Leitsatz (amtlich)

1. Ist die Ersatzforderung eines Landes - als Träger der Kriegsopferfürsorge (BVG § 27e) - bis zur Erschöpfung des Anspruchs auf Rentennachzahlung befriedigt worden, so ist eine weitere - aus BVG § 71b hergeleitete, mit der Behauptung des Rechts auf Vorabbefriedigung erhobene - Ersatzforderung dieses Landes unbegründet.

2. Die zu Unrecht aus prozessualen Gründen ausgesprochene Klageabweisung kann von dem Revisionsgericht aus sachlichen Gründen aufrechterhalten werden, wenn die Klage nicht schlüssig und die Möglichkeit auszuschließen ist, daß sie schlüssig werden könnte (Anschluß an BSG 1963-12-11 5 RKn 39/62 SozR Nr 30 zu § 51 SGG).

 

Normenkette

BVG § 27e Fassung: 1966-12-28, § 71b Fassung: 1950-12-20; SGG § 170 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. November 1971 wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat dem Beigeladenen die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) bewilligte dem Beigeladenen - Versicherten - rückwirkend für fünf Jahre - vom 1. Januar 1960 an - die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Bescheid vom 6. Dezember 1965). Die verbliebene Nachzahlung verwendete sie u.a. zur Ablösung einer Ersatzforderung des Niedersächsischen Landessozialamtes. In dessen Auftrag waren dem Beigeladenen Leistungen der Kriegsopferfürsorge (§§ 25 ff des Bundesversorgungsgesetzes - BVG -) gewährt worden. Zugleich hatte der Beigeladene Versorgungsbezüge erhalten. Deswegen erhob das Landesversorgungsamt Niedersachsen ebenfalls einen Ersatzanspruch (§ 71 b Satz 1 BVG). Diesen erfüllte die Beklagte bis zur Erschöpfung der Rentenrückstände, und zwar bis auf eine Restforderung von 4 151,80 DM.

Das Land Niedersachsen hat Klage erhoben. Diese hat es damit begründet, daß der Forderungsübergang auf den Träger der Kriegsopferversorgung Vorrang habe vor der Anspruchsüberleitung auf den Sozialhilfeträger.

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage wegen mangelnden Rechtsschutzinteresses als unzulässig abgewiesen (Urteil des SG Hannover vom 8. Juli 1970; Urteil des LSG Niedersachsen vom 3. November 1971). Der Kläger strebt ihres Erachtens die Verurteilung der Beklagten zu einer Leistung an, die er bereits erhalten hat; denn das Landesversorgungsamt und das Landessozialamt seien - ohne eigene Rechts- und Parteifähigkeit - Behörden desselben Landes. Dieses sei Gläubiger sowohl der einen als auch der anderen Ersatzforderung. Es sei nicht Sache der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, nachträglich zu klären, welche dieser Forderungen als erste zu befriedigen gewesen wäre. An der Gläubigerfunktion des Landes sei nicht deshalb zu zweifeln, weil Beträge, die dem Land aus der Durchführung des BVG zuflössen, dem Bund zu erstatten seien (§ 21 des Ersten Überleitungsgesetzes idF vom 28. April 1955, BGBl I 193). Von dieser internen Verrechnungspflicht zwischen Land und Bund werde die Rechtsstellung des Landes nach außen hin nicht berührt. Außerdem könne die Frage, welche Ersatzforderung als abgegolten anzusehen sei, innerdienstlich durch eine Verfügung des Niedersächsischen Sozialministers beantwortet werden. Seiner Dienstaufsicht und Weisungsbefugnis unterstünden Landesversorgungsamt und Landessozialamt. Wegen seiner Entscheidungsbefugnis sei eine Leistungsklage entbehrlich.

Der Kläger hat Revision eingelegt. Er beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn 4 151,80 DM zu zahlen. Er meint, das Berufungsgericht nehme fälschlich an, der Träger der Kriegsopferfürsorge sei identisch mit dem Träger der Versorgung. In der letzten Funktion trete das Land nur äußerlich als Berechtigter im Sinne des § 71 b BVG auf. Die Ersatzforderung stehe dem Bund zu (so: § 4 Abs. 2 des Rentenkapitalisierungsgesetzes - KOV - vom 27. April 1970, BGBl I 413). Über die Forderungen des Bundes habe das Land Nachweisungen zu führen. Diese würden von dem Bundesrechnungshof überwacht. Auch den gegenwärtigen Rechtsstreit führe das Land nur in Prozeßstandschaft für den Bund. Diese Sach- und Rechtslage bedinge ein Auseinanderhalten von Erstattungsansprüchen der Fürsorgeträger und der Versorgungsträger.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat keinen Erfolg.

Die Vorinstanzen haben sich bei der Entscheidung, daß die Klage abzuweisen sei, von Überlegungen leiten lassen, denen im wesentlichen zuzustimmen ist. Indessen folgt aus diesen Erwägungen nicht, daß es dem Kläger an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehle. Vielmehr ist die Klage sachlich nicht begründet. Der Kläger hat - nach den unbeanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts - aus der Rentennachzahlung alles erhalten, was daraus zur Erfüllung seiner Ersatzansprüche zur Verfügung gestellt werden konnte. Über die ausgezahlte Summe hinaus ist die Beklagte zur Leistung nicht verpflichtet. Welche Ersatzforderung mit Vorrang einzulösen war, ist für den Ausgang dieses Rechtsstreits gleichgültig; denn in jedem Falle war der Kläger, wie noch zu zeigen ist, der Empfangsberechtigte. Entweder handelte die Beklagte, indem sie das rückständige Rentenaufkommen voll an den Kläger überwies, mit schuldbefreiender Wirkung, oder ihr steht gegen die Klageforderung der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung zur Seite. Bei einem solchen Mangel besteht kein Anlaß, das Interesse an einer Sachentscheidung zu verneinen. Durch die Prozeßvoraussetzung des Rechtsschutzinteresses soll eine unnötige Inanspruchnahme der Gerichte vermieden werden. Fällt aber die Prüfung der prozessualen Vorfrage mit der Entscheidung in der Hauptsache zusammen, so ist die Erörterung des Rechtsschutzbedürfnisses als Prozeßvoraussetzung nutzlos (vgl. Pohle, Festschrift für Lent 1957, 195, 206).

Für die Entscheidung in der Sache selbst ist es erheblich, daß das Land sowohl in bezug auf die eine als auch auf die andere Ersatzforderung, also nach § 27 e BVG und nach § 71 b BVG berechtigt war, die Leistung im eigenen Namen in Empfang zu nehmen. Damit stimmte die Befugnis der Beklagten überein, jeder der in Betracht kommenden Forderungen ungeachtet ihres - zueinander bestehenden - Rangverhältnisses nachzukommen.

Die Empfangsberechtigung des Landes hängt nicht notwendig davon ab, daß ihm für jeden der miteinander konkurrierenden Ansprüche die Gläubigerstellung zukommt. Dafür ist es erst recht nicht ausschlaggebend, wer die finanziellen Aufwendungen für die Kriegsopferversorgung und für die Kriegsopferfürsorge zu tragen hat und wem demgemäß im Effekt die damit zusammenhängenden Geldeinnahmen gutzubringen sind (§ 21 des Ersten Überleitungsgesetzes). Die Mittel für die Versorgungsleistungen nach dem BVG hat allerdings der Bund bereitzustellen (§ 1 Abs. 1 Nr. 8 des Ersten Überleitungsgesetzes). Dagegen werden die Ausgaben für die Kriegsopferfürsorge nach den §§ 25 bis 27 e BVG zu 80 v.H. vom Bund und zu 20 v.H. von den Ländern bestritten (§ 1 Abs. 1 Nr. 8 des Ersten Überleitungsgesetzes idF des Artikels 5 § 1 des 2. Neuordnungsgesetzes vom 21. Februar 1964, BGBl I 85, 99). Daß der Bund diese Kriegsfolgelasten ganz oder zum Teil zu tragen hat (Art. 120 des Grundgesetzes - GG -), bedeutet jedoch lediglich, daß er letztlich zu zahlen hat, aber nicht, daß er auch die Kompetenz für die Bewirtschaftung der bereitgestellten Mittel, m.a.W. die Verantwortung für die Ausgaben und Einnahmen hat. Diese Aufgabe haben die Länder (BVerfG 9, 305, 317; BGH NJW 1959, 1726). Die Rechts- und Pflichtenstellung der Länder folgt daraus, daß sie Bundesgesetze "als eigene Angelegenheit" (Art. 83, 84 GG) oder im Auftrage des Bundes (Art. 85 GG) ausführen. Auf den hier in Betracht kommenden Gebieten - Kriegsopferfürsorge und Kriegsopferversorgung - mag die Vollzugshoheit der Länder unterschiedlich zu beurteilen sein; mal mag es sich um eine originäre Landesexekutive, so z.B. in bezug auf die Kriegsopferfürsorge handeln (dazu hier: das Niedersächsische Gesetz zur Durchführung der Kriegsopferfürsorge vom 5. April 1963, Niedersächsisches GVBl 1963, 224; aber auch für die Zeit vom 1. Januar 1970 an: Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 GG), mal mag man es mit einer Auftragsverwaltung zu tun haben. In bezug auf die Kriegsopferversorgung wird von einer eigenen Angelegenheit der Länder ausgegangen (BSG 9.5.72-8 RV 611/71; zu letzterem ferner: einerseits Hennig, Die Kriegsopferversorgung - KOV - 1961, 97, andererseits mit dem Hinweis auf die §§ 81, 81 a BVG König, Bayerische Verwaltungsblätter - Bay VBl. - 1972, 85 ff). Demgemäß mag auch die Gläubigerposition für die hier behandelten Ersatzansprüche in jedem Falle dem Land zuzuschreiben sein. Dies kann aber dahingestellt bleiben; denn selbst wenn der Bund Gläubiger der Ersatzforderung nach § 71 b BVG sein sollte, so wäre gleichwohl diese Bundesforderung vom Land - nach außen hin maßgeblich - zu verwalten (vgl. § 21 Abs. 1 des Ersten Überleitungsgesetzes; ebenso König Bay VBl 1972, 89).

Es war also in der Macht des Landes zu bestimmen, auf welche der Ersatzforderungen die Rentennachzahlung zu verrechnen war. Konnten sich die beiden mit der Angelegenheit befaßten Ämter nicht einigen, so war es ihre Aufgabe, eine Entscheidung der ihnen gemeinsam übergeordneten Verwaltungsstelle herbeizuführen. Auf diesen Weg sind sie - wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat - auch jetzt noch zu verweisen. Diese Art der Klärung des Konkurrenzstreits ist nicht nur einfacher, weniger zeitverzehrend als die von dem Kläger eingeleitete gerichtliche Rechtsverfolgung, sie allein steht dem Kläger zur Verfügung. Denn entweder ist die Ersatzforderung nach § 27 e BVG zutreffend vorab getilgt worden und damit der Klaganspruch überhaupt unbegründet oder dem Klagebegehren steht entgegen, daß der Kläger den geforderten Geldbetrag alsbald zurückzuerstatten hätte (§ 242 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Dem darauf gestützten Einwand der unzulässigen Rechtsausübung kann nicht damit begegnet werden, daß die Forderungen mehrerer öffentlicher Kassen getrennt, jede für sich abzurechnen sind. In diese Richtung könnte § 395 BGB weisen; nach dieser Vorschrift wird die Aufrechnung gegen eine öffentlich-rechtliche Forderung nur zugelassen, wenn die Leistung an dieselbe Kasse zu erfolgen hat, aus der die Forderung des Aufrechnenden zu berichtigen ist. Hier dürfte freilich eine solche Kassenidentität nicht gegeben, vielmehr anzunehmen sein, daß jedes Ressort eine eigene Kasse unterhält. Dennoch steht der aus § 395 BGB abzuleitende Gedanke dem Klaganspruch nicht zur Seite. Der Zweck des § 395 BGB könnte nicht erreicht werden. Diese Vorschrift bedeutet eine Durchbrechung des Grundsatzes der fiskalischen Kasseneinheit (RGZ 82, 232, 236). Mit ihr soll eine Verwirrung im öffentlichen Kassen- und Rechnungswesen verhütet werden. Diese Verwirrung wird für den Fall befürchtet, daß die eine Kasse infolge der Aufrechnung eine Einnahme entbehren würde, die ihr bestimmungsgemäß zufließen sollte, während die andere Kasse eine ihr obliegende Ausgabe nicht vorzunehmen hätte. Deshalb könnte zwischen den Kassen ein Ausgleich mit mehrfachen Umbuchungen in den Kassenbüchern stattzufinden haben. Dies soll mit dem - die Aufrechnung einschränkenden - Privileg der öffentlichen Hand vermieden werden. Im gegenwärtigen Streitfalle wäre aber, unterstellt, die Klage dränge durch und die beklagte LVA müßte als Folge davon ihrerseits den vorher an den Kläger - Landessozialamt - überwiesenen Geldbetrag zurückfordern, die reibungslose Kassenverwaltung, in deren Interesse § 395 BGB geschaffen worden ist, gerade besonders gestört.

Hiernach ist die Klage unbegründet. Dies kann das Revisionsgericht aussprechen, obgleich die Vorinstanzen die Klage als unzulässig abgewiesen haben. Mit dem Rechtsmittel ist dem Bundessozialgericht (BSG) die Zuständigkeit zur weiteren Verhandlung zugefallen. Das Rechtsmittelgericht hat infolgedessen über alle den geltend gemachten Anspruch betreffenden Streitpunkte zu befinden, über die nach den Prozeßanträgen entschieden werden muß, und zwar selbst, wenn über diese Streitpunkte im voraufgegangenen Rechtsgang nicht entschieden worden ist. Mithin hat das Rechtsmittelgericht, falls es entgegen der Vorinstanz den rein verfahrensrechtlichen Abweisungsgrund mißbilligt, in der Sache selbst zu entscheiden. Dies gilt auch für das Revisionsgericht (§ 170 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; BSG SozR Nr. 30 zu § 51 SGG; ebenso BVerwG MDR 1964, 346; Samml BVerwG Nr. 2 zu 402. 44 VersG). Diese Rechtsfolge muß der Rechtsmittelkläger, der eine sachliche Prüfung seines Vorbringens wünscht, in Rechnung stellen. Er kann deshalb in einer Entscheidung wie dieser keine unstatthafte Änderung des angefochtenen Urteils zu seinem Nachteil sehen. - Ein Zwang zur Zurückweisung an das Berufungsgericht bestünde, wenn die Möglichkeit ins Auge zu fassen wäre, daß der vom Kläger erhobene Anspruch durch Einführung eines neuen Prozeßstoffs schlüssig und gerechtfertigt werden könnte. Für eine solche Möglichkeit fehlt hier jedoch jeder Anhalt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669402

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