete Zuständigkeit des Trägers der Rentenversicherung dann erhalten bleibt, wenn allein die Tuberkuloseerkrankung für die Zwangsasylierung des Versicherten ursächlich war (vgl. das Urteil vom 29. Mai 1973 - 4 RJ 303/72 -). Demgegenüber entfällt der Anspruch auf stationäre Heilbehandlung gegen den Rentenversicherungsträger nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO dann, wenn die Anstaltsunterbringung aus den dort genannten Gründen erfolgt. Der Träger der Rentenversicherung wird von der ihm übertragenen Aufgabe der Tuberkulosebekämpfung entbunden für den Fall, daß der Tuberkulosekranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist (vgl. § 130 BSHG). In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, in welchem zeitlichen Verhältnis der Beginn der Tuberkuloseerkrankung zur Unterbringung in Anstaltspflege steht. Die Tuberkuloseerkrankung mag erst nach der Unterbringung des Versicherten oder gleichzeitig mit ihr auftreten oder aber im Zeitpunkt der Unterbringung schon bestanden haben. In allen diesen Fällen wird durch die Regelung des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO die Anwendung des § 135 BSHG - dort wird für den Regelfall der Tuberkulosebekämpfung die Fortdauer der einmal begründeten Zuständigkeit normiert - ausgeschlossen. Die Vorschrift des § 135 BSHG verfolgt in erster Linie den Zweck, im Interesse sowohl des Erkrankten selbst als auch seiner Umgebung die Kontinuität der Behandlung zu gewährleisten. Die zu Beginn der Tuberkulosebekämpfung zuständige Stelle soll, soweit dies immer möglich ist, die von ihr eingeleitete Behandlung bis zum Eintritt des Erfolges fortsetzen. Dieser Zweck kann nicht erreicht werden, wenn der Erkrankte aus anderen Gründen ohnedies aus der Obhut des ursprünglich zuständig gewesenen Trägers der Rentenversicherung entlassen werden muß, diesem also eine unmittelbare Einwirkung auf die Behandlung versagt ist. Diesen Erwägungen trägt § 1244 a Abs. 7 Nr. 3 RVO Rechnung. Der Wille des Gesetzgebers würde keine hinreichende Beachtung finden, wenn auch in den dort genannten Fällen § 135 BSHG anzuwenden und der Träger der Rentenversicherung verpflichtet wäre, die Kosten der Tuberkulosebehandlung zu erstatten. Auf einen solchen finanziellen Ausgleich ist die Vorschrift des § 135 BSHG nicht gerichtet (vgl. hierzu BSG in SozR Nrn. 12, 14, 27 zu § 1244 a RVO). Er mag gleichwohl für solche Fälle unvermeidbar sein, die vom Wortlaut des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO nicht ausdrücklich erfaßt sind, wenn also die Zwangsasylierung allein wegen der Tuberkuloseerkrankung notwendig ist, ohne daß eine Krankheit im Sinne des § 130 BSHG vorliegt (vgl. das bereits zitierte Urteil des BSG vom 29. Mai 1973 - 4 RJ 303/72 -).

Diese Erwägungen verbieten eine enge Auslegung des § 1244 a Abs. 3 RVO, etwa in dem Sinne, daß diese Vorschrift nur dann Anwendung finden könne, wenn einer der in § 130 BSHG genannten Gründe als ausschließliche Ursache für die Unterbringung gelten muß. An dem - bereits dargelegten - Gesetzeszweck hat sich die Interpretation jedenfalls solange zu orientieren, als der Wortlaut des Gesetzes dies zuläßt. Hiernach hält es der Senat für gerechtfertigt, der in § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO getroffenen Regelung den Vorrang auch zuzusprechen, wenn die Tuberkulose und eine Krankheit im Sinne des § 130 BSHG zusammentreffen und auch letztere die Unterbringung in Anstaltspflege erfordert. Auch für diesen Fall kann der Vorschrift des § 135 BSHG keine Bedeutung zukommen. Der Anspruch gegen den Träger der Rentenversicherung auf stationäre Tuberkulosebehandlung entfällt unter den Voraussetzungen des § 1244 a Abs. 7 Nr. 3 RVO also dann, wenn die Unterbringung nicht nur aus einem der dort bezeichneten Gründe, sondern auch wegen der Tuberkuloseerkrankung notwendig ist. - Hiervon ausgehend kann in dem zu entscheidenden Fall nicht offenbleiben, ob bei dem Versicherten eine Suchtkrankheit bestanden hat. Möglicherweise hat eine solche Krankheit zusammen mit der Tuberkuloseerkrankung die Zwangsasylierung des Versicherten als geboten erscheinen lassen.

In dem angefochtenen Urteil ist von der "Trinkleidenschaft" des Versicherten die Rede. Nach den bisherigen Feststellungen ist nicht auszuschließen, daß darunter eine echte Alkoholsucht und damit eine Suchtkrankheit im Sinne des § 130 BSHG zu verstehen ist. In diesem Zusammenhang kann nicht allein auf die Gründe des Unterbringungsbeschlusses abgestellt werden. Auch dann, wenn in dieser Entscheidung die Tuberkuloseerkrankung allein in den Vordergrund gerückt ist, wird zu prüfen sein, ob nicht gleichwohl auch eine Suchtkrankheit in dem vorbezeichneten Sinne die Notwendigkeit der Unterbringung des Versicherten in Anstaltspflege herbeigeführt hat. Das LSG wird die in diesem Zusammenhang notwendigen Feststellungen zu treffen und sodann - unter Beachtung der dargelegten Gesichtspunkte - neu zu entscheiden haben.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669260

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