Leitsatz (amtlich)

Eine (Schul- oder) Berufsausbildung ist durch Erfüllung der Wehrdienstpflicht verzögert worden, wenn der Berechtigte ohne Ableistung des Wehrdienstes seine Ausbildung bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres beendet haben würde.

 

Normenkette

RVO § 1267 S. 3 Fassung: 1964-04-14

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. Mai 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird um die Frage geführt, ob dem Kläger über das 25. Lebensjahr hinaus Waisenrente zu gewähren ist, weil seine Berufsausbildung durch Erfüllung der gesetzlichen Wehrpflicht verzögert worden sei (§ 1267 Satz 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Der Kläger ist am 11. August 1943 geboren. Bis 1962 war er in der Vermessungstechnikerlehre. Zugleich und noch danach besuchte er bis September 1963 eine Abendschule. Dort erwarb er die Fachschulreife. In den darauf folgenden ersten Monaten arbeitete er als Vermessungstechniker. Von Januar 1964 bis Mitte 1965 leistete er Wehrdienst. Danach wandte er sich zunächst wieder für acht Monate der Tätigkeit eines Vermessungstechnikers zu. Im März 1966 nahm er das Studium an einer Fachhochschule auf.

Die Waisenrente aus der Rentenversicherung seines Vaters erhielt er bis August 1968. Die Beklagte lehnte es jedoch ab (Bescheid vom 21. November 1968), ihm die Rente noch zu gewähren, nachdem er älter als 25 Jahre geworden war. Sie meinte, da der Kläger vor und nach dem Wehrdienst berufstätig gewesen sei, könne durch diesen Dienst die Ausbildung nicht verzögert worden sein.

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Waisenrente für die weitere Ausbildungszeit vom 1. September 1968 bis 31. Januar 1969 zu zahlen (Urteil des SG Dortmund vom 28. Januar 1970; Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 11. Mai 1971). Das Berufungsgericht hat angenommen, der Wehrdienst habe wesentlich zum Aufschub der Ausbildung beigetragen. Der Kläger habe sein Fachschulstudium planmäßig vorbereitet, beginnend mit der Lehre, fortgesetzt mit dem Besuch der Abendschule und untermauert mit einer praktischen Berufserfahrung von etwa einem Jahr, während der er sich außerdem Geldmittel für die Durchführung des Studiums verschafft habe. In die Zeit der entgeltlichen Beschäftigung habe sich die Wehrdienstzeit eingeschoben. Ohne diese Zwischenperiode hätte der Kläger - so hat das LSG ausgeführt - noch vor seinem 25. Geburtstag sein Studium beenden können; seine Ausbildungszeit wäre in vollem Umfange vom Bezuge der Waisenrente begleitet gewesen. Daran dürfe sich durch die Ableistung des Wehrdienstes nichts ändern. - Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen, weil es sich nicht sicher war, ob es von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. Juli 1970 - 12 RJ 36/70 - SozR Nr 40 zu § 1267 RVO - abgewichen sei.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Ihres Erachtens fehlt es an der ursächlichen Verknüpfung zwischen der Wehrdienstzeit des Klägers und einem Zeitverlust bei seiner Ausbildung. Der Kläger habe mit dem Studium nicht eher begonnen, weil er Geld habe verdienen und seine Berufskenntnisse habe auffrischen wollen. Auf den Wehrdienst sei es jedenfalls nicht allein zurückzuführen, daß der Kläger seine Ausbildung nicht eher abgeschlossen habe. Satz 3 des § 1267 RVO sei nach der erkennbaren Konzeption des Gesetzes als Ausnahme von Satz 2 dieser Vorschrift anzusehen. Das besage, jenseits der - in der Regel äußersten - Altersgrenze dürfe die Waisenrente nur gewährt werden, wenn der Wehrdienst die ausschlaggebende und alleinige Ursache für das spätere Ausbildungsende sei. Im übrigen hätte das LSG von seiner Auffassung her die Vermögensverhältnisse des Klägers klären und Ermittlungen darüber anstellen müssen, wie er sein Studium finanziert habe, sowie ob er die Voraussetzungen für eine Ausbildungsförderung erfüllt hätte.

Die Revision ist unbegründet. Dem Berufungsgericht ist darin beizupflichten, daß dem Kläger die Waisenrente für diejenige Zeit zusteht, in der er noch nach der Vollendung seines 25. Lebensjahres die Fachhochschule besuchte.

Die Berufsausbildung ist durch die Erfüllung der Wehrdienstpflicht verzögert worden (§ 1267 Satz 3 RVO). Davon ist auszugehen, obgleich der Kläger nicht unmittelbar nach Ableistung des Militärdienstes das Studium aufnahm, sondern zunächst - und zwar aus eigenem Entschluß - für acht Monate einer Erwerbstätigkeit nachging. Der unmittelbare zeitliche Anschluß der Ausbildung an den Wehrdienst wird nicht verlangt (BSG SozR Nr 40 zu § 1267 RVO). Allerdings ist der Beweggrund, aus dem heraus der Kläger in ein Arbeitsverhältnis eintrat und sich nicht sogleich seinem Studium zuwandte, nämlich daß er zuerst Geld verdienen und praktische Berufserfahrung sammeln wollte, für die Rentenberechtigung unbeachtlich. Maßgeblich ist vielmehr, daß der Kläger ohne die Einberufung zur Bundeswehr bis zum Ablauf des 25. Lebensjahres seine Berufsausbildung hätte abschließen können. Bei diesem Sachverhalt, den das Berufungsgericht - von der Beklagten unbeanstandet - festgestellt hat, erweist sich die Dienstpflicht des Klägers als das für die zeitliche Einbuße relevante Kriterium.

Das Berufungsgericht hat dieses Ergebnis gewonnen, indem es den Wehrdienst des Klägers als wesentlich dafür angesehen hat, daß dieser sein Ausbildungsziel nicht früher erreichte. Dazu meint das Gericht, die Tatsache, daß der Kläger seiner Wehrpflicht nachgekommen sei, brauche nicht allein den Fortgang der Ausbildung gehemmt zu haben. Es genüge, daß dieser Umstand ausschlaggebend, wenn auch neben anderen Gründen, den Ausbildungsweg gestört habe. Diese Entscheidung leitet das Berufungsgericht von der Lehre der rechtlich wesentlichen Bedingung her; es übernimmt sie auch für das Recht der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. BSG 30, 167, 178). - Ob dieser Theorie in bezug auf die hier anzuwendende Vorschrift des § 1267 Satz 3 RVO allgemein zu folgen ist, kann auf sich beruhen. Dafür läßt sich anführen, daß die wechselseitige Bedingtheit von Dienstleistung in der Wehrmacht und einem weiteren Zeitbedarf für die Ausbildung nicht stets sicher und exakt darzutun ist. Schwierigkeiten werden besonders auftreten, wenn die Ausbildung nicht nahtlos dem Wehrdienst vorangeht oder folgt. Dies ist aber - wie erwähnt - nach dem Gesetz nicht geboten. Mit Rücksicht hierauf mag es angezeigt sein, die erleichterten Anforderungen genügen zu lassen, die aus der Kausalitätsnorm der wesentlichen Bedingung folgen. Im gegenwärtigen Streitfalle ergibt sich indessen dasselbe Ergebnis aus einer anderen Erwägung.

Die Anspruchsberechtigung einer Waise ist nach der Vollendung des 18. Lebensjahres bis zur Vollendung des 25. lediglich davon abhängig, daß sie sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Wer zwischenzeitlich Wehrdienst leistet und sich noch nach dem genannten Lebensalter auf den künftigen Beruf vorbereitet, ist jedoch nur rentenberechtigt, wenn sich der Wehrdienst auf seine Ausbildungszeit nachteilig ausgewirkt hat. Es wird für die Zeit nach Vollendung des 25. Lebensjahres ein genaueres Eingehen auf den Lebensweg des jungen Menschen vorgeschrieben; zusätzlich muß das erwähnte Kausalitätsmerkmal erfüllt sein. Dem Inhalt der Vorschrift ist nicht unvermittelt zu entnehmen, welchen Zweck der Gesetzgeber mit dieser verschärfenden Anordnung verfolgt hat. Einen Fingerzeig geben hierfür die Gesetzesmaterialien. § 1267 Satz 3 RVO geht auf § 36 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) zurück. Er entspricht § 2 Abs. 2 Satz 3 BKGG vom 14. April 1964. Sowohl dort als auch in § 1267 Satz 3 RVO ist der Wehrdienst als Anlaß für das Hinausschieben des Ausbildungsabschnitts allgemein vorgesehen. In der Begründung zum Gesetzesvorschlag (Bundestagsdrucksache IV/818 S. 13) heißt es jedoch: "Kinder, die Wehrdienst ... geleistet haben, sollen noch nach Vollendung ihres 25. Lebensjahres als Kinder berücksichtigt werden ...". Der Grundtatbestand für die Leistungsberechtigung sollte danach schlechthin ausgeweitet werden. Lediglich für die Bemessung der verlängerten Leistungsbezugszeit wurde das Merkmal der Ursächlichkeit angeführt. Dazu heißt es im Text der Begründung zum Gesetzentwurf, daß diejenigen, die ihre Zeit dem Staat geopfert haben, noch jenseits der ersten 25 Lebensjahre als Kinder gelten, "und zwar für den Zeitraum, um den ihre Ausbildung durch den Wehrdienst ... verzögert worden ist". Dies bedeutet, die fixe Zeitschranke - Vollendung des 25. Lebensjahres - wird nicht um eine ein für allemal festgelegte Frist oder einfach um die allgemeine Dauer des Wehrdienstes hinausgeschoben, sondern es wird eine bewegliche, den Einzelfallgegebenheiten anpaßbare Grenze gesetzt. Dadurch wird der gesetzliche Maßstab verschärft. Dem einzelnen steht nicht - wie vorher - eine Zeitspanne zur Verfügung, die er beliebig für Ausbildungszwecke nutzen kann. Vielmehr hat er für diesen Zweck nur soviel Zeit, wie ihm davon vorher infolge hoheitlichen Eingriffs genommen worden ist. Freilich können die vorher geopferte und die nachher gutzubringende Zeit strenger oder lockerer miteinander verkettet werden, je nachdem, wie hoch man die Anforderungen an den direkten Bezug zwischen Wehrdienst und Ausbildungsfehlzeit schraubt. Erwartete man den Nachweis einer strikten Verschränkung von beidem, so hätte man es möglicherweise mit einem auffallenden Unterschied in den tatbestandlichen Voraussetzungen zu tun. Für die Frist nach der Vollendung des 25. Lebensjahres wäre dem Jugendlichen nicht die gleiche Freiheit in seiner Lebensgestaltung eingeräumt wie für den voraufgegangenen Zeitabschnitt. Für diesen gilt die Regelung, daß der einzelne sich nach seinem Gutdünken bilden und auf einen künftigen Beruf vorbereiten kann. So wirkt es sich zB nicht nachteilig aus, wenn der junge Mensch nach ersten tastenden Schritten das Berufsziel und damit den Ausbildungszweig wechselt oder wenn er sich nach dem Eintritt in das Berufsleben nachträglich zum Studium oder zum Erwerb der Qualifikation für eine höhere Berufsstufe oder zur Ausbildung für einen neuen Beruf entschließt (vgl. Verwaltungsvorschriften Nr 11 zu § 33 b des BVG). Es muß also nicht ein von vornherein angesteuertes, konkretes, fest umrissenes Berufsziel unverändert beibehalten werden (vgl. BSG 27, 16, 18; ferner: Bundesfinanzhof, Der Betrieb 1971, 1189). Solange die Ernstlichkeit und Vernünftigkeit des jeweiligen Vorhabens nicht zu bezweifeln ist, werden Zeiten der Ausbildung von öffentlich-rechtlichen Leistungen begleitet. Verlangt man aber eine enge Verflechtung von wehrdienstbedingtem Zeitverlust und Ausbildungszeit, so setzt man ein relativ hohes Maß von Gradlinigkeit und Kontinuität in der Planung und Durchführung der Ausbildung voraus. Ein solch strenger Maßstab würde aber einen Bruch mit der sonst vertretenen, oben beschriebenen Linie bedeuten. Daß dies beabsichtigt sei, ist nicht zu erkennen und nicht aus Gründen des privaten oder öffentlichen Interesses zu unterstellen. Deshalb erscheint eine elastische Rechtsanwendung angebracht. Das zu fordernde Maß an ursächlichem Zusammenhang zwischen Wehrdienst und späterem Ausbildungsende ist gewahrt, wenn der Jugendliche, ohne daß er den Wehrdienst hätte ableisten müssen, seine Ausbildung wahrscheinlich noch vor seinem 26. Lebensjahr beendet hätte. - So liegt es im Falle des Klägers.

Der gegenwärtige Sachverhalt unterscheidet sich durch diese Besonderheit von demjenigen, den der 12. Senat des BSG (SozR Nr 40 zu § 1267 RVO) zu beurteilen hatte.

Die Vorinstanzen haben richtig entschieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669296

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